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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 23.06.2019

Streitpunkte
Predigt zu Johannes 5:39-47, verfasst von Benedict Schubert

39 Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben – und sie sind es auch, die Zeugnis über mich ablegen –, 40 und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um Leben zu haben.

41 Ehre empfange ich nicht von Menschen, 42 aber ich habe euch erkannt und weiss, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt. 43 Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; kommt aber ein anderer in eigenem Namen, so nehmt ihr in auf!
44 Wie könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr Ehre voneinander empfangt und nicht die Ehre sucht, die vom alleinigen Gott kommt?
45 Meint nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; euer Ankläger ist Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. 46 Wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr mir glauben, denn er hat über mich geschrieben. 47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen Worten glauben?

                                                                                                                           (Neue Zürcher Bibel)

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

zu Zuhörern und Zuschauerinnen eines heftigen Streits macht Johannes in diesem Abschnitt alle, die sein Evangelium lesen. Allerdings erwartet er von ihnen nicht, dass sie die Rolle von Schiedsrichtern übernehmen würden, die beide Seiten anhören, sich ihre eigene Meinung bilden und womöglich vermittelnd eingreifen. Johannes gibt ausschliesslich das wieder, was Jesus sagt – und die Leserinnen und Hörer sollen das entschieden, kompromisslos übernehmen.

Diese Erwartung kommt auch uns knapp 2000 Jahre später noch aus dem Text entgegen. Müssen wir ihr entsprechen? Sollen auch wir entschlossen in den Streit eintreten, uns auf die Seite von Jesus schlagen gegen die, die er in unserem Abschnitt so heftig attackiert?

Jesus äussert sich vehement, das steht ausser Frage. Er formuliert schroffe Alternativen, schliesslich den schwerwiegenden Vorwurf an seine Gegner: Ihr habt keine Liebe zu Gott in euch. Wer das liest und hört, soll erschrecken und zum Schluss kommen: Das will ich mir ganz sicher nicht vorwerfen lassen!

Auch ich nicht! Doch wenn wir diesen Text als einen Abschnitt lesen möchten, der uns im Vertrauen stärkt, dass die Liebe Gottes in uns ist, dann ist ein Umweg nötig. Wenn wir nicht in der Sackgasse der Lieblosigkeit oder gar des Antisemitismus landen wollen, müssen wir als erstes ernst nehmen, worin unsere Situation als christliche Gemeinde sich unterscheidet von derjenigen, in der die Gemeinde des Johannes sich damals befand.

Johannes schreibt für eine Gemeinde in einem innerjüdischen Konflikt, und dies in der Zeit nach der grossen Katastrophe, die im Jahr 70 unserer Zeitrechnung über das Volk Israel hereingebrochen war. In jenem Jahr hatte der vierjährige jüdisch-römische Krieg mit dem Sieg des Imperiums geendet. Der römische Feldherr Titus hatte den Tempel zerstören lassen. Damit war das Gottesvolk dazu gezwungen, seinem Glauben neue Gestalt zu geben. Der Tempel konnte nicht mehr Mittelpunkt sein, das Leben sich nicht mehr nach den Pilgerfahrten nach Jerusalem ordnen. Deshalb entwickelten die Pharisäer ein Judentum, dessen Mittelpunkt die Tora war, die Weisung Gottes. Diese sollte so ausgelegt werden, dass allen Gesetzen, auch denen, die sich ausdrücklich auf den Tempelgottesdienst bezogen, Bedeutung für ein Glaubensleben ohne Tempel abgewonnen wurde.

Für die jüdischen Menschen, die in der Botschaft Jesu genau diese Möglichkeit erkannt hatten, muss bitter gewesen sein, dass Jesus und sein Evangelium zwar ausserhalb Israels begeistertes Echo fand, dass aber die Mehrheit ihrer unmittelbaren Nachbarn in Israel einem anderen, eben dem von den Pharisäern klug und bis in die Details ausgearbeiteten Weg folgten.

Johannes schreibt also in der Zeit, in der die folgenschwere Trennung zwischen Kirche und Synagoge sich vollzieht. Im Verlauf der Jahrhunderte sollte diese Trennung vor allem für die jüdischen Menschen katastrophale Folgen haben. Denn sie wurden sehr bald Minderheit inmitten einer christlichen Mehrheit, die sie nicht selten Texte wie unseren dazu benutzte, ihren Antisemitismus hemmungslos auszuleben.

Johannes schrieb sein Evangelium indessen in einem mehrheitlich jüdischen Umfeld für seine ebenfalls jüdische Gemeinde. Diese setzte sich zusammen aus «jüdischen Menschen, die den gekreuzigten Jesus für den Messias hielten». Sie mussten ihren Platz behaupten gegenüber der «Mehrheit ihrer Landsleute, die diesen Glauben entschieden ablehnten – und dafür Gründe hatten.»[1]

Diese Ablehnung hatte handfeste Folgen für die Gemeinde des Johannes. Die Jesus nachfolgten, wurden gesellschaftlich ausgegrenzt, wirtschaftlich benachteiligt. Kein Wunder waren nicht wenige Glieder der Gemeinde versucht, sich der Mehrheit anzuschliessen. Schon im nächsten Kapitel lässt Johannes seinen Jesus die Zwölf fragen: Wollt auch ihr weggehen(6, 67)? Für den Evangelisten ist das, ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen, die entscheidende Frage an seine Gemeinde: Wollt auch ihr weggehen?

Johannes möchte unbedingt, dass seine Gemeinde diese Frage hört und richtig beantwortet. Er schreibt sein ganzes Evangelium mit dem Ziel, diejenigen, die in Jesus den Gesalbten Gottes erkannt haben, bei der Stange zu halten. Damit ihm das gelingt, hält er es für sinnvoll und notwendig, den Glauben an Jesus und sein Wort möglichst scharf von allem anderen abzugrenzen. Er macht deshalb Unterscheidungen, die, historisch und theologisch gesehen, gar nicht so klar sind, wie er sie behauptet.

Das ist – um das hier deutlich gesagt zu haben – der Kirche viel zu spät klar geworden. Bis in jüngere Zeit hinein haben Auslegende gemeint, an Texten wie unserem heutigen Predigttext müssten wir direkt ablesen können, wie wir als Christen den Juden begegnen und mit ihnen umgehen sollen. Nicht nachgedacht haben sie darüber, was es für die Auslegung der Texte bedeuten muss, dass die Jesusgemeinde nicht wie die Adressaten des Johannes eine Minderheit innerhalb des jüdischen Volks ist. Christinnen und Christen sind heute eine oft mächtige, satte Mehrheit gegenüber einer in alle Winde verstreuten Minderheit der jüdischen Diaspora.

Heute erkennen wir zum Glück, dass die Alternativen, die Johannes seinen Jesus für die damalige Situation formulieren lässt, nicht gelten können für unser heutiges Verhältnis zu unseren jüdischen Nachbarinnen und Freunden. Heute haben wir begriffen, wie viel wir dem Volk Israel als unseren älteren Geschwistern zu verdanken haben, wie viel wir von ihnen lernen können. Da und dort stehen wir erfreulicherweise in einem äusserst anregenden und fruchtbaren Dialog darüber, wie die Schrift auszulegen sei, was wir vom Messias zu erwarten hätten, wie wir Gott und Seine Weisung verstehen sollten.

Ich habe Euch einen langen Umweg zugemutet, damit dies begründet und klar ist: Unser Abschnitt sagt nichts über unser heutiges Verhältnis zur jüdischen Gemeinde. Er hat uns aber sehr wohl etwas zu sagen – allerdings spricht er zu uns im Blick auf innerchristliche, innerkirchliche Auseinandersetzungen, so wie er damals in innerjüdischen Auseinandersetzungen Stellung bezog. Darauf hin wollen wir ihn nun genauer betrachten:

Die Anklage, die Jesus gegen seine Widersacher erhebt, umfasst drei grundlegende Streitpunkte, die sich an den drei Begriffen «Auslegung», «Ehre» und «Tradition» festmachen lassen.

Der erste Streitpunkt betrifft die Frage nach der Auslegung der Heiligen Schriften. Wie sollen wir diese Schriften so lesen und verstehen, dass wir in ihnen Leben finden, durch sie Leben haben? Johannes hat notabene nur erst das im Blick, was wir als Altes Testament bezeichnen – und in der Bezeichnung tendenziell die Vermutung mitschwingen lassen, dass das Alte auch veraltet, überholt, jedenfalls weniger wert sei. Für Jesus sind die «Heiligen Schriften» das, was wir als ursprünglich hebräische Teile der Bibel überliefert bekommen haben. Wie lesen wir die Bibel richtig? Wie lesen wir sie so, dass sie nicht als Buchstaben tötet, sondern dass Gottes Geist uns lebendig macht (2 Kor 3,6)? Jesus behauptet steil: Leben habt Ihr nur, wenn Ihr anerkennt, dass die Schriften, auch gerade die alten Schriften, über mich etwas sagen – und nur, wenn ihr dieses Zeugnis überhaupt als Schlüssel nehmt, die Schriften zu verstehen.

Ich kann hier nur anmerken, dass jüdische Auslegerinnen und Ausleger damit schon damals nicht einverstanden waren, und es heute erst recht nicht sind, und dass wir von ihnen auch kein Einverständnis erwarten dürfen. Ich habe es schon betont: Wir können im Gegenteil von ihnen enorm viel darüber lernen, wie sie das Leben durch ihren Zugang zu den Schriften finden.

Mit Luthers Formulierung meine ich jedoch, dass für unsere innerchristlichen Debatten unbedingt gilt: Die Schrift lässt uns leben, insofern sie «Christum treibet».[2]Alles, was wir aus der Schrift folgern, muss sich an Jesus Christus messen lassen. Was zählt, sind nicht die Buchstaben einzelner Verse. Es kommt darauf an, ob ich in meinem Verhalten, in meiner Haltung dieBewegung des Geistes aufnehme, der Jesus sich ganz überlassen hat. Leben finden wir, wenn wir die Schriften darauf hin lesen, wie sie uns die Nähe Gottes und Seiner Gerechtigkeit vermitteln, die den Kern der Botschaft Jesu ausmachte. Das Leben fördern wir, wenn wir uns von der Schrift in ihrer Gesamtheit einweisen und unterweisen lassen darin, wie wir – dort, wo jede und jeder von Euch sich gegenwärtig befindet – Jesus erkennen, auf ihn hören, ihm nachfolgen.

Im zweiten Streitpunkt geht um den Begriff der «Ehre». Radikal lehnt Jesus ab, dass Menschen bei einander Ehre suchen. Ehre, das betont Jesus im Gegenteil, können wir nur von Gott zugesprochen erhalten, nur von Gott empfangen. Das bleibt aktuell. «Ehre» ist ein heikler Begriff; er bezeichnet zunächst die äusserliche Reputation, das Ansehen, das ein Mensch hat. Und genau darüber streitet Jesus. Wer Ehre sucht, wird versucht sein, Gottes Wege zu umgehen, Gottes Willen zu missachten. «Ehre» kann zum tödlichen Gift werden, wenn in einer hierarchischen, patriarchalen Gesellschaft diejenigen oben meinen, ihre Ehre werde angetastet – aber ebenso, wenn die unten meinen, sie müssten Kompromisse machen im Blick auf die Liebe, auf die Gerechtigkeit, auf den Frieden, bloss um im Ansehen derer oben aufzusteigen. Die Ehre, um die es Jesus geht, die griechische «doxa», die hebräische «kabod» ist zunächst Eigenschaft Gottes. Wenn Gott sie Menschen zuspricht, dann gewinnen diese an Tiefgang, an «spezifischem Gewicht», dann lassen sie sich nicht mehr von irgendeinem Wind irgendwohin treiben (Eph 4,14). Nur noch Gottes Wind wird sie dorthin bewegen, wo Gott selbst sie erwartet (Röm 8,14).

Im dritten Streitpunkt schliesslich geht es darum, wer die Tradition auf seiner Seite hat. Wer darf sich berechtigterweise auf Mose berufen? Wer führt das weiter, was Gott mit der Befreiung aus Ägypten, dem Geschenk der Weisung in der Tora und der Leihgabe des Landes angefangen hat? Jesus wird von den Wächtern der Tradition vorgeworfen, er habe das Gesetz Gottes missachtet, habe die Weisung des Ewigen verraten, sich gegen Mose gestellt. Jesus selbst dagegen betont: Die Mehrheit hat nicht immer recht. Nicht immer ist der Mainstream der Tradition wirklich treu. Es könnte sein, dass just die vom Evangelium angeklagt werden, die sich gerne pathetisch auf diese oder jene christlichen Werte berufen, mit der christlich-jüdischen Tradition argumentieren, den Schutz des christlichen Abendlands fordern.

Über die Streitpunkte, die Jesus in seinem Disput anführte, ist immer wieder mit gutem Grund gestritten worden – denkt an die Auseinandersetzungen zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen zur Nazizeit, oder an die Debatten über einen angeblich biblisch begründeten Rassismus in den Kirchen der USA in den 1960er Jahren oder zur Zeit der Apartheid in Südafrika.

Es darf und soll auch heute noch gestritten werden. «Gleichberechtigung. Punkt. Amen.» Wie gilt das bei uns? Darf ein Christ zur Waffe greifen? Wie leben wir mit Menschen anderen Glaubens, namentlich mit Muslimen zusammen? Ich muss nicht lange suchen, und es kommen mir Fragen in den Sinn, über deren Antwort gestritten wird und gestritten werden muss. Wie kann und soll die Schrift in Bezug auf sie lebensfördernd ausgelegt werden, so, dass sie Christum treibet? Welche Antworten suchen nicht doch Ehre bei Menschen? Und welche Antwort ist der befreienden Tradition treu, die mit Mose anfing und sich in Jesus Christus vollendet?

Es ist nicht alles gleichgültig. Es ist nicht alles gleich gültig. Auf keinen Fall will ich mir vorwerfen lassen, ich hätte die Liebe Gottes nicht in mir.

 

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[1]Klaus Wengst. Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000, 21. Ich folge in meiner Beschreibung der Entstehungssituation gerne der Grundthese Wengsts.

[2]Mir ist sehr klar bewusst, dass das «Christuszeugnis des Alten Testaments», das beispielsweise Wilhelm Vischer noch für eindeutig identifizierbar hielt, keine Exegese, sondern Eisegese ist, und dass auch etliche der im Neuen Testament angeführten «Schriftbeweise» aus heutiger Sicht mindestens abenteuerlich anmuten. Not tut eine verantwortbare, dem Judentum, aber auch anderen Religionen gegenüber respektvolle Hermeneutik, die nicht vergisst, sondern offenlegt, dass wir Jesus Christus aus unserer Auslegung der Schrift nicht wegdenken können noch wollen.

 

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Zum Kontext:

Die Predigt wird gehalten in einem Gottesdienst mit Abendmahl. Die Kantorei St. Peter singt darin als Antwort auf die Predigt von Hans Friedrich Micheelsen (1902-1973): «Ich bin das Brot des Lebens»: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.

In die Abendmahlsliturgie intergieren wir aus dem«Deo Gratias nach dem Essen» von Heinrich Schütz(SWV 430) Teil I (Danket dem Herren; denn er ist sehr freundlich und seine Güte währet ewiglich, der allem Fleische Speise gibt, der dem Vieh sein Futter gibt, den jungen Raben, die ihn anrufen. Der Herr hat kein Lust an der Stärke des Rosses noch Gefallen an jemands Beinen. Der Herr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten und die auf seine Güte warten.) und Teil III (Wir danken dir, Herr Gott himmlischer Vater, durch Jesum Christum, deinen lieben Sohn, unsern Herren, für alle deine Gaben und Wohltat, der du lebest und regierest von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.)

Die Gemeinde singt zum Beginn «Jesus, Herr und Haupt der Deinen» (RG 163 / EG ), vor der Epistellesung (1. Johannes 4, 16b-21) das Lied zu Psalm 105 «Nun danket Gott, erhebt und preiset» (RG 66 / EG ), vor der Predigt den Kanon «Sende dein Licht und deine Wahrheit» und als Schlusslied «Mein schönste Zier und Kleinod bist» (RG 672 / EG ), jeweils ausgewählte Strophen.

 

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Pfr. Dr. Benedict Schubert, geb. 1957, reformierter Pfarrer an der Peterskirche in Basel nach mehreren Jahren im Dienst der evangelisch-reformierten Kirche in Angola und bei mission 21 – evangelisches missionswerk basel, sowie Lehrauftrag im Fach aussereuropäisches Christentum an der dortigen Universität; mit seiner Frau zusammen leitet er das «Theologische Alumneum Basel».



Pfr. Dr. Benedict Schubert
Basel, Schweiz
E-Mail: benedict.schubert@erk-bs.ch

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