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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 21.07.2019

Fünf Minuten Glaubens-Coaching (gratis)
Predigt zu Matthäus 9:35-38;10,1.5-10, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den 5.Sonntag nach Trinitatis steht bei Mt 9,35-38;10,1.5-10:

„Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebt es auch. Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert.“

Liebe Schwestern und Brüder,

das Schuljahr geht gerade zu Ende, Lehrer und Schüler freuen sich auf Auszeiten und Eisbecher, zwei Wochen Strand und zehn Tage Wandern, auf den Wecker, der nicht klingelt, auf Sonnencreme und Absacker statt Klausuren und Vokabellernen, auf Muße und Genuss statt Stress und Zwang zur Disziplin. Alle freuen sich auf die Ferien – mit einer Ausnahme: Die Kinder, die gerade sechs geworden sind und in der Kita mit einer Übernachtung auf der Luftmatratze Abschied gefeiert haben: Sie finden große Ferien, Freizeitpark und Kinderanimation ausnahmsweise ganz, ganz blöd. Seit Wochen steht der sorgfältig ausgewählte neue Schulranzen neben dem Bett. Sofort nach dem Aufstehen tragen sie ihn einmal zur Probe, ob er nicht schon zu schwer geworden ist. Bis oben hin haben sie ihn gefüllt mit Bleistiften, Wasserfarbkästen, Filzern in allen Farben des Regenbogens, welche Patentanten und Großväter pflichtschuldig und bildungsbeflissen geschenkt haben. Sechsjährige Kinder sind die einzigen, die Schule und Lernen in froher Erwartung sehr viel abgewinnen können.

Alle anderen, die Abiturienten, die Examenskandidatinnen, die Lehrlinge, die ausgelernt haben, können sich nichts Schlimmeres vorstellen als zu dauernd lernen. Wer ausgelernt hat, der will nicht mehr belehrt werden, der will erwachsen auf eigenen Füßen stehen und sich von niemandem Ratschläge geben lassen. … Das bedenken wir hier schon einmal, wo gleich von Jesus als Lehrer die Rede sein wird…

Ärzte, Polizisten, vorwitzige Passanten, Schwiegermütter und Zugschaffner rücken in die Rolle der Buhmänner:

Niemand, der ausgelernt hat, wird gerne belehrt.

Aber auch das Folgende ist mit zu bedenken, wenn Jesus gleich als Lehrer von sich spricht:

Unbelehrbarkeit zeitigt leider auch schädliche Nebenwirkungen. Wo ein moralischer Oberlehrer sich zur größenwahnsinnigen Besserwisserei aufspielt, vor dem muss auch ein belehrter Erwachsener stehen. Ob solcher Belehrung schrumpft er wieder zum kleinen formbaren Schüler, der schmollt und sich heimlich schämt, weil er bei etwas Unvernünftigem ertappt worden ist. Das ist die Außenseite der Belehrbarkeit.

Die Innenseite, die kein Erwachsener gerne öffentlich mitteilt, besteht darin, dass Grundschule, Hauptschule, Gymnasium, Industrie- und Handelskammer, die Fakultät und der TÜV nur auf Prüfungen vorbereiten, aber nicht auf das (Berufs-)Leben. Wer die Gesellenprüfung, den Führerschein, das Rigorosum, den Bachelor und den Master und den Erste-Hilfe-Kurs bestanden hat, der hat die Prüfungen bestanden, aber nicht mehr. Dem Fahrschüler fehlt es dann noch an Fahrpraxis, dem Gesellen und dem Doktor an Routine, an Erfahrung, an alltäglicher Lebensklugheit und -weisheit, um Berufswechsel, Familienkrisen und Freizeitstress zu bewältigen. Kurz: Wer ausgelernt hat, der sollte sich sofort eingestehen, dass er nachhaltig weiter lernen muss, obwohl er die Prüfungen hinter sich gebracht hat.

Kurz gesagt: Diejenigen, die ausgelernt haben, benötigen weiter Lehrer. Liebe Schwestern und Brüder, ich verbreite mich so lange über Lernen und Belehrtwerden, weil sich Jesus von Nazareth im Predigttext ausdrücklich als Lehrer einführt. Und der Lehrer Jesus bildet seine Jünger zu Lehrern aus, die es ihm gleichtun sollen. Niemand aber macht das so gerne öffentlich, dass diejenigen, die als Erwachsene die Ausbildungsprüfungen bestanden haben, weiterhin Lehrer brauchen, um in Leben und Beruf zurechtzukommen. Um das zu vertuschen, nennt man die Lehrer für die Zeit nach den Ausbildungsprüfungen mit einem englischen Wort einen – Coach. Man kann unterscheiden zwischen den Lehrern als Ausbildern von der Grundschullehrerin bis zum Gymnasialdirektor und den Lehrern als Berufsbegleitern und Alltagsbetreuern, vom Fitnesstrainer bis zum Karrierecoach.

Jesus verstand sich eher als Lebens- und Glaubensbegleiter denn als Ausbilder und Studienrat. Und die Jünger verstanden sich als wanderradikale Prediger. Darauf komme ich gleich zurück.

Bevor sich jemand auf einen Lehrer einlässt, muss er in sich selbst hineinhorchen. Und dort wird er in der Regel entdecken, dass er sich auf der einen Seite ungern belehren lässt. Auf der anderen Seite weiß er sehr, sehr genau, dass er lernen muss, auch wenn er Schulabschlüsse und Ausbildungsgrade längst absolviert und bestanden hat. Wer lernen will, der tut das aus der Einsicht, dass ihm Kenntnisse, Wissen, Fähigkeiten fehlen. Und niemand spricht allzu gern über die eigenen Defizite.

Jesus spricht in dieser Rede zu Schülern, die selbst später andere belehren sollen. Er redet die Jünger an, und es wäre nun leicht, in diesen Jüngern zugleich auch die Pfarrer, Pastoren, Dekane, Pröpste, Superintendenten, Prälaten, Oberkirchenräte und Bischöfe späterer Jahrhunderte und der Gegenwart zu sehen.

Jesus fordert die Jünger auf, Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben und sogar von den Toten aufzuerwecken. Und weitere Details stützen das Argument, das für die Jünger Gesagte nicht einfach auf die Geistlichen späterer Jahrhunderte und der Gegenwart zu übertragen. Jesus fordert die Jünger auf, nur unter dem Volk Israel für den Glauben zu werben. Aus guten historischen und theologischen Gründen würde das heute niemand mehr tun.

Es hat die Auslegung dieser Lehrpredigt Jesu vorangebracht, dass einige Exegeten für die ersten Gemeinden neue Erkenntnisse gewannen. Sie konnten zeigen, dass sich in den Urgemeinden stabile städtische und dörfliche Gemeinden bildeten, die regelmäßig Besuch erhielten von radikalen Wanderpredigern. Diese Wanderprediger kamen in die Gemeinde, blieben dort einige Zeit, predigten und heilten. Dass sie Tote auferwecken sollten, spielt auf die Auferstehung Jesu an Ostern an. Und auch in den Evangelien ist genau eineGeschichte überliefert, in der der tote Lazarus wiederauferweckt wird (Joh 11). Auch viele Glaubende empfinden das Anstößige dieser Wundergeschichte, denn Lazarus muss wegen dieser Auferweckung der einzige Mensch gewesen sein, der zweimal gestorben ist.

Wenn Jesus nun in dieser Rede zu radikalen Wanderpredigern spricht, dann verschieben sich die didaktischen Verhältnisse. Es wäre unfair, einem Pfarrer oder einer Pastorin vorzuwerfen, dass sie keine Toten auferweckt, keine Dämonen austreibt und nicht auf Befehl Kranke heilt, so sehr sich die Kranken, die Sterbenden und diejenigen, die psychisch angegriffen sind, das wünschen mögen. Die Menschen der Antike lebten in einer Wirklichkeit, für die Wunder, Auferweckungen und Heilungen unbestritten im Bereich des Möglichen lagen.

Zweitausend Jahre später, in der Moderne, hat sich ein Spalt aufgetan zwischen dem rationalen Wissen der Medizin und der Psychologie auf der einen und dem Wunderglauben auf der anderen Seite, der darüber hinaus stets des Aberglaubens oder der Magie verdächtig ist. Es soll damit nicht gesagt sein, dass Wunder nicht mehr möglich sind. Aber der Raum dessen, was erklärt, diagnostiziert und therapiert werden kann, ist so groß geworden, dass die Spielräume für das verblüffend Unwahrscheinliche sehr klein geworden sind.  Und trotzdem…

Eine Predigt über diese Worte Jesu kann ihren Zweck nicht darin finden, Pfarrer, Prälatinnen und Oberkirchenräte wieder in wanderradikale Prediger zu verwandeln, mit Kamelhaarfell und Jesuslatschen statt Kollar, Beffchen und Talar. Es kommt stattdessen darauf an, Gott auch ohne Hokuspokus und fliehende Dämonen zu vertrauen.

Wer das annimmt, dem fallen mehrere Passagen aus der Rede ins Auge. Jesus sagt: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Glaubendes Leben ist eingebettet in einen bestimmten Raum- und Zeithorizont. Geistlich erscheint dieser Horizont als ein Raum der Gebete und Fürbitten, des Singens von Chorälen, der guten, barmherzigen Taten für diejenigen, die es brauchen, der Pflege spiritueller Gemeinschaft. Wer glaubt, lebt in diesem Horizont, der über Vergänglichkeit, Krankheit, Sterben und Tod hinausreicht. Wer glaubt, der lebt auch in dem Wissen, dass dieser geistliche Horizont nicht auf Gemeinden und Kirchen beschränkt ist, sondern weit hineinreicht in die Welt. Wer glaubt, der muss nur den Mut aufbringen, Gott auch dort am Werk zu sehen, wo Gedanken und Fürbitten der Gemeinden ihn gar nicht vermuten würden.

Und nun folgt ein gefährlicher religionspädagogischer Satz: Glauben heißt lernen, sich belehren zu lassen. Glauben umfasst eine Einsicht in die eigene Verletzlichkeit, Schwäche und Vorläufigkeit. Wer alles besser weiß, der taugt nicht zum Glauben. Glauben besteht in der plötzlichen Einsicht, nicht nur Schwäche zeigen zu können, sondern diese Schwäche auch anzunehmen und darauf zu vertrauen, dass der barmherzige Gott für diese Schwäche aufkommen und sie aufheben wird. Niemand muss stark sein, um zu glauben – im Gegenteil. Wer glaubt, wird sich über das Verhältnis von eigener Schwäche und der Gnade Gottes belehren lassen.

Dazu braucht es im Übrigen nicht notwendig einen Pfarrer, schon gar keinen klerikalen Funktionsträger, der das barmherzige Wort von der Gnade Gottes allzu oft dafür ausnützt, um seine eigene Macht zu stabilisieren. Dafür genügen Glaubensschwestern und -brüder, die sich gegenseitig trösten.

Es ist wichtig, sich die Gründe zu verdeutlichen, weshalb Jesus gerade eine solche Rede hält. Im Matthäusevangelium heißt es: „Und als [Jesus] das Volk sah, jammerte es ihn (…).“ Wer Glauben weitergeben will, der wird angeleitet, Verständnis für diejenigen aufzubringen, die ihm gegenübersitzen: Verständnis für die Widersprüche eines Lebens, für seine Abgründe, für kleine und große menschliche Schwächen, für mangelnde Fähigkeiten und für die fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Alles verstehen heißt alles verzeihen, lautet die Alltagsweisheit, aber in ihr liegt auch eine Gefahr. Denn der andere kann diesen Satz auch ausnutzen. Trotzdem ist es besser, wenn die Großzügigkeit des Herzens die Disziplin der Regeln und Gesetze stets übertrifft.

Niemand wird ohne Blessuren, Krisen, Enttäuschungen und Demütigungen durchs Leben gehen. Glaube besteht nicht darin, alle diese Blessuren demütig zu ertragen, sondern darin, sich trotzdem die Dankbarkeit für das geschenkte Leben zu erhalten. Für diejenigen, die nicht glauben, spielen im Leben Zufälle und Zwänge die wichtigste Rolle: Alles regelt sich ohne Rücksicht auf Verluste. Diejenigen, die glauben, leben im Horizont des Reiches Gottes, den ich schon angesprochen habe. Dieser Horizont geht nicht auf in der Garantie automatischer Wunderheilung bei Bedarf. Sondern Glaube lebt vom Vertrauen, dass Leben, bei allen Zufällen und Widrigkeiten, ein Ende in Gottes Hand nehmen wird. Beim Schriftsteller John Irving habe ich den Satz gelesen, das Leben sei teils Zufall, teils Wunder. Der Schriftsteller schrieb das mit Sicherheit nicht, um seiner christlichen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Aber dieser Satz passt trotzdem zu den Grundlagen christlichen Glaubens.

Wer glaubt, hält die Augen offen für das Ungewöhnliche. Die Anleitung dafür hat Jesus von Nazareth in seiner Rede an die Jünger gegeben. Wer glaubt, vertraut die eigene Schwäche der Barmherzigkeit Gottes an. Und er lernt das im Vertrauen auf Jesus Christus Tag für Tag – ohne sich belehren zu lassen. Wer glaubt, kann das Wechselspiel zwischen Wunder und Zufall ertragen.

Und der Friede Gottes, der den Horizont des Lebens stiftet und Wunder bewirkt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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