Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 15.09.2019

Predigt zu Lukas 10:23-37 (dänische Perikopenordnung) , verfasst von Rasmus Nøjgaard

Das christliche Leben

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eine der evangelischen Erzählungen, die die meisten kennen und zu der sie eine Beziehung haben. Die gute Geschichte vom Samariter stößt auf Zustimmung, weil dessen Barmherzigkeit ethnische, soziale und religiöse Grenzen überwindet, um dem Notleidenden zu helfen. Wenn Jesus sagt: ´So geh hin und tue desgleichen´, so fühlen wir uns angesprochen von der schlüssigen Forderung des Dialogs. Die Frage, wer denn der Nächste für den Schriftgelehrten ist, kehrt Jesus um, so dass sie nicht davon handelt, wem geholfen werden soll, sondern wer hilft: Wer ist der Nächste für den Notleidenden? Der Dialog wird mit anderen Worten zu einer Forderung, selbst der erste zu sein, der hilft. Ich bin der Nächste für meinen Nächsten, ich bin immer der Nächste. Christologisch ergeht die Forderung ohne eine Anweisung, wie sie zu erfüllen ist, jeder muss die Forderung selbst für sich realisieren. Die evangelische Kirche schickt uns mit dieser offenen Frage aus der Kirche, die sich eben nicht von der Kanzel aus beantworten lässt sondern nur im Leben des Einzelnen. Im Sinne des Pathos der Tradition nennt man dieses persönliche Gottesverhältnis imitatio Christi, Nachfolge Christi. 

 

Das Gesetz des Moses

Jesus fragt frech nach der Forderung des mosaischen Gesetzes, wie man das ewige Leben ererbt, und die Antwort ergänzt und erweitert die Forderung, aber konkretisiert sie auch. Im dritten Buch Mose 19,1-17 ist davon die Rede, wie man die religiösen Vorschriften einhält, um Gott gleich zu werden, denn Heiligkeit heißt, sich einem Leben in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes anzunähern, eine jüdische imitatio Dei, Gott gleich werden. Es ist hier wichtig zu beachten, dass das Gebot der Nächstenliebe keine christliche Erfindung ist, sondern ein zentraler Teil des jüdischen Lebens war und ist. Der Text erinnert uns daran, dass der schriftgelehrte Jude nicht zufällig das ganze Gesetz des Moses in dem Gebot zusammenfasst: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen … und deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist leider eine Karikatur, wenn wir sagen, dass die Juden den ´Nächsten´ ethnisch verstehen, d.h. als Juden, denn das ist in der eigenen Auslegungstradition der Juden keineswegs unbedingt der Fall. Wenn Ausleger darauf verweisen, dass ein diensthabender Priester nach dem mosaischen Gesetz keinen Kontakt zu etwas Unreinem haben darf und deshalb gemäß dieser Vorschrift nicht stehen bleibt und dem Verletzten und Blutendem hilft, so ist das auch eine Karikatur. Priester und Tempeldiener sind auch auf dem Weg herab von Jerusalem nach Jericho, also herab von dem Berg und weg vom Tempel. Sie stehen in der Erzählung für übliche Titel von Typen. Feine Worte und Kleider und Geld helfen dir nicht, das Richtige zu tun. Angesichts des jüdischen Gebotes der Nächstenliebe hätten sie selbstverständlich stehen bleiben sollen um zu helfen. Und im Hinblick Paulus und Luther für die Funktion des Gesetzes können wir erkennen, dass vor dem Gesetz alle hoffnungslos Sünder sind. Aus der griechisch-römischen Moralphilosophie kennen wir die ‚goldene Regel´, die dem ähnlich ist, aber nicht dieselbe Spannweite besitzt: ´Handele so anderen gegenüber, wie du selbst willst, dass andere dich behandeln´. In so verschiedenen Religionen wie Buddhismus und Islam wird die Nächstenliebe als uneigennützige Fürsorge für den Notleidenden gefordert, z.B. als Hilfe für die Armen und Kranken. Vielleicht ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter gerade

deswegen so beliebt, weil sie einen allgemeingültigen Charakter hat und ganz einfach eine vernünftige Lebensregel vorschlägt.

 

Das Gesetz

Die Auseinandersetzung des Paulus mit der Werkgerechtigkeit im Galaterbrief kann man als eine stark evangelische Auslegung der Erzählung verstehen, nach der man nicht der Versuchung erliegen soll, die dortige Forderung in soziale, kulturelle und politische Standards zu verwandeln, die wir selbst anerkennen. Denn wenn man die Worte Jesu nur zu einem neuen Gesetz macht, dann überhören wir die Warnung des Paulus. In einer evangelische Perspektive muss mit anderen Worten fragen, was die Erzählung für das Leben als Christ bedeutet, und mit der starken paulinischen Rhetorik ist zu fragen, was die Nächstenliebe für den bedeutet, der mit Christus für das Gesetz gekreuzigt und wieder auferstanden ist und befreit im Glauben daran, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Die Nachfolge Christi muss in meinen Augen bedeuten, dass man jedem als seinem Nächsten begegnet und stets danach fragt, ‚was ich tun kann´, und dabei der selbstrechten Reinheit widersteht. Nicht so sehr die Tat, sondern das Engagement ist gefordert. Das ist keine Werkgerechtigkeit, denn Handeln kann so viel bedeuten, zuweilen direkt, dass man geradezu nichts tut, aktiv passiv ist. Es kommt auf  die Balance eines jeden Christenmenschen an, wenn wir im Glauben eins geworden sind mit Christus, wohlgemerkt ohne Christus gleich zu sein. Der Christ hat seine Freiheit erhalten, lebt aber noch immer in der Welt und irrt in ihrem Blendwerk.

 

Das ewige Leben – eine Reise und eine Verwandlung

Die Geschichte vom Samariter ist die Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten, wie man das ewige Leben erbt. Aber wir erhalten keine Antwort, weil sich das Thema verändert und von der Nächstenliebe handelt. Es sei denn, das Leben in der Liebe wäre ein Bild für das Ewige. Im Lukasevangelium erhalten wir nie ordentlich Bescheid über das Ewige. Jesus spricht davon nicht konkret, sondern bildlich. Matthäus, Markus und Johannes bieten da auch keine große Hilfe, auch nicht der zweite Band von Lukas, die Apostelgeschichte. Und die Briefe bieten nur ein fragmentarisches Bild vom Leben nach dem Tode. Und auch wenn das apokalyptische Universum der Offenbarung des Johannes von nichts anderem handelt, kann man hier wohl keine abschließende Klarheit erwarten. Wir können wohl sicher sagen, dass die Ewigkeit ihnen allen auf dem Herzen liegt, und wir selbst spüren, dass das wichtig ist, aber paradoxerweise bekommen wir nie eine klare Auskunft.

Die Dogmatik hat lange von einem altkirchlichen mittelalterlichen Weltbild aus zwischen Oben und Unten unterschieden, zwischen Himmel und Hölle. Gott ist nicht mehr der gekrönte König des Himmels, aber das dualistische Weltbild ist zersprengt und stattdessen zu einem unendlichen und grenzenlosen Raum erweitert, in dem Gott alles ist und auch im Nichts gegenwärtig ist. Der Tod regiert nicht im Jenseits sondern mitten in dem Leben, das wir leben. Deshalb ist der biblische Bilderreichtum noch immer lebendig und genauso attraktiv für heutige Bewusstseinsformen. Die Ewigkeit, die Wiederkunft und das neue Jerusalem sind noch immer lebendige Bilder. Sie dürfen nur nicht konkret und wörtlich verstanden werden, denn dann wird das Weltbild unglaubwürdig und auch im evangelischen Sinne unhaltbar. Für mich ist nämlich fraglich, ob es jemals wörtlich verstanden worden ist. Es erscheint mir viel wahrscheinlicher, dass es eine autoritäre Auslegungstradition gibt, die das Verständnis eingeengt hat – aber darüber können wir

ein anderes Mal reden. Hier möchte ich vielmehr daran festhalten, dass jedes Reden vom Gedanken eines ´doppelten Ausgangs´ entweder ins Paradies oder in die Hölle und die Vorstellung von der ´Erlösung aller´ tief spekulativ sind, es sind historische Gespenster, die dem klaren Licht des Evangeliums nicht dienen. Das bedeutet nicht, dass Gott kein ewiger und allmächtiger Schöpfergott ist. Die Menschwerdung, der Tod und die Auferstehung Gottes sind selbst das Dogma davon, dass der Glaube der Verwandlung des Lebens dienen soll, aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit, aber in einem bildlichen Sinne, der eben erkenntnismäßig, existenziell und räumlich mehrdimensional ist. Wir leben in einem mehrdimensionalen Weltbild. Das christliche Leben ist in sich ein Dankgebet an Gott, um eins zu werden mit Christus. Das Evangelium ist eine formidable Erzählung davon, dass sich das Leben verwandeln kann, während man lebt. Die Inkanation ist die Botschaft davon, dass sich das christliche Leben in einer Welt von Körper und Geist entfaltet.

Das Motiv der Reise und der Verwandlung auf dem Wege ist ein tragendes Motiv im Lukasevangelium. Es besteht deshalb sehr wohl ein Sinn darin, dass die Frage nach dem ewigen Leben mit einem Gleichnis darüber beantwortet wird, dass das christliche Leben die Verwandlung ist von dem passiven Empfangen als ein Nächster hin zu aktivem Handeln als Nächster für den Anderen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus ist Jude, und er sieht sich selbst und seine Lehre als eine Erfüllung der Frage des Schriftgelehrten. 

 

Wie man jemandem gleicht

Gleichnisse sind kleine einfachen Erzählungen mit einer Pointe, die man verstehen kann. Es ist aber schwer, sie aufzubrechen und in ihren Einzelteilen zu erklären. Denn nicht die Einzelheiten sind entscheidend, sondern die Pointe. Die Gleichnisse haben oft die Funktion, den Glauben zu verbildlichen. Eine sichere Art, die Entstehung von Bildern zu demontieren, besteht darin, dass man die Erzählung in ihre Einzelteile zerlegt und das Gleichnis dazu bringt, dass es uns gleicht, auch wenn es in Wirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich der Frage: ´Wer ist dann mein Nächster?“ (Luk. 9,37). Die Frage ist vielleicht interessant, ob entweder der Samariter oder der Mann, der unter die Räuber fiel, Christus ist. Entweder sollst Du sein wie der barmherzige Christus, der dem Notleidenden hilft, oder du sollst sein wie der Samaritaner und den leidenden Christus in dem Menschen wiedererkennen, dem du begegnest. Beide Auslegungen sind erbaulich, aber das Gleichnis besitzt die Offenheit, die nicht die eine Auslegung der anderen vorzieht. Wenn wir uns selbst mit der einen Seite identifizieren, sind wir nahe dabei, ein moralisches Urteil über uns selbst und die anderen zu fällen. 

Ein Lackmustest für das eigene christliche Leben könnte die Frage sein, ob der barmherzige Samariter uns mit einer Offenheit der Auslegung hinterlässt, wo wir darauf verzichten, Recht zu haben, aber dennoch nach der Wahrheit für uns selbst suchen. Es gibt zu denken, dass Jesus von Gericht, Tod und Auferstehung reden kann, ohne moralisch zu werden. Denn auch wenn da nie eine moralische Belehrung ist, besteht für uns kein Zweifel, dass die Gleichnisse Jesu stets eine Forderung beinhalten: ´So geh hin und tu desgleichen!´ Amen.

 

____________

Übersetzt aus dem Dänischen von Eberhard Harbsmeier.



Pastor Rasmus Nøjgaard
Kopenhagen, Dänemark
E-Mail: rn(at)km.dk

(zurück zum Seitenanfang)