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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 25.08.2019

Weinen können heißt lieben können
Predigt zu Lukas 19:41-44, verfasst von Sibylle Rolf

Predigt am 25. August 2019 (Israelsonntag)

in der Christuskirche Oftersheim

 

Liebe Gemeinde,

Es gibt Orte, die sind Sehnsuchtsorte. Orte der Weite. Orte, an denen wir uns wohl fühlen, weil wir einfach sein dürfen und loslassen, was uns Sorgen macht. Orte des Friedens und der Begegnung. Ich trage diese Orte in meinem Herzen. Es gibt Sehnsuchtsorte für jeden und jede einzelne von uns, und Sie wissen selbst am besten, wo Ihr persönlicher Sehnsuchtsort ist. Für mich ist es das Meer – so, wie ich es in meinem letzten Urlaub erlebt habe.

Es gibt auch Sehnsuchtsorte, die Menschen miteinander verbinden. Irdische und himmlische Sehnsuchtsorte. Im Judentum ebenso wie im Christentum (und auch im Islam) ist Jerusalem ein solcher Sehnsuchtsort. Jerusalem, die Heilige Stadt, die Stadt des Friedens, des Schalom. „Nächstes Jahr in Jerusalem“, rufen Juden sich bis heute zu, wenn sie das Passahfest feiern, das Fest der Befreiung aus der Sklaverei. Nächstes Jahr treffen wir uns in Jerusalem, der Stadt des Friedens. – Und vielleicht meinen sie damit: mach dich auf in die Freiheit. Leg ab, was dich fesselt. Geh hinein in die Stadt des Friedens. Lass die Wunden deiner Zerrissenheit und deiner Gefangenschaft heilen. Nächstes Jahr in Jerusalem!

Jerusalem, die Stadt des Friedens, ist ein Sehnsuchtsort. Menschen singen ihre Sehnsucht heraus: In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt, Jerusalem. In deinen Toren kann ich atmen, erwacht mein Lied. Jerusalem: die Stadt, in der Gott endlich die Tränen abwischen wird und der Tod nicht mehr das letzte Wort hat. Die Lesung hat davon erzählt. Jerusalem, die Stadt des Lebens, der Ort der Gemeinschaft von Gott und den Menschen.

 

Dieses Hoffnungsbild von Jerusalem und die nackte irdische Wahrheit der Stadt sind nicht ohne weiteres aufeinanderzulegen. Wenn ich heute nach Israel und Palästina blicke, sehe ich eine tief verwundete, eine zerrissene Stadt. Hart umkämpft von drei Weltreligionen, von Israel und Palästina als Hauptstadt beansprucht. Eine Stadt der Konflikte viel eher als eine Stadt des Friedens und des Heils. Wo ist Gott in dieser Stadt? Im Felsendom der Muslime? An der jüdischen Klagemauer? In der christlichen Grabeskirche? Hat er sich zurückgezogen, als vor fast 2000 Jahren der zweite jüdische Tempel zerstört wurde und allein die Westmauer stehen blieb?

 

Aus dem Sehnsuchtsort ist ein Wehmutsort geworden. Wie es eben manchmal ist mit unseren Sehnsuchtsorten. Das Paradies ist verloren, wir müssen hinaus in die zerrissene Welt, hinein in den Schmerz. Wir müssen den Schmerz aushalten. Schon als im 6. Jahrhundert vor Christus der erste Tempel von Jerusalem durch die Babylonier zerstört wurde, haben Menschen geweint. An den Ufern von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten, singt Psalm 137. Zion, der zweite Name der Stadt. Das Schicksal der Stadt bringt Menschen zum Weinen. Der Sehnsuchtsort ist zerstört. Die Sehnsucht ist unerfüllbar. Wo ist Gott? „Ach, wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Völkern, und die eine Königin in den Ländern war, muss nun dienen. Sie weint des Nachts, dass ihr die Tränen über die Backen laufen.“ So heißt es in den Klageliedern Jeremias (Klg 1,1-2). Sie singen von der Zerstörung Jerusalems und des Tempels.

Der Sehnsuchtsort wird zum Wehmutsort. Aber die Sehnsucht bleibt erhalten. Seit Jahrtausenden. Hört den Predigttext für den heutigen Israelsonntag, den 10. Sonntag nach Trinitatis, den 9. Tag des jüdischen Monats Aw.

 

Lukas 19, 41 Und als Jesus nahe hinzukam und die Stadt sah, weinte er über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. 43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du besucht worden bist.

 

Nach dem Lukas-Evangelium kommt Jesus nur als Kind zweimal nach Jerusalem. Als Säugling wird er von seinen Eltern in den Tempel gebracht und begegnet Simeon und Hanna. Und als Zwölfjähriger besucht er mit seinen Eltern den Tempel – und bleibt dort. Was die Eltern erst auf ihrem Rückweg bemerken. Von weiteren Besuchen Jesu in Jerusalem wird nichts berichtet. Aber die Stadt spielt ab der Mitte des Evangeliums eine wichtige Rolle. Auf dem Berg der Verklärung zeigt Jesus sich als der, der er ist – der Sohn Gottes. Und anschließend wendet er sich nach Jerusalem. Hier soll alles enden, hier ist das Ziel seines Wegs. Nächstes Jahr in Jerusalem... schon das nächste Passahfest soll Jesus mit seinen Freunden in Jerusalem feiern.

Auf dem Weg in die Heilige Stadt geschehen viele Dinge. Wie es eben ist auf Wegen zu unseren Sehnsuchtsorten. Was mögen die Freunde Jesu miteinander besprochen haben auf den einzelnen Wegstrecken und Etappen? Wir gehen nach Jerusalem in die Stadt des Tempels. In die Stadt Gottes. Wir werden feiern und Zeugen werden, dass Jesus König wird. – So mag es an guten und optimistischen Tagen geklungen haben. Wir gehen nach Jerusalem... was erwartet uns dort? Er spricht mir ein bisschen viel von Schmerz und Leiden in der letzten Zeit.... – so werden die unbehaglichen Tage gewesen sein.

 

Dann folgt der Einzug in Jerusalem, am Palmsonntag. Eine Mischung aus Triumphmarsch und Irritation: Hosianna dem Sohn Davids – er kommt auf einem Esel. Die Freunde lassen sich mitreißen. Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe, singen sie. Die Engel auf dem Feld damals in der Nacht seiner Geburt klingen mit. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden. Jerusalem ist die Stadt des Friedens. Ob doch noch alles gut gehen wird?

Direkt im Anschluss an den Einzug setzt Lukas unseren Predigttext. Als Jesus die Stadt in den Blick nimmt, weint und wehklagt er. Eben ist er noch gefeiert worden als neuer König – und nun weint er. Das wird im Neuen Testament überhaupt nur an zwei Stellen erzählt. Jesus weint. Im Johannes-Evangelium, als Lazarus gestorben ist, und hier bei Lukas. Anders als am Grab des Lazarus kommt Jesus aber nicht als Wundertäter, der Tote zum Leben erweckt. Er kann nur zuschauen: Ach, wenn du doch erkenntest, was zum Frieden dient, du Stadt des Friedens. Aber Frieden wird nicht sein in dir, im Gegenteil, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, eine tiefe Wunde, ein tiefer Riss wird sich in dich eingraben und dein Aussehen für immer verändern.

 

Dort, wo geweint wird, da wird auch geliebt. Tränen drücken Liebe aus und bringen sie ins Fließen. Auch wenn ich mich machtlos fühle, bin ich froh, wenn ich weinen kann. Tränen sind das Gegenteil von Totenstarre. Nicht weinen zu können, ist viel schlimmer.

Es gibt den Brauch, die letzten Tränen eines Sterbenden in einem Gefäß aufzufangen. Sie besonders wertzuschätzen und zu würdigen. An der Stelle, an der Jesus vielleicht gestanden und beim Blick auf Jerusalem und den Tempel, geweint hat, steht heute eine kleine Kirche. Ihr großes Fenster blickt genau auf den Tempelberg. In ihrer baulichen Form finden sich Anklänge an Tropfen. Die Tränen, die Jesus geweint hat. Tränen der Trauer und des Mitgefühls. Tränen aber auch der Hoffnung und der Lebendigkeit. Wer weint, ist noch nicht tot. Er (oder sie) zeigt, dass etwas zum Herzen geht.

 

Als Lukas sein Evangelium schreibt, ist der Tempel zerstört. Im Jahr 70 nach Christus ist Titus in die Stadt einmarschiert und hat sie genau so zerstört, wie es in unserem Text steht: Kein Stein bleibt auf dem anderen. Der Tempel, das Haus Gottes, wird dem Erdboden gleich gemacht. Nur die alte Westmauer, die heutige Klagemauer, bleibt stehen. Durch Jerusalem, die Stadt des Friedens, geht eine tiefe Wunde. Bis heute ist sie sichtbar und spürbar, wenn wir sie an unser Herz kommen lassen. Wo wohnt Gott? Hat er seine Stadt verlassen?

Bis heute denkt die jüdische Gemeinde am 9. Tag des Monats Aw an den zerstörten Tempel, in Trauer und Schmerz. Wir verbinden uns mit ihr am 10. Sonntag nach Trinitatis, dem Israelsonntag. Wurde an diesem Sonntag über viele Jahrhunderte die Überlegenheit des Christentums betont, so wird heute der Schmerz geteilt. Das Mitgefühl über verlorene Hoffnung und verlorenes Leben. Der Schmerz über zerstörte Synagogen, die von den jüdischen Gemeinden häufig als ihr „Tempel“ bezeichnet worden sind. Wir fragen gemeinsam: wo wohnt Gott? Und woher nehmen wir unsere Hoffnung?

Wo geweint wird, da wird geliebt. Da fließt etwas, da entsteht Nähe im geteilten Schmerz. Jerusalem, die Stadt des Friedens, der Sehnsuchtsort, ist zum Wehmutsort geworden. Zum Ort, an dem der Unfrieden und die Zerrissenheit unserer Welt sich zeigen. Und doch bleibt die Sehnsucht nach Frieden bestehen.

 

Das Lukas-Evangelium zeichnet ein vorsichtiges Hoffnungsbild. Das irdische Jerusalem ist zerstört. Die Stadt des Friedens, die Stadt, in der Gott wohnt, gibt es nicht mehr so, wie Jesus und seine Freunde sie gesehen haben. In einer letzten Rede kurz vor seiner Kreuzigung kündigt Jesus bei Lukas noch einmal die Zerstörung Jerusalems an und das Exil aller, die dort wohnen. Heiden werden Jerusalem zertreten, schreibt Lukas – bis die Zeit der Heiden erfüllt ist. Es gibt für Lukas offenbar eine Zeit, in der die Zerstörung ein Ende haben wird. Ein Zeitpunkt, in dem alles erfüllt ist. Für mich ein Hoffnungszeichen.

Und noch eines: nachdem sie Zeugen des Verrats, der Kreuzigung und der Grablegung geworden sind, bleiben die Freunde in Jerusalem. Sie verstecken sich aus Angst und Unsicherheit. Lukas berichtet, wie der auferstandene Christus sie besucht und mit den Worten begrüßt: Friede sei mit euch. In ihrer Situation der Zerrissenheit, der Angst und Trauer wird ihnen der Frieden zugesprochen, nach dem sie sich sehnen.

Der Wehmutsort Jerusalem wird auf diese Weise wieder zum Sehnsuchtsort und zum Friedensort, an dem neue Gemeinschaft von Gott und den Menschen möglich wird – in der Person des auferstandenen Jesus. Die Sehnsucht nach Frieden findet ihren Halt.

 

In der Person Jesus Christus liegt für uns Christen die Hoffnung auf Frieden. Die Hoffnung auf Heilung unserer Zerrissenheit und unseres Schmerzes. Diese Hoffnung soll unsere jüdischen Geschwister nicht vereinnahmen. Nach biblischer Theologie liegt für uns alle die Hoffnung in Gottes Verheißung: ich will bei euch wohnen und ich will mit euch sein. Denn ihr seid mein Volk, und ich bin euer Gott. Und diese Verheißung Gottes wird an keiner Stelle der Bibel zurückgenommen. Sie gilt für die Stadt Jerusalem, sie gilt für den jüdischen Tempel und die christliche Kirche. Sie liegt in Gottes Hand, der unser Friede ist. Amen.



Prof. Dr. Sibylle Rolf
Heidelberg, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: sibylle.rolf@wts.uni-heidelberg.de

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