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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis , 01.09.2019

Predigt zu Lukas 18:9-14 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Peter Fischer-Møller

Wir haben oft die Neigung, andere Menschen nach einem bestimmten Schema zu beurteilen, uns ein festes Bild davon zu machen, wie andere sind.

Zum Beispiel die Deutschen!

Daran wurde ich erinnert, als ich neulich einen Artikel wieder las, der von Günther Cremer stammt, einem gebürtigen Deutschen, mit einer Dänin verheiratet, wohnhaft in Dänemark und Lehrer an einem dänischen Gymnasium, ein Artikel in der Tageszeitung Information. Er hatte bemerkt, dass viele seiner Schüler Deutschland und den Deutschen gegenüber sehr negativ eingestellt waren. „Gierig, unmoralisch, autoritätsgläubig und ohne Sinn für Humor“. So können wir über unsere Brüder und Schwerstern südlich der Grenze reden, wenn wir unter uns sind. Aber wir reden anders in den Touristenbroschüren, denn wir verzichten nur ungern auf all das Geld, das unsere deutschen Nachbarn im Sommer hier ausgeben.

Warum haben junge Menschen, die vielleicht nie mit einem Deutschen geredet haben, so ein festes Bild von einer ganzen Nation?

Ja, das hat natürlich etwas mit der Geschichte zu tun, mit den Schleswigschen Kriegen und dem ersten und zweiten Weltkrieg. Vielleicht hat es auch mit einem Minderwertigkeitsgefühl zu tun gegenüber einem tüchtigen und flei࣭ßigen Volk. Vielleicht geht es hier einfach nur darum, dass wir uns selbst bestätigen wollen, indem wir von anderen reden. Aber sieh nur, was passiert, wenn du dir die Zeit nimmst, einem dieser fürchterlichen Deutschen näher zu begegnen. Ja, da fallen die Vorurteile in sich zusammen, und dahinter zeigt sich ein Mensch im Guten wie im Bösen, wie du und ich.

Ein anderes Beispiel.

Was denkt ihr, wenn ihr das Wort Jugendkriminalität hört?

Was seht ihr vor euch, wenn ihr von einem sechzehnjährigen Jungen hört, der wegen eines Raubüberfalls in einem Gefängnis sitzt? Etwas mit einer flachen Stirn und tiefsitzenden Augen, ein Verlierer aus dem Betonslum, sicher rauschgiftsüchtig. 

Ich sprach neulich mit einem Gymnasiasten, der bei einem Rechtanwalt ein Berufspraktikum absolviert hatte. Er war mit in einem Jugendgefängnis, wo der Anwalt mit seinem Klienten reden sollte, ein sechzehnjähriger Junge, verhaftet wegen eines Raubüberfalls.

Er kam etwas erschüttert nach Hause und erzählte eine Geschichte von einigen Jungen, die etwas zu viel getrunken hatten und ohne Fahrkarte im Zug gefahren waren – und dann war der Schaffner gekommen und dann war es schief gelaufen.

„Aber der war ein ganz gewöhnlicher netter Junge. Das hätte genauso gut ich sein können“.

 

Von hier aus möchte ich das heutige Evangelium vom Zöllner und Pharisäer betrachten.

„Das hätte genauso gut ich sein können“. Nicht nur der Zöllner, sondern auch der Pharisäer. Ich denke, wir kennen sie beide im Guten wie im Bösen als Seiten unseres eigenen Wesens. 

Dies ist ansonsten eine Geschichte, mit der wir gewöhnlich schnell im Reinen sind. 

Wenn ich die, die unmittelbar den Pharisäer in der Geschichte sympathisch finden, darum bitten würde, die Hand zu erheben, da brauchte ich wohl nicht lange zu zählen.

Und wenn die Leute gewöhnlich die letzten Bänke in der Kirche einnehmen und nicht die vordersten, wo man ansonsten besser sieht und hört, so glaube ich, dass das auch eine Folge dieser Geschichte ist, ein Wunsch, dem netten, bescheidenen, demütigen Zöllner zu gleichen, der sich bescheiden im Hintergrund hält.

Wir denken: Ist doch klar, dass Jesus den aufgeblasenen und prahlerischen Pharisäer kritisiert und den sympathischen demütigen Zöllner lobt, der sich so vornehm zurückhält. 

Aber so einfach ist die Geschichte nicht, so einfach war sie ganz bestimmt nicht, als Jesus sie erzählte.

Denn die, denen er die Geschichte erzählte, kannten den Pharisäer.

Sie wussten, dass er nicht bloß ein aufgeblasener selbstverliebter Heuchler war. Sie wussten, dass er ein netter und anständiger Mensch war, der seine Verantwortung als Mitbürger ernst nahm, der die Gesetze einhielt und seine Steuern bezahlte, ohne mit Steuerhinterziehungen zu betrügen, ja der sogar etwas mehr gab als er eigentlich musste.

Und sie kannten auch den Zöllner. Er war es, der alle möglichen Gebühren eintrieb, und auch wenn es feste Tarife gab, war es üblich, dass der Zöllner möglichst auch etwas für sich selbst einkassierte. Und dann arbeitete er ja für die römischen Besatzer, er war deshalb nicht nur gierig, sondern ein Landesverräter.

Für die, die die beiden kannten, den Pharisäer und den Zöllner, für die, die mit ihnen täglich zu tun hatten, war kein Zweifel daran, wen sie vorzogen. 

Aber dann kommt Jesus und stellt alles auf den Kopf. 

Was in aller Welt soll das?

Ich glaube ja, dass er unsere Augen dafür öffnen will, dass sowohl der Pharisäer als auch der Zöllner mehr sind als die Vorurteile, mit denen wir ihnen begegnen. Dass sie lebendige Menschen sind, Menschen mit einer Vorderseite und eine Schattenseite. Ich glaube, dass er uns dazu bringen will, die beiden mit ihren Stärken und Schwächen in uns wiederzuerkennen.

Sehen wir den Pharisäer zuerst.

Er war wie gesagt ein netter und redlicher Mitbürger. 

Das sollten wir meiner Meinung nach nicht geringschätzen - auch heute nicht. Im Gegenteil! Wir brauchen Redlichkeit.

In unserem Alltag und unserem Lebensstil gibt es so viel Unbedachtsamkeit, Schwindelei und Oberflächlichkeit. Viele von uns reagieren mit fehlender Nachhaltigkeit auf unsere

Naturgrundlage, versuchen, Steuern zu vermeiden, essen zu viele Chips, während wir billige Serien im Fernsehen anschauen. 

Da ist es wirklich wichtig, dass jemand da ist, der seine Steuern bezahlt und etwas für die Gemeinschaft tut. Es ist wichtig, dass wir den Willen zeigen, die Güter dieser Welt gerechter zu verteilen, und mit der Natur und ihren Ressourcen verantwortlicher umzugehen. 

Wenn man den Pharisäer in unsere Zeit übertragen wollte, so glaube ich, dass er für solche Werte stehen würde, und die sind wahrlich wichtig für uns. 

Aber der Pharisäer ist nicht nur der redliche Mensch, als der er unmittelbar erscheint. Er hat auch eine Schattenseite.

Der begegnen wir, wenn wir, die wir einer Beschäftigung nachgehen, zuweilen die Arbeitslosen als Menschen zweiter Klasse ansehen und behandeln.

Es ist eine Verzerrung der Proportionen, wenn wir vergessen, wie vieles wir in unserer eigenen Situation nicht uns selbst verdanken, wo wir vergessen, dass das Leben nicht unser Eigentum ist, sondern ein Geschenk, das uns anvertraut ist, und dass wir die Fähigkeiten und Kräfte, die uns gegeben sind, nicht nur uns selbst verdanken. Dass unsere Erfolge oder Niederlagen auch viel mit Zufällen zu tun haben, mit Glück oder Unglück. 

Und es handelt sich um eine Angst, das einzugestehen, eine Art Beschwörung der Position und der Privilegien, die man hat, wenn man auf dem Arbeitsmarkt ist. Wenn wir auf die Arbeitslosen herabsehen, wenn wir sie als faul oder minderwertig betrachten, bilden wir uns selbst ein, dass mir so etwas nie wiederfahren kann. 

Das ist die Schattenseite des Pharisäers von heute. Ein Schatten, der über sein Leben fällt, weil er eine Seite seines eigenen Wesens und seiner Situation ist, die er nicht wahrhaben will, weil er sonst einsehen müsste, wie gefährdet er in Wirklichkeit ist, wie wenig er sich von weniger günstigen Lebensverhältnissen oder weniger respektablen Positionen unterscheidet. Vor allem aber ein Schatten, der über das Leben anderer fällt, die sein Selbstbewusstsein und seine Verachtung zu spüren bekommen und deren Selbstachtung er dadurch untergräbt.

Und dann der Zöllner.

Auch er hat eine Vorderseiten und eine Schattenseite.

Wir beginnen mit der Schattenseite.

Der Zöllner arbeitete wie gesagt mit der Besatzungsmacht zusammen und betrog seine Mitbürger. So etwas war damals wie heute nicht nur destruktiv für die Selbstachtung, sondern zerstörte auch die Lebensmöglichkeiten anderer Menschen. Es fällt mir schwer, darüber irgendetwas Gutes zu sagen. 

Aber jetzt bereut er es offenbar. Er steht da ganz hinten und schlägt sich vor die Brust. 

So ein schlechtes Gewissen, dafür muss man ihn wohl loben. Ja, vielleicht. Aber das kann auch bedeuten, des er in erbärmlicher Weise vor seiner Verantwortung flieht. Das hat man dem Christentum vorgeworfen, dass man hier dauernd von Sünde und Schuld redet und damit eine natürliche und notwendige menschliche Würde untergräbt. Man hat das Christentum als eine Art erweiterte Sklavenmoral verstanden. Du sollst nicht meinen, dass du zu etwas taugst. 

Aber das ist wohl ein Missverständnis.

Ich glaube nicht, dass Jesus wollte, dass wir dies vom Zöllner lernen, ein besonders erbärmliches selbstverleugnendes Selbstverständnis und Auftreten.

So etwas können wir leider selbst ins Werk setzen. Wir kennen das durchaus von uns selbst. Bisweilen tun wir uns selbst so furchtbar leid, dass wir nichts zustande bringen. Wir können in solche Rollen hineinflüchten, um uns der Mitverantwortung zu entziehen, die wir für unser eigenes Leben und das der anderen haben. So etwas pflegte Jesus nicht zu loben, so etwas pflegte er zu ändern: Nimm dein Bett und gehe, sagte er. Für ihn ging es darum, die Kräfte des Menschen freizusetzen, so dass er das Leben zusammen mit anderen wahrnehmen konnte.

Nein, aber vielleicht ist es ein Missverständnis, den Zöllner hier als so eine etwas erbärmliche Person auszufassen. 

Vielleicht  sagt er nicht: Gott, sei mir armem Sünder gnädig, um vor der Verantwortung zu fliehen, sondern weil er eingesehen hat, dass er zuweilen wirklich sein Leben und das Leben anderer so ernsthaft beschädigt hat, dass er das selbst nicht wieder gut machen kann, auch wenn er es noch so sehr wollte. 

Ich glaube, das ist es, was wir infolge Jesus im Zöllner wiedererkennen sollen. Dass wir es wagen, uns selbst in die Augen zu schauen, auch mit den Fehlern, die wir gemacht haben, mit dem, was wir unterwegs im Dasein kaputt gemacht haben, all dem, woraus es nur einen Ausweg gibt, nämlich  um Vergebung zu bitten und selbst bereit zu sein, anderen zu vergeben. 

So können wir uns in den beiden Personen in dieser Geschichte wiedererkennen, in ihren Vorderseiten und in ihren Schattenseiten.

Vielleicht fühlen wir uns mehr von dem einen als dem anderen getroffen, vielleicht ändert sich das im Laufe unseres Lebens.

Vielleicht ist es so: Solange wir jung sind und gesund und aktiv im Arbeitsleben, fällt es uns am leichtesten, uns selbst in der Zufriedenheit mit sich selbst und seinem Leben beim Pharisäer wiederzufinden – in diesem Alter meinen die meisten Menschen, dass sie nicht richtig Zeit haben, in die Kirche zu gehen, und vielleicht auch, dass sie das nicht brauchen. 

Vielleicht finden wir mehr vom Zöllner in uns mit der Zeit, wenn wir älter werden und das Leben sich nicht so gestaltet, wie wir uns das gedacht haben, und wenn uns klar wird, das unser Verhalten für uns und andere Folgen hatte, die wir nicht gesehen haben.

Jesus macht, dass wir uns in den beiden Personen wiederfinden, und dort erreicht uns seine Botschaft: Ihr könnt Gott nicht für eure eigenen Zwecke in Dienst stellen, um euch selbst zu bestätigen und anderen gegenüber zu behaupten. Gott kennt uns so, wie wir sind, und er ist für uns da, wenn wir es wagen, der die Wahrheit über uns selbst in die Augen zu sehen. Er öffnet den Weg zu dieser Gerechtigkeit, den rechten Pfad, wo wir einander wiedererkennen als Mitmenschen trotz unserer und anderer Fehler und Mängel. Amen.



Bischof Peter Fischer-Møller
Roskilde, Dänemark
E-Mail: pfm(at)km.dk

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