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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis , 27.10.2019

Einmal in der Woche Fisch und Brot
Predigt zu Johannes 6:1-15, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den 19.Sonntag n.Tr. steht Joh 6,1-15:

„Danach ging Jesus weg ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt. Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden. Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele? Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer. Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten. Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren. Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein.“

Liebe Gemeinde,

Kinoabend!

Fünfmal sind Nachrichten im Messenger hin- und hergeflitzt. Dann fiel die Entscheidung für den Blockbuster, der seit zwei Wochen im Cineplex lief. Alle Freunde aus der Clique trafen sich vor dem Haus, in dem Susanne wohnte. Sie fuhren mit zwei Autos und suchten im Szeneviertel endlos nach Parkplätzen. Sie standen eine Viertelstunde in der Schlange, um die vorbestellten Tickets abzuholen; sie kauften große Pappbecher mit Cola, Eiswürfeln und Strohhalmen, Schachteln mit gesalzenem Popcorn. Die Gruppe, acht Personen, konnte sich erst entspannen, als alle weit hinten im Kinosaal in Reihe Sechs in der Mitte Platz genommen hatten. Erst dann versanken sie in den roten Samtpolstern der Kinosessel, stellten die Colabecher in den Getränkehalter und futterten eine Handvoll Popcorn, bis die Werbung begann. Ach, und das Handy unbedingt ausschalten. Während der Werbespots für Sparkassen und Autoverleihfirmen gingen die Gespräche weiter. Sie verstummten erst, als die Filmtrailer gezeigt wurden. Da könnte man nächste Woche auch reingehen.

Liebe Gemeinde, es gehen zwar immer weniger Menschen ins Kino, die früheren Kinogänger schauen sich lieber auf dem Laptop Serien von Netflix an und holen sich das Bier aus dem heimischen Kühlschrank. Aber ein harter Kern von unterhaltungssüchtigen Menschen möchte das Kino nicht missen: riesige Leinwand, bessere Lautsprecher und die zufällige Gemeinschaft von Menschen, die sich nicht kennen: Kinoliebhaber, Pärchen, Cliquen, Zwischenrufer, Popcornraschler. Man kann sich in der Dunkelheit nicht sehen, aber jeder spürt es bis in die Fingerspitzen, wenn alle gemeinsam wie gebannt auf die Leinwand starren. Dann ist der Film so spannend, daß selbst die nervigsten Störer vergessen, mit der Nachbarin zu tuscheln.

Die Dunkelheit im Kinosaal berührt auch den Alltag der Kinobesucher, die sich plötzlich darauf konzentrieren, was auf der Leinwand an Liebe, Schlachten, Entlarvung geschieht. Die andere, die Filmgeschichte, läßt die eigene, die Lebensgeschichte vergessen: Routinen, Sorgen, Grübeleien bleiben für zwei Stunden ausgesperrt, nein, abgedunkelt. Kino – das sind Gefühle, Rührung, Spannung, Entsetzen, manchmal ein paar Tränen, die in der Dunkelheit kein unbekannter Sitznachbar bemerkt.

Filme, die Publikumserfolge werden sollen, werden mit großem technischem Aufwand gedreht. Computer sorgen dafür, daß Menschenmassen größer, Explosionen gewaltiger, Landschaften monumentaler wirken. Damit die Filme ihre Zuschauer in voller Aufmerksamkeit gefangen halten können, müssen die Szenen immer spektakulärer, phantastischer und atemberaubender ausfallen. Denn wer sich langweilt, denkt zurück an den eigenen Alltag und fängt an zu grübeln.

Einige Filmserien haben ihren eigenen Mythos geschaffen. Am 18.Dezember, eine Woche vor Weihnachten, feiert „Starwars Folge IX. Der Aufstieg Skywalkers“ seine Premiere. Dann werden verkleidete Jedi-Ritter und kostümierte Darth Vaders die Kinosäle stürmen. Möge die Macht mit dir sein! Das eint Harry Potter und die Starwars Crew: Am Ende werden sich die Guten stets gegen die Voldemorts und Darth Vaders durchsetzen. Möge die Macht mit dir sein! Wer kein Fan ist, bemerkt eine gewisse Ironie, aber auch eine große Portion religiöses Wunschdenken.

Auch Christen haben einmal im Alltag einen ähnlichen Gruß gebraucht: Der Friede Gottes sei mit dir. Bis in die Gegenwart freuen sich Menschen an dieser Segensformel in Gottesdiensten. Die Gemeinsamkeiten zwischen Kino und Glauben hören damit nicht auf: Die Filmserie stiftet an zum Glauben an das Gute, das sich nach langem Kampf gegen die Macht des Bösen durchsetzen wird. Wer dem Gott der Bibel glauben will, der braucht die Geschichten aus dem Leben des Jesus von Nazareth. Er predigt, er legt die Schriften der Bibel theologisch aus, er heilt Kranke, Blinde, Taube und Stumme, er treibt Geister aus. Ja, und er vermehrt Brot und Fisch, wie in der Predigtgeschichte.

Kein Kinogänger wird gegen die phantastischen Elemente in „Starwars“ Einwände erheben, denn jeder hat den Unterschied zwischen Leinwand und Wirklichkeit verinnerlicht. Aber die Brot- und die Fischvermehrung – in welchem Sinne ist sie ‚wirklich‘?

Bevor ich versuche, diese Frage zu beantworten, will ich auf eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Filmen und biblischen Geschichten hinweisen. Jeder Film (und jede Erzählung, jeder Roman, jede biblische Geschichte) rückt bestimmte Aspekte des Geschehens in den Vordergrund, während anderes vernachlässigt wird. Regisseure sind in der Regel an spektakulären Bildern interessiert, während Erzähler wie der Evangelist Johannes andere Hintergedanken – weisheitliche und theologische – verfolgen. Der Evangelist Johannes gilt geradezu als der Philosoph unter den Evangelisten. Es gilt also, den Blick ganz genau auf die Details zu richten. Was läßt er weg? Was betont er? Was interessiert ihn überhaupt nicht? Wo setzt er Akzente?

Beim mehrfachen Hören der Geschichte der Speisung der Fünftausend fällt doch sehr auf, daß Johannes zwar von einem großen, staunenswerten Wunder erzählt, aber kein einziges Wort darauf verschwendet, welche Methoden und Techniken Jesus beim Wunder angewendet hat. Das unterscheidet den Mann aus Nazareth vom jugendlichen Harry Potter, der im Internat Hogwarts jahrelang Zaubersprüche paukt und magische Methoden einübt.

Jesus führt das Brotwunder nicht als Selbstzweck vor. Er will nicht angeben, er will sich nicht präsentieren, er will keine Follower bei Instagram und Facebook generieren. Darum wendet der Evangelist den „technischen Details“ des Brot- und Fischewunders keine Aufmerksamkeit zu. Und es ist daraus zu schließen: Seine Nachfolger können dieses Wunder nicht nachahmen, selber machen oder kopieren. Durch die Geschichte zieht sich eine geheimnisvolle Schranke eingebaut, die der Erzähler respektiert. Das eigentliche Wunder bleibt völlig im Dunkeln. Und das wirft ein Licht auf die Frage, ob diese Geschichte der Speisung der Fünftausend ‚wirklich‘ so geschehen ist. Sicher verläßt Johannes damit die Bereiche dessen, was naturwissenschaftlich wahrscheinlich und voraussagbar ist. Aber er schafft mit dem Erzählen dieser Geschichte einen Raum der Achtung und des Respekts vor dem Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist. Das hat mit Wunderglauben nichts zu tun. Ich bin überzeugt, daß Johannes seiner Leser und Hörer nicht zu einem solchen übernatürlichen Glauben überreden wollte. Er verfolgte einen anderen Zweck, auf den ich sofort komme. Johannes, der philosophische Evangelist war eher ein früher Anhänger des Philosophen Hamlet, der darüber nachdachte, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gebe als sich die „Schulweisheit“ träumen läßt (Shakespeare, Hamlet, Akt I, Szene 5). Der Raum jenseits der Schulweisheit wird nicht aufgeklärt, sondern respektiert.

Als zweites fällt doch sehr auf, daß Johannes hier wirklich eine Geschichte erzählt. Geschichten gelten stets dem Ungewöhnlichen, Auffälligen. Routinen und Gewohnheiten muß niemand erzählen, darüber wissen alle Bescheid. Das Johannesevangelium ist ansonsten berühmt für die vielen (theologischen) Reden, die Jesus hält. Es ist einzuräumen, daß dieses sechste Kapitel des Evangeliums nach der Geschichte vom Brotwunder noch eine ausführliche Rede Jesu über das Brot des Lebens bereithält. Aber die Wundergeschichte ist von ausdrücklich erwähnten theologischen Elementen beinahe ganz frei. Diese finden sich in Ober- und Untertönen, auch darauf komme ich gleich. Jesus redet mit den Jüngern. Er läßt sich die Situation der Leute schildern. Er gibt einige kurze Anweisungen. Die Leute essen Fisch und Brot. Die Reste werden gesammelt. Das war es.

Glaube und Gottesbezug finden sich in den verwendeten Elementen: im Brot und beim Fisch. Sie sind Nahrungsmittel und zugleich Symbole, über die die zeitgenössischen Leser Bescheid wußten. Wenn das Stichwort Brotwunder fiel, so wußten die ersten Hörer sofort, daß Gott mehrfach mit Speisewundern in die Geschichte des Volkes Israel eingegriffen hatte. Als die Israeliten durch die Wüste wanderten und die Vorräte ausgingen, beugte Gott mit dem Mannawunder einer Hungersnot vor. Und schon der Prophet Elisa (2Kön 4,44-46) vermehrte Brot, um Menschen vor einer Hungerepidemie zu bewahren. Und schließlich: Obwohl Johannes als einziger Evangelist nicht über das letzte Abendmahl schreibt, so ist in diesem Brotwunder doch mindestens eine indirekte Anspielung auf das Leben Jesu, auf das Abendmahl, auf den Verrat des Judas und auf Jesu Kreuzigung und Auferstehung zu sehen.

Die Fische geraten bei all diesen Brotgeschichten leicht aus dem Blick. Fische schmecken nicht nur gut, sie sind nicht nur nahrhaft (Omega-3-Fettsäuren), sondern sie tragen auch symbolische biblische Bedeutung. Jünger Jesu arbeiteten im ersten Beruf als Fischer, und nach Jesu Auferstehung erzählt Johannes davon, daß die aus Jerusalem geflohenen Jünger am See Tiberias, also dort, wo auch das Brot- und Fischwunder stattfand, wieder fischen gehen. Sie kehren erfolglos von ihrer Fangfahrt zurück, aber ein Fremder schickt sie ein zweites Mal aufs Wasser, und danach fangen sie 153 Fische. Der Fremde ist niemand anderes als der auferstandene Jesus von Nazareth (Joh 21,1-14).

Der Evangelist Johannes erzählt Geschichten von Jesus von Nazareth, und er gibt seine Trostreden wieder. Das ist aber mehr als die Schilderung von ‚Wirklichkeit‘. Johannes schafft eine symbolische Welt, eine symbolische Ordnung, die Symbole wie Brot und Fisch, Orte wie Jerusalem und den See Tiberias und auch die Zeit, in diesem Fall kurz vor dem Passafest, zusammenfügt zu einer Lebens- und Bedeutungswelt des Glaubens von ganz eigener Art. Alles ist auf eine schlichte theologische Erkenntnis ausgerichtet: Jesus ist wie Elisa ein neuer Prophet, er ist der neue Mose, er ist der Heiland, der die Menschen, Heiden wie Juden rettet. 

Im Glauben verständlich wird diese Geschichte erst, wenn man die theologische Symbolik und das erzählte Geschehen zusammen denkt. Und dann fällt noch mehr auf: Die Menschen, für deren Nahrung Jesus gesorgt hat, haben sich auf dem Gras am See gelagert. Als sie begreifen, was für ein Wunder ihnen mit Fischen und Broten geschehen ist, kommt es zu einer Art Handgemenge des Glaubens. Sie wollen denjenigen, der für das Wunder gesorgt hat, nicht mehr loslassen. Ist ja immer gut, einen Wundertäter in der Nähe zu haben, als Bestandteil des eigenen Netzwerks, als Telefonnummer in der Adressliste. Aber Jesus zieht sich zurück. In der Brotwundergeschichte steigt er auf den Berg, zurück in die Einsamkeit. Er will sich nicht verfügbar machen. Und ich höre daraus: Wer glaubt, dem steht Gott nicht einfach so zur Verfügung: Wunder auf Abruf, Gebetserhörung garantiert. Gott verfolgt mit den Menschen seine eigenen Pläne, vor denen niemand Angst haben muß, weil sie stets aus Barmherzigkeit geboren sind und mit Konsequenz zu einem guten Ende in Gottes Reich führen. Gott steht nicht zur Verfügung, statt dessen kommt er auf die bedürftigen Menschen zu. Auch Wunder stehen nicht einfach nach Bedarf zur Verfügung, sie sind Übergänge, Vorwegnahmen des Reiches Gottes, barmherzige Zeichen.

Aus der Speisung der Fünftausend läßt sich lernen, daß Menschen hungrig sind, nicht nur nach Kalorien, Vitaminen und Spurenelementen, sondern nach geistlicher Nahrung, nach dem Brot des Lebens. Eingesperrt in die kahlen Wände ihres Alltags brauchen sie Zeichen der Nähe Gottes. Ohne Glauben versinkt der Alltag in trostloser Routine, in Langeweile und Lethargie. Zahlen und Wiederholungen zermürben die Gewißheit, daß das Leben mehr ist als die Dusche am Morgen, die Stechuhr und die Flasche Export nach dem Achtstundentag. Alltag und Routine benötigen Unterbrechung, für die Unterhaltung im Kino, für den Glauben im Abendmahl und im Gottesdienst. Jeder spürt den Wunsch, sich wie die Fünftausend am See Tiberias einmal in der Woche ins Gras zu legen und zuzuhören, zu singen und zu beten. Jesus zeigt sich für einen Moment, mit dem Essen der Fische, in den Brotkrumen, im Gras, wo es sich die Menschen bequem machen, auch im kühlenden Wasser des Sees. Jeder Zweifler und jede Beterin brauchen solche Momente der Nähe Gottes. Und er schenkt sie uns. Das ist ein Wunder. Amen.

 

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Nachbemerkungen:

Die Predigt beruht auf einer Predigtmeditation, die ich vor einigen Jahren mit einem Kollegen verfaßt habe:

Dieter Splinter, Wolfgang Vögele, Fisch, Brot, Gras, Wasser - oder: Wird einmal ein Wunder geschehen? Predigtmeditation über Joh 6,1-15, in: W.Gräb (Hg.), Predigtstudien für das Kirchenjahr 2014-2015, Perikopenreihe I, Zweiter Halbband, Freiburg 2015, 82-88

Zum Zusammenhang von Kino und Glauben habe ich mich in zwei Essays geäußert, die im Internet leicht zu finden sind:

Wolfgang Vögele, Film ab - Predigt läuft. Ungeordnete Beobachtungen eines Kinogängers, der gelegentlich auf der Kanzel steht, tà katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, H.86, 2013, http://www.theomag.de/86/wv06.htm

Ders., Bewegter und unbewegter Christus. Bemerkungen über exemplarische Christusdarstellungen in Malerei und Film, tà katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, Heft 114, August 2018, https://www.theomag.de/114/wv045.htm

 

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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

 

 



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden- Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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