Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

20. Sonntag nach Trinitatis , 03.11.2019

Predigt zu Matthäus 5:1-12 (dänische Perikopenordnung) , verfasst von Margrethe Dahlerup Koch

(In Dänemark wird dieser erste Sonntag im November als Totengedenktag begangen)

 

Sie haben den zentralsten und öffentlichsten Platz in der ganzen Gemeinde, unsere Toten. Der gemeinsame Ort, den wir alle besuchen dürfen und der, jedenfalls in unseren Gemeinden, nie geschlossen ist. Das Tor ist Tag und Nacht geöffnet. Das Stück Erde, das seit alter Zeit der gemeinsame Treffpunkt der Gemeinde war und an dem öffentliche Bekanntmachungen stattfanden. Dieses Stück Erde, der Friedhof, ist der Ort der Toten.

In anderen Kulturen ist das anders. Da versteckt man die Toten. Im alten Rom lagen die Grabstätten außerhalb der Stadtmauer. In anderen Ländern errichtete man ganze Städte für die Toten – weit weg von den Lebenden. Denn die Toten verschreckten die Lebenden. Und die Toten konnten die Lebenden stören. Man war also genötigt, den Toten zu opfern oder ihnen in anderer Weise Ehrfurcht zu erweisen, so dass sich im Todesreich ruhig blieben und die Toten nicht mit Fragen bedrängten oder terrorisierten. 

Und deshalb war es schockierend und ganz ungewohnt, was die ersten Christen in Rom taten, als sie damit begannen, sich zu versammeln und Gottesdienste zu halten. Denn sie trafen sich und feierten Gottesdienste auf den Friedhöfen, den Friedhöfen, die damals unter der Erde vor den Mauern der Stadt lagen. Dort, in den unterirdischen Gängen, die man noch immer besuchen kann, wenn man in Rom ist, dort unten feierten die ersten Christen ihre Gottesdienste. Sie taten es, weil es im Verborgenen geschehen sollte. Sie taten das aber auch, weil sie zeigen wollten, dass die Toten mit zu ihrem Leben gehörten. Die Toten, die in vielen Fällen Märtyrer waren – Menschen, die ihr Leben für ihren Glauben hingegeben hatten. Leute, die sich dem Kaiser und der Weltmacht nicht beugen wollten, weil sie gehört und geglaubt hatten, dass ein Mensch Gott gehört und sich deshalb keinem anderen beugen soll als Gott. Menschen, die mit ihrem Leben etwas darüber gezeigt hatten, was Glaube ist, diese Menschen gehörten hinein in das Leben der Lebendigen. Die Toten sollten die Lebenden nicht mit Angst und Furcht, sondern man sollte der Toten mit Freude und Dankbarkeit gedenken. Und was sie gegeben hatten, sollten die Lebenden mit sich weitertragen in dem Leben, das sie nun zu leben hatten. Deshalb feierten die lebenden Christen dort Gottesdienst, mitten unter den Toten.

Und das tun wir noch immer. Auch unsere Vorfahren haben unseren Raum für den Gottesdienst mitten unter den Toten angebracht. Die Kirche liegt mitten auf dem Friedhof. Die wenigsten von unseren Toten haben ihr Leben für ihren Glauben hingegeben. Auf unseren Friedhöfen gibt es wohl nicht viele Märtyrergräber. Aber das bedeutet nicht, dass unsere Toten uns nicht auch etwas darüber gelehrt haben, was Glaube ist und wer Gott ist.

„Wir haben den Auftrag von Gott zu zeugen, jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, einige mit dem Mund, andere mit den Händen, andere mit beidem … Von Gott zeugen, das bedeutet vor allem, so zu leben, dass das Leben kostbar wird für andere und dass es das Gute in ihnen stärkt“. So sagt Kaj Munk in einer Predigt, die er gehalten hat, kurz nachdem er seine Mutter beerdigt hatte. 

Von Gott zeugen – das bedeutet so zu leben, dass das Leben für andere wertvoll wird und das Gute in ihnen stärkt. An Allerheiligen denken wir an die Menschen, die das getan haben und die nun tot sind, wir danken

ihnen und freuen und darüber, dass sie Teil unseres Lebens waren. Jeder von uns kann da Namen nennen, wer diese Menschen sind. Die unser Leben wertvoll gemacht haben – indem sie uns gezeigt und erzählt haben, dass wir ihnen viel bedeutet haben. Ein Vater oder eine Mutter, ein Geliebter, ein Ehepartner, ein Kind, ein Freund, eine Großmutter oder ein Großvater. In je ihrer Weise haben sie uns etwas davon gezeigt, wer Gott ist, indem sie treu waren, liebevoll, immer an uns festgehalten haben. Indem sie uns früh morgens liebevoll geweckt haben, als wir klein waren und hinaus mussten in die winterliche Kälte zu einem neuen bedrohlichen Schultag. Oder indem sie später in unserem Leben treu mit Werkzeug und einem Anhänger und viel Zeit behilflich waren. Oder indem sie unser Lieblingsessen zubereiteten, wenn wir zu Besuch kamen, auch als wir schon so alt waren, dass unsere Geschmacksnerven sich längst verfeinert hatten.

Aber auch die anderen haben uns etwas von Gott gezeigt. Auch die, die nichts für uns tun konnten. Die Leute, wo auch andere Gefühle als tiefe Dankbarkeit dazugehören, wenn wir uns trafen. Die schwierigen Leute, die Schwachen, die Anspruchsvollen. Die das Gute in uns stärkten, indem sie unsere Fürsorge beanspruchten, unsere Nachsicht und Ausdauer. Sie zeugten auch von Gott. Denn von wo soll sonst die Kraft kommen, Tage lang an einem Sterbebette zu sitzen, wenn nicht von den Kräften Gottes, die den Angehörigen zuteilwerden? Woher, wenn nicht von Gott, kommen die Nachsicht und der Humor, die unverzichtbar sind, wenn man todmüde ist und ohne Hoffnung auf Veränderung bei dem Dementen? Woher kommt der Mut loszulassen und aufzugeben, wenn man einem Menschen gegenübersteht, der selbstdestruktiv ist, oder einem Menschen, den man aus anderen Gründen weder mit Worten noch Zärtlichkeiten erreichen kann? Wenn man seine eigene Ohnmacht und die des anderen nicht in die guten und starken Hände Gottes legen würde, würde man es dann jemals wagen, loszulassen und aufzugeben?

Und dann sind da auch die, mit denen man sich nie ordentlich ausgesprochen hat und von denen man sich nicht ordentlich verabschiedet hat. Die, wo man keinen guten und eleganten Abschluss gefunden hat. Die haben uns vielleicht etwas über Gott gelehrt, indem sie uns etwas darüber gelehrt haben, dass unser Vermögen begrenzt ist, dass es Konflikte gibt und ungelöste Rätsel, die nur Gott lösen kann. Da sind Vorwürfe, die man auf sich beruhen lassen muss, und Kämpfe, die man verloren geben muss – um des Lebens willen.

„Selig sind …“ – neun Mal erklangen diese Worte damals auf dem Berg, als Einleitung der Predigt Jesu. Und die, die er selig nennt, das sind nicht die Toten. Es sind ganz lebendige Menschen. Selig, das ist etwas, was man ist. Hier und jetzt. Und die, die er selig nennt, ja das sind die, die leben, wie er selbst gelebt hat. Alle neun Seligpreisungen könnten Jesus beschreiben: Arm, leidtragend, sanftmütig, nach Gerechtigkeit dürstend, barmherzig, reinen Herzens, Frieden stiftend, verfolgt, verhöhnt. Wer so lebt, den nennt er selig. Uns, wenn unser Leben so ist, nennt er selig. Uns, in dem feuchten, schweren novembergrauen Zeug und Gemüt, uns die wir keine Lust haben zu etwas anderem als melancholisch  in die Flamme einer Kerze oder das blaue Licht eines Bildschirms zu blicken. Uns nennt er selig - und ruft uns hinaus in ein Leben wie seins. Selig sind sie – und seid ihr – arme, leidtragende, nach Gerechtigkeit dürstende, verfolgte, verhöhnte, sagt Jesus. Nicht weil daran irgendetwas Spaß macht. Sondern weil es das Leben Jesu ist. Und damit das Leben, wo Gott sich in der Welt zeigt. So wie wir Gott begegnet sind und noch immer begegnen, wenn wir Menschen begegnen, die unser Leben wertvoll machen und das Gute in uns stärken. Überall, wie diese Begegnungen stattfinden, geschieht das Reich Gottes, sagt Jesus. Da ist Gott gegenwärtig, und da geschieht sein Wille auf Erden wie im Himmel.

Im Spätsommer war ich mit einer Gruppe von Minikonfirmanden auf dem Friedhof. Einer der Gräber gehörte einem Ehepaar, die 11 Kinder hatten. „Denkt, 11 Kinder bekommen zu haben“, sagte ich. Und die Reaktion einer der zehnjährigen kam prompt: „Was haben die für Freude aneinander gehabt“. 

Die Freude. Sie sehen vor allem anderen. Das ist es, was Gott tut. Und das ist es, was selige Augen tun. Wir werden diesen Gottesdienst mit der Freude beschließen, die in dem 425 Jahre alten Lied des dänischen Liederdichter Sthen „Herr Jesu Christ, mein Heil du bist“1 zum Ausdruck kommt. Ein Lied, das Strophe für Strophe eindringlich das Vertrauen darauf predigt, das unser Leben und unser Tod die Sache Gottes sind. Der Gott, der sich in Jesus offenbart hat. Und dann schließt das Lied mit einem Gebet darum, dass wir so leben mögen, dass auch wir Jesus und sein Leben in unserem Leben miteinander wiedererkennen. So dass wir in der Freude Gottes und nicht unserer eigenen Furcht und Sorge und Selbstbezogenheit sein und leben sollen: „Verleih, o Gott, dass auf dein Wort wir leben so zusammen, dass wir auch dich im Himmelreich, mög‘n allzugleich anschaun mit Freuden. Amen!“2 Wir Lebende und alle unsere Toten. Amen



Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
Ringkøbing, Dänemark
E-Mail: mdkoch(at)mail.dk

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