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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 14.07.2019

Jesus nachfolgen
Predigt zu Lukas 6:27-28.35-42, verfasst von Johannes Lähnemann

Liebe Gemeinde!

Was heißt Nachfolge Jesu? Was heißt es, Jesu Weg für das eigene Leben ernst zu nehmen? Um diese Frage soll es uns heute gehen. Sie stellt sich am radikalsten, am drängendsten, wenn wir Jesu eigene Worte hören.

An zwei Stellen im Neuen Testament sind diese Worte konzentriert zusammengestellt: in der Bergpredigt bei Matthäus und ganz ähnlich in der Rede auf einem Feld, der sogenannten Feldrede, die wir im Lukasevangelium finden. Jesus spricht darin die Menschen an, die aus dem ganzen Land zu ihm gekommen sind, darunter viele, die er von Krankheiten geheilt hat und von bösen Geistern, von denen sie umgetrieben waren. Alle spüren, wie eine besondere Kraft von ihm ausgeht, eine heilende Kraft für alle. Sie wollen seine Worte hören, und man merkt dabei, wie Jesus diese Menschen direkt anredet, Auge in Auge mit ihnen. Gewaltige Worte sind es. Man hat diesen Text auch die „Magna Charta des Christentums“ - das „Grundgesetz des Christentums“ genannt. Ein wichtiger Teil dieser Worte bildet unseren heutigen Predigttext. Jesus ruft:

27 Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen,

28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. ...

35 .. liebt eure Feinde und tut Gutes ...So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Erlasst die Schuld, so wird euch die Schuld erlassen.

38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.

39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?

40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.

41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?

42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

 

Was für ein kompakter, inhaltlich gefüllter Text! Beginnen wir mit dem provozierenden Anfang:

Liebt eure Feinde. Tut ihnen Gutes! Segnet sie! Richtet nicht! Wie soll das gehen?

Vor 3 1/2 Wochen saßen wir in der riesigen Westfalenhalle in Dortmund, meine Frau und ich. Der erste volle Tag des deutschen evangelischen Kirchentages ging zu Ende. Voller Eindrücke von einem Friedensforum mit Juden, Christen und Muslimen und von den Gesprächen, die wir an unserem Marktstand der Bewegung Religionen für den Friedengeführt hatten, saßen wir da. Vor uns hatten wir die Bühne, und auf den Rängen dahinter waren 2000 Chorsänger, die das Chormusical Martin Luther King eingeübt hatten.

Der Weg Martin Luther Kings, seiner Bürgerrechtsbewegung, wurde dramatisch in Szene gesetzt: mit den Konflikten um gleiches Recht für die schwarze Bevölkerung, mit Streit, mit dem Gegenüber von menschenverachtendem Rassismus und unbeugsamem Protest. Der Protest hatte angefangen, als in Montgomery die schwarze Amerikanerin Rosa Parks nicht von einem Platz im Bus aufstehen wollte, der für Weiße reserviert war, und sie darauf verhaftet wurde. Es begann der einjährige Busstreik mit harten Auseinandersetzungen, und Martin Luther King musste immer wieder zur Mäßigung aufrufen. Er sagte: „Wir wollen überzeugen und nicht Zwang ausüben. Wir wollen den Leuten sagen: Lasst euch von eurem Gewissen leiten! Unser Handeln muss von den höchsten Grundsätzen unseres christlichen Glaubens diktiert sein. Die Liebe muss unser Tun bestimmen. Über die Jahrhunderte hinweg sollen die Worte Jesu heute in unserem Herzen ein Echo finden: ‚Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen...‘ Tun wir das nicht, so wird unser Protest wie ein sinnloses Drama auf der Bühne der Weltgeschichte enden, und die Erinnerung daran wird in das hässliche Gewand der Schande gehüllt sein. Trotz der Misshandlungen, denen wir ausgesetzt sind, dürfen wir nicht bitter werden und müssen aufhören unsere weißen Brüder zu hassen. Wie Booker T. Washington es ausdrückte: ‚Lasst euch von niemandem so tief hinabziehen, dass ihr ihn hasst‘.“ (M.L. King: Freiheit. Kassel 1964, S. 47).

Was Martin Luther King hier zeigt, hat es vorher in der Geschichte des Christentums kaum einmal gegeben. Er nimmt die Worte Jesu wörtlich ernst; er nimmt sie als direkte Anleitung zum Handeln.

Man hat das Gebot der Feindesliebe immer wieder als unrealistisch angesehen, als weltfremd. Denn wird das Böse nicht noch bestärkt, wenn wir dem wohltun, der uns hasst? Oder man hat gesagt: Die Worte Jesu gelten. Aber sie zeigen uns, dass wir Sünder sind, weil wir sie nicht erfüllen können, und dass wir deshalb Gottes Vergebung und Gnade brauchen.

Der Erste, der die Worte Jesu tief ernst nahm und in praktische Aktivität umsetzte, war kein Christ, sondern ein Hindu: Mahathma Gandhi. Er hat Jesus verehrt und sich durch seine Worte inspirieren lassen für den gewaltlosen Widerstand gegen die britische Kolonialmacht. Zeit seines Lebens ist Gandhi Hindu geblieben; aber das Evangelium war für ihn auch eine heilige Schrift. Von ihm hat Martin Luther King die Methoden des gewaltlosen Protests gelernt: Wie demonstrieren wir gegen das Unrecht, so dass es nicht übersehen werden kann? Wie schützen wir uns, wenn wir von bewaffneten Ordnungskräften und von Hunden angegriffen werden? Wie sprechen wir mit unseren Gegnern? Wie überzeugen wir sie? Von Martin Luther King wiederum wurde die internationale Friedensbewegung motiviert und der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, der seine effektivste Wirkung bei der gewaltlosen „Wende“ in der DDR gezeigt hat.

Dabei sieht Jesus selbst das Gebot der Feindesliebe nicht als eine maximale, eine höchste Forderung, sondern es ist für ihn eine Folge der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, die alle erfahren, die Jesus selbst begegnen. Gerade die Menschen, die wissen, dass sie von sich aus Gott nichts bieten können, dass sie an Unrecht und Not beteiligt sind, erfahren bei Jesus, dass Gott sie bedingungslos liebt. Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, lässt regnen über Gerechte und Ungerechte - und ist barmherzig gegen die Undankbaren und Bösen.

Ja, wenn wir selbst wahrnehmen, dass unser Leben ein Geschenk ist, ein Geschenk, das wir uns nicht verdient haben, dann kann die Konsequenz doch nur sein, dass wir für die Liebe keine Grenzen ziehen können und dass sie sogar dem Feind und dem Gegner gelten soll. 

Und damit sind wir beim Mittelpunkt unseres Pedigttextes. Es ist das Wort: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“.

Die folgenden Verse unseres Predigttextes sind eine Auslegung dieses einen Satzes: Was heißt es, so zu leben, dass es der Barmherzigkeit Gottes entspricht?

Es sind knappe, schlagkräftige Aufrufe und Beispiele, die Jesus hinausruft. Fast wie Paukenschläge können sie wirken:

„..richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Erlasst die Schuld, so wird sie euch erlassen. Gebt, so wird euch gegeben. ...“

Zwei Mal wird gesagt, was man vermeiden soll - „Richtet nicht“, „Verdammt nicht“ und zwei Mal, was man tun soll - „Erlasst die Schuld“ und „Gebt“

„Richtet nicht“, „Verdammt nicht“: Unsere Welt und ebenso unser persönliches Leben ist immer wieder geprägt vom Richten und Urteilen über Andere: was etwa die Menschen in den anderen Völkern falsch machen, aber ebenso, was Menschen in unserer Umgebung falsch machen, wo wir die Besseren sind, wo wir wissen, wie es langgehen müsste. Jesus verbietet damit nicht die Kritik. Es heißt nicht: „Kritisiert nicht!“ Aber er meint: Richtet zuerst euren kritischen Blick auf euch selbst. Stimmen bei euch Wort und Tat zusammen? Handelt ihr so, dass andere nicht verletzt werden, auch so, dass unsere Lebensgrundlagen nicht weiter zerstört werden?

„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?“ so heißt es am Ende unseres Predigttextes.

Eine Geschichte von Mahatma Gandhi muss ich dazu erzählen:

Zu ihm kamen immer wieder Menschen, die ihn um Rat fragten, die Beratung für ihr eigenes Leben und ihr Verhalten suchten. Eines Tages besuchte ihn eine wohlhabende Inderin mit ihrer Tochter, die deutlich übergewichtig war. Sie klagte Gandhi, dass die Tochter immer so viele Süßigkeiten äße und davon nicht abzubringen wäre. „Was kannst du mir raten“, fragte sie Gandhi. Gandhi antwortete: „Darüber muss ich erst nachdenken. Komm bitte in 3 Wochen wieder“. Ziemlich enttäuscht zog die Frau mit ihrer Tochter ab. Umso gespannter war sie, als sie 3 Wochen später wieder zu dem großen Meister kam. „Nun, was kannst du meiner Tochter sagen?“ fragte sie. Gandhi wandte sich an die Tochter: „Du solltest nicht so viele Süßigkeiten essen. Das ist nicht gut für deine Gesundheit.“ Die Frau war aufgebracht: „Das hättest du ihr doch schon vor 3 Wochen sagen können!“ „Nein“, sagte Gandhi darauf, „denn vor 3 Wochen habe ich selbst noch Süßigkeiten gegessen“.

Mir selbst würde es schwer fallen, so konsequent zu leben und zu handeln wie Gandhi. Aber wäre es nicht oft gut, zunächst kritisch auf uns selbst zu schauen, bevor wir urteilen, bevor wir raten, bevor wir meinen, es besser zu wissen als die Anderen?!

Es folgen die beiden positiven Aufrufe Jesu: „Erlasst die Schuld, so wird euch die Schuld erlassen“. „Gebt, so wird euch gegeben.“

„Erlasst die Schuld“: Damit ist einerseits eine finanzielle Schuld gemeint, die auf den Armen lastet, die von Jesus in der Feldrede ja direkt angesprochen werden. Es ist aber auch die Schuld gemeint, die Andere uns gegenüber auf sich geladen haben, und die ungleich schwerer zu vergeben ist. Aber wo diesem Aufruf Jesu gefolgt wird, wo man den ersten Schritt auf den Anderen zu macht, kann man eine Erleichterung erfahren, kann beiden Seiten eine große Last abgenommen werden, kann es einen Neuanfang geben.

Mit einer besonderen Verheißung ist dann der nächste Aufruf verbunden: „Gebt, so wird euch gegeben“. „Freigiebigkeit“ ist eine schöne Eigenschaft, die das Leben reich machen kann - soweit man nicht selbst am Existenzminimum lebt. Sie steht dem Geiz entgegen und aller Hartherzigkeit, und man erfährt dann oft eine reiche Gegengabe, wie es in unserem Text heißt: „Ein volles, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben ...“  Gerade in frommen kirchlichen, pietistischen Kreisen hat man die Freigiebigkeit immer besonders gepflegt und dadurch viele große Liebeswerke erst möglich gemacht - wie etwa die Arbeit der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld. Unser früherer Bundespräsident Johannes Rau, der selbst einer pietistischen Familie entstammte, hat einmal bei einem Konzert des berühmten Windsbacher Knabenchores um Sponsoren mit den Worten geworben: „Wenn Sie das doppelte von dem geben, was Sie geben wollten, dann haben Sie die Hälfte von dem gegeben, was Gott von Ihnen erwartet!“

Unser Predigttext hat nun noch zwei Verse, die fast unverbunden zwischen den anderen Versen stehen und jeweils etwas ganz besonderes aussagen:

Da heißt es in Vers 39: „Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“

Was soll damit gemeint sein: Sicher ist das nicht ein Urteil über Menschen, die an körperlicher Blindheit leiden, sondern soll auf Blindheit in einem übertragenen Sinne bezogen werden. Es gibt eine Blindheit des Herzens und eine Blindheit im Denken, Urteilen und Verstehen. Wenn einer einen Anderen, der auch unter dieser Blindheit leidet, führen will, so kann das nur im Unglück enden. Damit ruft das Gleichnis dazu auf, die Augen aufzumachen, sie nicht zu verschließen gegenüber Not und Unrecht, Wege der Hilfe miteinander zu gehen, mit klarem Blick und klarem Verstand. Sich nicht verdummen zu lassen durch Fake News, sondern gemeinsam aufzustehen für Solidarität und Zivilcourage.

Und dann ist da noch der Vers 40: „Ein Jünger steht nicht über dem Meister, wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.“

Ist das nicht eine Zumutung? Ja, der erste Teil des Satzes leuchtet uns ein: Wir stehen nicht über Jesus als unserem Meister. Aber können wir dazu kommen, alles so gelernt zu haben, dass wir so sind wie unser Meister?

Ich möchte dazu am Schluss meiner Predigt Aussprüche zweier Theologen zitieren, die jeder auf ihre Weise Jesu Worte für ihr Leben und Handeln ernst genommen haben: Der Erste ist Christian Führer, Pfarrer an Nikolai in Leipzig, der maßgeblich die Leipziger Friedensgebete  und die Montagsdemonstrationen vor der Wende geprägt hat und nach der Wende weiter für Frieden und soziale Gerechtigkeit gestritten hat. In einem Interview mit der ZEIT sagte er über Jesus:

"Jesus wusste, dass der Mensch zu hohem und zu erbärmlichem Handeln fähig ist, und er hat trotzdem in zäher Unverdrossenheit zu ihm gehalten. Wir sind nicht Jesus. Aber wir bemühen uns, ihm nachzufolgen."

Der zweite ist Pastor Martin Niemöller, den Adolf Hitler als persönlichen Gefangenen in den KZs Sachsenhausen und Dachau gehalten hat und der nach dem 2. Weltkrieg zum entscheidenden Friedenskämpfer wurde. Er hat als Maßstab für sein Handeln und seine Entscheidungen immer die Frage stellt, die auch Christian Führer als Leitmotiv aufgenommen hat (ZEIT vom 3.7.2014): „Was würde Jesus dazu sagen?“

In den Worten unseres heutigen Textes finden wir die konkreten Anleitungen dazu.

 

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Die Predigt wird im deutschsprachigen Gottesdienst der Chiesa Evangelica in Luino/Lago Maggiore gehalten, in der sich eine internationale Gemeinschaft aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden zusammenfindet.

Liedempfehlungen: EG 334 (Danke für diesen guten Morgen), 432 (Gott gab uns Atem), nach der Predigt 428 (Komm in unsre stolze Welt; dazu beigefügt: eigene Melodie/eigener Satz s.u.)

Als Gebet: O Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens

 

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Johannes Lähnemann (geb. 1941) hatte von 1981-2007 den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Ev. Religionsunterrichts an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Er lebt im Ruhestand in Goslar. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Interreligiöser Dialog, Interreligiöses Lernen, Religionen und Friedenserziehung. Er ist Vorsitzender der Nürnberger Regionalgruppe der Religionen für den Frieden, Mitglied am Runden Tisch der Religionen in Deutschland und Chairman der Peace Education Standing Commission(PESC) der internationalen Bewegung Religions for Peace (RfP).  Seine Autobiografie ist erschienen unter dem Titel „Lernen in der Begegnung. Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität.“ Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017.

 

 

 



Prof. em. Dr. Johannes Lähnemann
Goslar, Niedersachsen, Deutschland
E-Mail: johannes@laehnemann.de

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