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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

18. Sonntag nach Trinitatis , 20.10.2019

Predigt zu Matthäus 22:34-46 (dänische Perikopenordnung) , verfasst von Leise Christensen

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Vielleicht eines der berühmtesten Worte in der Weltgeschichte und jedenfalls etwas, was wie kaum etwas anderes die Lehre Jesu definiert. Aber das ist nicht etwas, was Jesus selbst erfunden hat. Nein, es ist etwas, was er aus dem Alten Testament zitiert, aus dem Gesetz des Moses. Wenn man sich die Übersetzung aus dem Hebräischen und nicht der griechischen Version ansieht, die man Jesus in den Mund gelegt hat, wird man sehen, dass eine andere naheliegende Übersetzung der zweiten Hälfte des Gebotes, nämlich die, die sich auf die Nächstenliebe bezieht, sehr wohl auch etwas anders lauten kann, nämlich so: Du sollst deinen Nächsten lieben, denn er ist ein Mensch wie du! Ich denke, das ist eine wichtige Pointe, die zu beachten ist. Wir sollen unseren Nächste lieben wie uns selbst, ja, aber nicht im therapeutischen Sinne, wie man das zuweilen hört oder liest: Du kannst andere nur lieben, wenn du erst dich selbst geleibt hast. Das kann sehr wohl im psychologischen Sinne wahr sein – ich möchte mir da kein Urteil erlauben – aber das ist nicht das Anliegen Jesu oder des mosaischen Gesetzes, wenn von der Nächstenliebe die Rede ist. Worum es geht, ist dies: Man soll sehen, dass der andere Mensch eben ein Mensch ist und deshalb darauf Anspruch hat, geliebt zu werden. Der andere Mensch ist nicht ein Ding. Der andere Mensch ist nicht etwas, was uns nichts angeht. Der andere Mensch ist nicht überflüssig. Der andere Mensch soll nicht umgangen werden. Der andere Mensch soll nicht nur insoweit geliebt werden, wie ich mich selbst lieben kann. Der andere Mensch soll geliebt werden als ein Mensch, der in die Welt gekommen ist und Anspruch hat auf meine Liebe. Die grundlegendste Beziehung in der Welt ist die zwischen dem Ich und Du. Es gibt ein Ich und ein Du. Vielleicht kann man so weit gehen, dass man sagt, dass das Leben eben hier beginnt. Ich spreche nicht von heißen Liebesbeziehungen zwischen zwei Liebenden, ich spreche von der Beziehung, die die Menschen nicht nur zu einander haben können, sondern infolge Jesus haben sollen, die ganz grundlegende Beziehung, dass ein Mensch nur Mensch wird in der Begegnung mit dem Anderen. In einer Relation zu sein, einer Beziehung zu anderen, das ist es was den Menschen zum Menschen macht. Wenn das Ich einem Du begegnet, werden wir zu Menschen.

Vor vielen Jahren – da war ich noch eine ganz junge Frau – wohnte ich ein Jahr lang in London. Zu einem Zeitpunkt kam ich auf die Idee, Jiddisch zu lernen, also eine Sprache, die jüdische Immigranten vor allem aus ost- und zentraleuropäischen Ländern und Deutschland mit einander sprachen, eine Sprache, die über Jahrhunderte trotz schwieriger Bedingungen überlebt hat, denen die das jüdische Volk in Europa ausgesetzt war. Man kann nicht sagen, dass mein Vorhaben besonders erfolgreich war, aber ich denke doch oft an diese Zeit zurück. Ich hatte Kontakt zu einem älteren jüdischen Herrn, Pop, ja er war so alt, dass er ein Flüchtling war von den großen Progromen, den Judenverfolgungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Weißrussland und in der Ukraine. Er sprach noch immer Englisch mit einem starken osteuropäischen Akzent, und seine eigentliche Muttersprache war Jiddisch. Am ersten Tag, als ich ihn zum Unterricht aufsuchte, sollte ich ein einziges Wort lernen, nämlich das Wort Mensch. Nun hatte ich ein neusprachliches Abitur und hatte seinerzeit richtig viel Deutsch gelernt, und mein ganzes Leben hatte ich in einer Gegend gewohnt, wo man deutsches Fernsehen sehen konnte. Damals gab es nur ein dänisches Fernsehprogramm. Ich war etwas enttäuscht. Um Gottes willen, Mensch – dass wusste man ja, was das bedeutet. Nein, nun sollte er gefälligst mit etwas kommen, was etwas schwieriger war. Aber wie hatte ich mich doch geirrt! Was

er wollte, was dies: Er wollte mir das allerwichtigste Wort beibringen, das es gibt, das, wonach man streben muss, nämlich ein Mensch zu sein. Das ist nämlich nicht nur ein Mensch wie im Deutschen. Im Jiddischen ist das viel mehr – das ist ein Mensch in der Beziehung zu anderen Menschen, und der Ausdruck beschreibt die Art und Weise, wie man Mensch sein soll gerade in Beziehung zu dem anderen Menschen, das was man sein soll in Bezug auf das Du, dem man begegnet. Wenn man ein Mensch ist, ist man jemand, der seinen Nächsten sieht, der ein Mensch ist wie er selbst. Einer der sieht, dass der Mensch in der Beziehung zum anderen Menschen steht, dass der Mensch in einer Gemeinschaft existiert, in der man sein kann, weil sie getragen ist von Integrität, Liebe und Ehre, wie Pop hinzufügte. Es war Pop wichtig, mir dieses eine Wort beizubringen vor allen anderen Worten auf Jiddisch. Das verkörperte die ganze Lebensanschauung, die ihren Ursprung im mosaischen Gesetz hat und von der auch Jesus als Jude geprägt ist, nämlich dass du deinen Nächsten lieben sollst, der ein Mensch ist wie du selbst. Man konnte nur, sagte Pop, versuchen, Jiddisch zu lernen, wenn man dieses eine Wort Mensch verstanden hatte. Das war der Ausgangspunkt. 

So ist auch für uns das Gebot der Nächstenliebe der Ausgangspunkt. Hier können wir uns Hoffnung machen, Mensch zu werden, auch wenn wir es nicht sind. Auch wenn wir zuweilen das Gegenteil sind, nämlich Unmenschen. Dann ist Jesus Mensch für uns. Der englische Dichter John Done schrieb im 17. Jahrhundert: No man is an island – kein Mensch ist eine Insel. In diesem kurzen Satz liegt dieselbe Auffassung, dass ein Mensch immer in der Beziehung zu einem anderen Menschen oder zu anderen Menschen steht. In einer Gemeinschaft. Man kann glauben, dass man unverbunden in der Welt stehen kann – dass man eine Insel sein kann, und viele halten es für ein Ideal, denn dann bestimmt man selbst, wie mir einmal jemand sagte. Das kann man sehr wohl, aber nicht ohne etwas Wichtiges zu verlieren, z.B. das Menschsein. Wenn man es nicht wagt zu lieben oder überhaupt in Beziehung zu anderen Menschen zu stehen, dann trocknet man aus. Denn in der Liebe und der Freundschaft und der Gemeinschaft lebt das Leben selbst. Dort manifestiert sich die Liebe Gottes – des Gottes, den wir auch lieben sollen und den wir nur lieben können, indem wir den Mitmenschen lieben, der ein Mensch ist wie du. Deshalb sind die Gebote so eng verbunden, dass wir sie das doppelte Liebesgebot nennen. 

Die heutige Gesellschaft – vielleicht wohl im Unterschied zur Gesellschaft von John Done im 17. Jahrhundert – bewirkt, dass wir in der Tat als Menschen leben können, die einsame Inseln sind. Wir können an uns selbst genug haben, unserer Wohnung, unserem Auto, unserer Arbeit und der Karriere, ohne den Mitmenschen für anderes zu brauchen als vielleicht für die Stufen der Karriere – ja wir glauben dann, dass das so sein kann. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft, wo jeder sein Leben führen kann ohne sonderliche existenzielle Einbeziehung der Gesellschaft, kann die Gemeinschaft unheilbar Schaden erleiden. 

Ich sehe viel Gutes in unserer Gesellschaft; ich sehe viele phantastische Zusammenhänge und Möglichkeiten; ich sehe Menschen in Beziehungen und Fortschritt. Aber ich sehe auch Einsamkeit, Mangel an Beziehungen, das Fehlen eines Du zum Ich. Das man in seinem Dasein kein Mensch sein darf für andere oder einem Menschen begegnen darf. Das Projekt in der heutigen Gesellschaft ist nicht das Menschsein oder die Begegnung mit einem Menschen im Alltag. Das Projekt ist, sich selbst zu verwirklichen - um jeden Preis. Jesus erinnert uns heute daran, dass wir jeder für sich ein Mensch sein und das Menschsein anderer annehmen sollen, anderen die Möglichkeit geben sollen, ein Mensch für uns zu sein. Ein Du für unser Ich. Wenn das ganz unmöglich ist und wir in den Anforderungen und dem Lärm des Alltags und unserer Selbstsucht versanden, dann dürfen wir darauf vertrauen, dass Jesus dieser Mensch für uns ist. Er, der uns alles gab, damit wir es einander weitergeben. Er, der der Ursprung der Liebe ist. Er leiht uns einen Zipfel des Reiches Gottes, damit wir einander als ein Mensch sehen können. Anders kann es nicht sein für den Gott, der Liebe ist, der aus Liebe schafft, Liebe wünscht und der will, dass wir unseren Nächsten lieben, der ein Mensch ist wie ich selbst. Amen.



Pastorin Leise Christensen
DK 8200 Aarhus N
E-Mail: lec(at)km.dk

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