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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 21.07.2019

Wie wollen wir Kirche? – Ein Gemeindegespräch
Predigt zu Matthäus 9:35-10,10, verfasst von Sibylle Rolf

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich vor: an einem Sonntag findet eine Gemeindeversammlung statt. Kurz vor der Wahl zum Kirchengemeinderat, mit dem Pfarramtsteam – gerade ist ein neuer Pfarrer gewählt worden. Es wird wahrscheinlich manches anders werden. Die Menschen beraten über die Zukunft der Kirche. Mitgliederschwund, demographischer Wandel, Milieuorientierung. Diese und noch viele andere Wörter fallen. Stirne werden gerunzelt, Finger geknetet. „Was soll aus uns werden?“, fragt man sich. „Hat unsere Kirche eine Zukunft? Es werden weniger Menschen werden. Wir werden weniger Geld haben.“

„Wir brauchen mehr junge Leute in der Kirche“, sagt einer. „Ein zweites Gottesdienstprogramm, das wäre gut. Kinderbibeltage. Und Nächte.“ Die anderen nicken. „Aber die Alten dürfen wir auch nicht vergessen“, wirft eine andere ein. Wieder wird genickt. „Wir müssen uns öffnen“, ruft ein dritter. „Wir müssen mehr Werbung machen“, sagt der Vierte, „schließlich haben wir ein saugutes Produkt“. „Wenn wir uns zu sehr öffnen, verprellen wir unsere Treuen“, gibt ein Fünfter zu bedenken, „Homosexuelle im Pfarrhaus sind schließlich nicht jedermanns Sache.“

Je länger nachgedacht wird, desto weniger Einigkeit besteht. Programme sollen entwickelt und Beschlüsse gefasst werden. Über der Stirnseite des Raumes hängt ein großes Plakat: „Wie wollen wir Kirche?“ steht darauf.

Eine junge Frau sitzt mit am Tisch. Sie ist weder Theologin noch Pfarrerin. In der Hand hält sie ein Buch. „Was aus uns werden soll?“, fragt sie. „Lasst uns doch einmal hören, wie alles begonnen hat.“ Und sie liest vor.

 

 

 

Mt 9,35-10,10

35 Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. 36 Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. 38 Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. 10,1 Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. 2 Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; 3 Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; 4 Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet. 5 Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, 6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. 7 Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. 5 Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, 6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. 7 Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. 8 Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebt es auch. 9 Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, 10 auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert.

 

 

Als die Frau fertiggelesen hat, setzt sie sich. Ein Junge meldet sich. „Warum haben die alle so komische Namen?“, fragt er. „Manche kann man ja gar nicht aussprechen“. „So hießen die Menschen damals“, sagt sein Vater. „Wenn das heute aufgeschrieben worden wäre, würden sie Jürgen und Michael, Stefan und Karl-Heinz heißen. Und Frauen wären wahrscheinlich auch dabei. Inge und Renate, Ulrike und Christina. Das waren echte Menschen mit echten Geschichten. Nicht irgendwelche ausgedachten Figuren. Die hatten Väter und Mütter. Berufe. Genauso konkret wie wir.“

Die Besucher und Besucherinnen der Gemeindeversammlung blicken sich an. Nicht nur einer stellt sich vor, wie es wäre, wenn sein eigener Name da eben vorgelesen worden wäre.

„Wie wollen wir Kirche? Mit den Menschen, die wir haben. Mit allem, was sie mitbringen, mit ihren Geschichten, ihren Begabungen, ihren Stärken und ihren Schwächen. Andere Menschen als die, die wir hier haben, gibt es nicht. So einfach ist das.“ Die Menschen in der Gemeindeversammlung schauen sich an. So einfach?

Eine Frau nickt. „Ja, so einfach. Wer Gott erfahren will, bekommt es mit dem Menschen zu tun. Mit dem Menschen Jesus von Nazareth, der es mit der Welt zu tun bekommen hat, und mit den Menschen, die sich von Jesus von Nazareth gerufen und gesendet wissen. Ganz normale Menschen mit ganz normalen Namen und ganz normalen Begabungen. Die zwölf werden losgeschickt. Sie haben einen Auftrag, eine Mission. Sie mischen sich ein. Sie lassen sich anrühren von der Not anderer. Machen Kranke gesund, erzählen von der Liebe und vom Leben. Hören zu. Sind da. Warum sie das tun? Weil sie gesendet werden. Aber vor allem deswegen, weil Jesus genau das getan hat und sie gemerkt haben, wie gut ihnen das tat. Weil sie an Jesus gesehen haben, wie er sich anrühren lässt von der Not. Weil sie bei Jesus tiefes Mitgefühl gespürt haben. Es jammerte ihn. In seinem Herzen spürte er die Not anderer und stellte sich der heilenden Kraft Gottes des Vaters zur Verfügung. Und damit zeigte er: Gott lässt sich in das Geschick von Menschen verwickeln. Er ist kein ferner Schicksalsgott, dem es egal ist, wie es uns Menschen geht. Er lässt sich anrühren, er mischt sich ein. Er erträgt es, wenn er abgelehnt und angefeindet wird. Er schweigt nicht passiv und unnahbar, sondern er greift ein, weil er die Menschen und das Leben liebt.

An Jesus haben die Menschen gesehen, wie Gott ist: nahbar und mitfühlend. Und weil er es alleine nicht schafft, sucht er Menschen, die sich dieser heilenden, liebenden Kraft zur Verfügung stellen und sich genau wie er anrühren lassen vom Kummer anderer.“

„Was tun die Zwölf?“, fragt ein älterer Mann. Die Menschen in der Gemeindeversammlung nicken. Wir sind doch hier, um ein Konzept zu entwickeln. „Wie wollen wir Kirche?“ steht auf dem Banner an der Stirnseite des Raumes. „Wir brauchen doch Perspektiven und Programme. Untersuchungen und Pläne für das, was unsere Kirche braucht, um heute und morgen zu überleben.“

Die Menschen fangen an zu murmeln, bis eine junge Mutter aufsteht: „Ich glaube, Konzepte sind wichtig“, sagt sie. „Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie unsere Gemeinde werden soll und wie wir uns für Menschen öffnen. Wir müssen reagieren auf den demographischen Wandel und die Streichung von Pfarrstellen. Auf die Zukunft und auf unsere zu großen Häuser. Wir können nicht einfach so weitermachen, weil es immer schon so war.“

Die Menschen nicken beifällig. Die ersten zücken Papier und Bleistift. „Was schlagen Sie vor?“, ruft einer dazwischen. Die junge Mutter schaut nachdenklich. Auf ihrer Hüfte sitzt ihr jüngstes Kind.

„Ich glaube, Konzepte sind wichtig“, sagt sie, „aber sie sind nicht die Hauptsache. Das ist wie mit Kindern. Es geht um Beziehungen, um Menschen. Unsere Kirche ist kein Auto, das nach einer Inspektion wieder ein paar Jahre fahren kann. Auch bei Kindern helfen Erziehungspläne in der Regel nur dann, wenn sie von Liebe getragen werden. Wenn ich die Liebe, die Beziehung aus dem Auge verloren habe, bringen alle Pläne nichts. Das ist auch in jeder Ehe so. Vielleicht können die zwölf nur deswegen ihren Auftrag erfüllen, weil jeder von ihnen mit Jesus verbunden gewesen ist. Sie haben sich Gott zur Verfügung gestellt mit dem, was sie sind und haben. Der eine, Simon Petrus, konnte besonders gut reden, immer mit der Klappe vorne dran. Vielleicht konnte sein Bruder Andreas besser zuhören und hat damit den Menschen wohlgetan. Aber das wichtige war doch: sie standen in Verbindung mit Jesus und haben ihm hinterher auch erzählt, was sie erlebt haben. Sie sind nicht einfach auf eigene Faust losgegangen. Und sie haben immer genau das getan, was jetzt getan werden muss. Sie sind nicht mit fertigen Plänen losgegangen, sondern haben geschaut, was die anderen jetzt gerade brauchen. Die Kranken, die Toten, die Aussätzigen. Sie geben weiter, was sie haben: die Geschichte von Gott und die Verbindung mit Jesus.“

Der ältere Mann lässt nicht locker. „Aber unsere Kirche und unsere Gemeinde“, sagt er. „Dafür sind wir doch hier. Wir sind uns doch einig, dass schon einige Zeit vergangen ist, seit Jesus die zwölf ausgesandt hat. Was machen wirdenn nun damit?“

Wieder wird kräftig genickt. Ein anderer Mann steht auf. „Vielleicht macht es ja gar keinen Unterschied“, sagt er. „Vielleicht kommt es ja auch bei uns auf die Beziehung an. Darauf, dass die Kirche, unsere Gemeinde, beim Wesentlichen bleibt. Wenn es stimmt, dass Gott sich in unsere Welt und unser Leben eingemischt hat, dann mischt er sich ja auch heute ein mit seiner segnenden, heilenden Kraft. Und er gibt jedem, was er oder sie braucht.“

Und der Reihe nach schaut er die Menschen an, die da sitzen. Viele denken an Wunden in ihrem Leben, an Dinge, die sie krank gemacht haben oder immer noch krank machen, an Kränkungen und an Sorgen um liebe Menschen. An Abschiede und Trauer. Gott lässt sich von meinem eigenen Leid anrühren, geht es vielen durch den Kopf. Manche haben Tränen in den Augen.

„Warum klagen wir Gott nicht unsere Wunden und das, was uns krank macht?“, sagt eine Frau nachdenklich.

Ihr Nachbar sitzt im Rollstuhl. „Vielleicht macht er nicht jeden gesund, aber gibt uns Kraft zu ertragen, was wir zu ertragen haben. Vielleicht wird ja mancher sogar gesund. Wenn Gott sich von unserem Leid anrühren lässt, müssen wir es nicht verstecken und brauchen keine Angst davor zu haben.“

„Und dann halten wir das Leiden von anderen besser aus“, sagt einer. „Vielleicht stellen wir uns so schon zur Verfügung für die liebevolle und heilende Kraft Gottes.“

„In alter Zeit hieß das Abendmahl die Arznei der Unsterblichkeit“, sagt die Leiterin der Gemeindeversammlung. „An Gottes Tisch kommen die Zerbrechlichen und Zerbrochenen, die Leidenden und die, die das Leiden anderer jammert, die Weinenden und die, die sich anrühren lassen von den Tränen anderer. An Gottes Tisch sind alle eingeladen, die sich von Gott dienen lassen und die sich der Liebe Gottes zur Verfügung stellen wollen.“ Zum Schluss sagt sie: „Vielleicht kommt unsere Kirche so zum Wesentlichen: indem sie sich von Gott dienen lässt und sich dem Dienst Gottes mutig und ohne Angst zur Verfügung stellt. Danach können wir gerne Pläne machen und Konzepte entwerfen dafür, was unserer Gemeinde gut tut und wie wir neue Wege gehen können, um unsere Türen für andere zu öffnen. Das ist wichtig, aber nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist ganz einfach. Gott hat sich in diese Welt eingemischt. Und er braucht uns, um den Menschen zu zeigen, wie sehr er die Welt liebt. Ohne dass wir dafür etwas erwarten. Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es auch weiter.“ Amen.



Prof. Dr. Sibylle Rolf
Heidelberg, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: sibylle.rolf@wts.uni-heidelberg.de

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