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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 23.06.2019

Fingerabdruck des Mose
Predigt zu Johannes 5:39-47, verfasst von Manfred Mielke

Liebe Gemeinde,

vor ein paar Monaten musste ich einen Beweis erbringen, dass ich wirklich derjenige bin, der ich bin. Es ging um den Zugang zum Computer unserer Landeskirche. Ein neues Gesetz erzwang eine sogenannte Authentifizierung mit aktuellem Foto, leibhaftig vollzogener Unterschrift und weiteren Details. Zu guter Letzt bekam ich einen personalisierten Datenstick und eine 4stellige Zahl als Zugangsberechtigung. Damit kann ich beweisen, dass ich authentisch derjenige bin, als der ich mich ausgebe. Weiterhin benutzen wir ja diverse Dinge, um etwas nachzuweisen, wie zB. den Personalausweis, einen Tresorschlüssel oder unseren Fingerabdruck. Doch als Person sind wir noch mehr.

 

„Wer bist Du wirklich?“ – diese Frage an Jesus ist der rote Faden im Evangelium des Johannes. „Bist Du die Wahrheit? Handelst Du als Ich-AG, oder bist Du Stratege eines fremden Herrn?“ – so provozieren die Gegner Jesus mehrmals. Aktueller Auslöser ist die Heilung eines Gelähmten, der 38 Jahre lang am Beckenrand des Kur- und Heilbades Bethesda hockt. Jesus vollzieht sie allerdings an einem Sabbat, wozu Johannes die Reaktion der Glaubenshüter so beschreibt: „Darum planten die jüdischen Oberen noch konsequenter, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich.“ (V18)

 

Warum konnten sie die Entdeckung nicht zulassen, dass Jesus auch für sie Weg, Wahrheit und Leben ist? Woher kam ihre Blockade inklusive der Tötungsabsicht, zu der sie von Jesus eine verräterische Selbstauskunft verlangten? Doch Jesus weicht ihnen nicht aus. Seine Erwiderung berichtet Johannes in seinem 5. Kapitel so: Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben? (Johannes 5,39–47)

 

Liebe Gemeinde,

ich empfinde, dass Jesus sich seinen Gegnern authentisch und irrtumsfrei zu erkennen gibt. Wie mit einem Personalausweis verweist er auf seine Herkunft aus Gott, wie mit einem Schlüssel öffnet er seinen Sendungsauftrag. Er leiht sich einen Fingerabdruck des Mose, um seine Glaubwürdigkeit zu verdeutlichen und er gibt ihnen Passwörter für ihre Suche nach dem alleinigen Gott.

In der Trinitatiszeit interessieren uns Bilder, die die Drei – Gottvater, Sohn und Heiligen Geist – verquicken. Aber in den ersten Jahren lautete damals die Frage an der Schnittstelle zwischen Synagoge und Kirche: Wieviel Gott steckt in Jesus von Nazareth? Wieviel Jahwe steckt im Messias? Die Antwort brauchte jahrhundertelangen Streit, bis mehrheitsfähig wurde, dass in Jesus Christus Mensch und Gott „ungetrennt und ungeschieden“ sind. (1) Der Streit hatte 2 Pack-Enden. Das eine kennen wir bereits: Gott ist 100% in Christus, und „niemand kommt zum Vater denn durch ihn“. Das andere Pack-Ende lautet: Wer so am Kreuz geschändet wird, kann nicht Gottes Bote sein, oder aber Gott hat seine Identität drangegeben. Vor diesem Umbau müssen wir Gott schützen, davon waren Jesu Gegner überzeugt. (2) Diese beiden Pack-Enden sind für uns heute kaum be-greif-bar. Einerseits ist uns die Identität Jesu als Sohn Gottes sonnenklar, andererseits sind wir so erzogen worden, dass „die Juden“ in Sachen Messias hinterm Mond geblieben sind. Doch an dieser Sicht ist so ziemlich alles falsch. Vor allem berechtigt sie niemanden, den Frust Jesu auszuschlachten zu einem Antisemitismus.

 

Liebe Gemeinde,

können wir Jesu Ärger mal mit innerjüdischen Ohren hören? Das wäre ziemlich ungewohnt für uns, denn wir sind anders geprägt worden. Als ob der Mosesglauben eine niedere Vorstufe sei, die von der Kirche abgelöst und zu höchster Gottesblüte geführt wurde. Was aber weder uns noch ihnen gerecht wird. Wir müssen noch mehr den Frust zulassen, dass wir die Väter- und Müttergenerationen des Volkes Gottes geringgeschätzt haben und sie nicht verteidigt haben gegen die Pogrome und den Holocaust. Gestern jährte sich der Schlachtplan „Barbarossa“. Am 22.Juni 1941 entfesselten ihn die Nazi-Kriegsherrn mit dem Ziel der Ausrottung des „jüdischen Bolschewismus“. Dreieinhalb Jahre später waren Millionen Juden ermordet und noch viel mehr Russen. Mit verlogenen Fakten, manipulierter Religion und aggressivem Größenwahn war es ein Missbrauch Gottes, verübt von unserer Seite. Dabei war die kirchliche Passivität vom Virus befallen, dass „die Juden“ selbst schuld waren, da sie Jesus als Messias Gottes abgelehnt hatten. Es bedurfte einer umfassenden und ehrlichen Buße, um zaghaft nach dem 2. Weltkrieg wieder in einen Dialog zwischen Juden und Christen zu kommen.

 

Liebe Gemeinde,

einen Lernschritt dazu können wir heute nachvollziehen. Er fängt mit der Erkenntnis an, dass es damals um eine Klärung zwischen Mosesgläubigen ging. Die Zuhörer sind jüdischen Glaubens, die Provokateure auch, und Jesus war zu Lebzeiten Jude durch und durch (3). Da macht es Sinn, dass er aus lauter Frust (4) so weit geht, zu sagen: Mose hat von mir geschrieben. „Der ist doch für euch authentisch, also gilt seine Befürwortung für mich!“ Johannes nimmt uns mit dem Rückgriff auf Mose mit zurück zu den Anfängen, das erweitert unser Denken. Und die jüdischen Gesprächspartner spüren dabei unseren Abschied vom Drohpotential, das erweitert ihr Selbstverständnis.

Dabei kommen neue Ideen ins Spiel. Christen verzichten auf ihren alleinigen Besitzanspruch auf Christus, Juden auf dessen kategorischen Ausschluss. (5) Dann könnte die Figur des Messias/Christus sozusagen in der Mitte stehen. Damit wäre er zunächst für beide gleichweit weg – und auch gleichweit nahe. Seit ich den Fachbegriff gehört habe „Christus ist die externe Mitte“, hilft er mir sehr. (6) Oder, noch besser, er ist die „interne Mitte“ der Bibel und folgerichtig des christlichen und jüdischen Gottesglaubens.

Noch andere Ideen kommen mit ins Spiel. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem muss renoviert und erweitert werden. Bei meinem Besuch dort als Student haben mich die Baumreihen beeindruckt, die die „Straße der Gerechten“ bilden. Vor allem der Baum für Oskar Schindler (der mit der Liste). Und ich war verwirrt, in einer Halle inmitten von verwirrenden Spiegelkacheln die Namen vieler Ermordeter aufgelistet zu hören. Beide Eindrücke weckten Jahre später in mir die Sehnsucht nach einem anderen Denken. Ein Denken jenseits der beiderseitigen Abschottungen und ohne die klammheimliche Hoffnung, Jesus hätte die Juden seiner Zeit einer Konversionstherapie unterziehen müssen. Und wenn ihm das nicht gelungen ist, dann müssen wir da weitermachen. (7) Dazu ein klares „Nein – nicht mit uns!“ Im neuen Denken gehen wir in eine andere Richtung. Der Jesus-Messias, der die interne Mitte ist, erweist sich ja als Hoffnung der Welt. Er weist sich gegenüber Christen und Juden in seiner Herkunft und Identität als Prophet Gottes aus. Er erschließt beiden wie mit einem Schlüssel den Zugang über die Heiligen Schriften zu einer mutigen Glaubenspraxis. Er leiht sich einen Fingerabdruck des Mose, um authentisch die 10 Gebote mit seinen Seligpreisungen zu verknüpfen und er anvertraut Christen und Juden die Passwörter für das Auffinden des alleinigen Gottes. Sein Streit wird uns zur Hilfe.

 

Liebe Gemeinde,

so nähern wir uns dem Ziel, dass wir – Juden und Christen – nach außen hin im Schulterschluss den alleinigen Gott bezeugen, der schon Retter war, als er die Welt erschuf und allen Menschen durch Jesus die Erlösung noch näher brachte. Der alle Zeit in seinen Händen hält, bis er allen Zerbruch heilt. Im Sinne des Schaloms der Propheten wird er unser Chaos überwinden. Das Staunen steht uns noch bevor.

Auch die Gedenkstätte Yad Vashem muß modernisiert und erweitert werden. 5 deutsche Großkonzerne spendeten dafür jeweils eine Million Euro. 4 davon sind die Deutsche Bank, die Deutsche Bahn, Daimler und Volkswagen. Doch wer ist der Fünfte im Bunde? Es ist der Fußballverein Borussia Dortmund! Dessen Präsident Hans-Joachim Watzke sagte: »Es ist wichtig, sich nicht nur als Verein zu identifizieren, der Tore schießen und keine reinkriegen will«… 155.000 Mitglieder und zehn Millionen Fans seien auch Verpflichtung, gegen antisemitische und rassistische Tendenzen zu arbeiten.(8+9)

Diesen Leitsatz können wir gut für unsern jüdisch-christlichen Dialog konvertieren: Unsere Vereins-Identität ist nicht Sieg oder Niederlage, sondern Zeugengemeinschaft, die auf Zuwachs aus ist. Dabei schöpfen wir aus einer gemeinsamen Gottesfülle, aus dem dreieinigen Gott sowie aus dem Gott der Erzväter, des Mose und der Propheten. Diese Gottesfülle setzen wir in Bezug zu den Langzeit-Lähmungen unserer Epoche. Wir helfen uns gegenseitig bei der Authentifizierung und handeln aufgrund des gemeinsamen Vorrats an Verheißungen. Das machen wir gemeinsam, wobei jeder von uns erstaunt feststellt, wieviel Gottesfülle in seinem Lebenssinn schon drin ist und wieviel Luft nach oben noch offen ist.

 

Liebe Gemeinde,

ist der Frust Jesu von damals eigentlich noch wach? Eventuell auch gegen uns und unsere Blockaden? Ich wage dazu mal 2 Fragen. Wir bekennen, dass wir unser Öko-System unserem Schöpfergott verdanken. Können wir bei der Bewahrung der Schöpfung unsere Geborgenheit besser zum Ausdruck bringen? Und die zweite Frage betrifft den Heiligen Geist. Können wir von ihm gemeinsam mehr lernen zur Wut & Mut-Balance bei unseren Engagements? Zu diesen 2 Ideen wurde ich angeregt durch Zeilen eines neuen Liedes, sie lauten: „Die Welt gehört der Schöpferhand und jeder, der zum Schöpfer fand, wird seine Taten nennen. Dass Mut entsteht, wo Ängste sind und Bruderschaft; denn Hass macht blind. Wir aber wollen sehen. Wir folgend dem, der auferstand in Treue und in Widerstand, lasst uns zum Leben stehen.“ (10) Amen

 

 

(1) „unvermischt, ungewandelt, ungetrennt und ungeschieden“ formulierte das Konzilzu Chalcedon im Jahr 451; (2) „weil wir heute aus den Originalquellen…die Ernsthaftigkeit ihres Ringens um Gott erkennen“; W.Klaiber im JohKommentar BdNT S. 159; (3) vgl „Der Jude Jesus und die Frage der Christologie“ S.34ff sowie „Vom Judesein Jesu und dessen Provokation für die christliche Theologie“ S.93ff – in W.Homolka und M.Striet: „Christologie auf dem Prüfstand“ Herder 2019; (4) „Wir werden zu Zeugen einer Auseinandersetzung, die Johannes als Evangelist lustvoll und dramatisch aufpeppt. Er legt uns, Entschuldigung, ein Ei ins Kuckucksnest.“ Manfred Wussow Predigt am 26.6.2011; in: predigten.evangelisch.de; (5) K.Erlemann differenziert, dass Jesus der „Messias der Anderen“ war: als Herrscher der Welt, als Retter der Verlorenen und als Grundstein der Gemeinde in: Jesus der Christus S. 119 ff; (6) H.J.Hermisson sah 1997 Jesus Christus als „die externe Mitte des Alten Testaments“; vgl die umfangreiche Folge-Literatur; (7) siehe die Publikationen der „Christen an der Seite Israels“; (8) Jüdische Allgemeine Zeitung vom 2.4.2019; (9) Ich bin 1958 wenige Hundert Meter vom Borsigplatz entfernt eingeschult worden, der Geburts-Location des BVB; (10) „Zu Pfingsten singt die Christenheit“ in: P.Spangenberg „Das etwas andere Gesangbuch“ S.75 zur Melodie EG 127

 

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Liedvorschläge (über die gängigen EG-Lieder hinaus)

Aus dem tvd-Liederbuch

262 Nähme ich Flügel der Morgenröte

229 Hoffen wider alle Hoffnung

304 Wenn das rote Meer

299 Mirjam-Lied

266 Ose shalom bimrumav

 

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Fürbitte (aus: Predigthilfen der ASF für den Israelsonntag 2019 S. 34)

Gnädiger Gott, wie groß ist deine Treue, dass du uns aushältst; dass du uns nicht aufgibst, dass du zu dem Vorhaben stehst, mit uns gemeinsam die Wunden dieser Welt zu heilen. Wir danken dir, dass so viele Menschen dir vertrauen und nach deinem Willen fragen und nach deinem Willen handeln in Israel und unter den Völkern. Sie arbeiten beharrlich für Versöhnung, sie decken Unrecht auf und fordern

Gerechtigkeit, sie stellen sich an die Seite der Schwachen und verleihen ihnen öffentlich Stimme.

Wir bitten dich: Erhalte diesen Menschen ihren Elan trotz aller Enttäuschungen! Stärk ihr Vertrauen zu deinem Versprechen, dass Himmel und Erde neu werden können. Lass sie tapfer und standhaft bleiben, wenn sie lächerlich gemacht werden und verspottet und verlästert.

Du Gott des Friedens, uns macht zunehmend Angst, wie viele Menschen an vielen Orten unserer Erde hasserfüllter Propaganda verfallen, bei uns, in Israel, in Europa – über den Globus hin, und wie souverän die Menschenverachtung das Wort führt und die Taten bestimmt. Kritisches Denken ist unerwünscht, böse simple Parolen verjagen die Fragen. Treib mit deinem Heiligen Geist den Geist der Feindschaft aus! Stärke den Widerstand, bringe die Hetzer zur Besinnung und kühle ihre fürchterliche Schneidigkeit herunter!

Du Gott des Lebens, schütze das Glück der Liebenden, halte deine Hand über alle Fliehenden und Geflohenen! Breite deinen Frieden aus über Israel und seine Nachbarn! Und endlich: Alles, was den Leib erfreut und das Herz bezaubert und die Seele birgt, alles, was die Liebe stärkt und das Recht stützt komme über und durch uns in die Welt. Amen

(Helmut Ruppel)

 

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Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Instrumentalist und Arrangeur.



Pfarrer i.R. Manfred Mielke
Alpen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: Manfred.Mielke@ekir.de

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