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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 10.11.2019

Vom Meer und von dem, was sonst meine Seele berührt
Predigt zu Lukas 6:27-38, verfasst von Konrad Glöckner

Kanzelgruß:

Gnade sei mit Euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus Amen.

 

Hören wir auf Worte, aus einer Predigt Jesu, die uns Lukas im 6. Kapitel seines Evangeliums überliefert hat:

(Lesung: Lk, 6, 27-38)

 

Liebe Gemeinde,

Das Meer hat Kraft, es macht etwas mit mir. Ich hatte nicht vor zu verweilen, aber nun stehe ich still. Das Licht und die Weite haben mich eingenommen, überwältigt. Das Meer berührt meine Seele. Ganz tief spricht es mich an.

Jemand anderes, ein junger Mann, findet sich auf einem „Ozean der Trauer“ wieder. Urplötzlich hat er seine geliebte Frau, die Mutter seiner drei Söhne verloren, – in einem Akt sinnloser Gewalt, dem Terroranschlag vom 22. März 2016 in Brüssel. Was macht dieses Meer mit ihm, was raunt es ihm zu? „Vergeltung!“? Und lässt er sich mitreißen von den Wogen des Hasses? Fast können wir es hören, zu gut kennen wir diese Stimme.

Mohamed El Bachiri, so heißt dieser Mann, ein Muslim, findet andere Worte, erst leise, dann laut. Er appelliert an die Liebe, fordert uns auf, die Spirale des Hasses zu durchbrechen. Er weiß, dass dies ein Kampf ist und so spricht er vom Dschihad, seinem „Dschihad der Liebe“. Einen anderen Weg weiß er nicht, denn wer mit Gewalt antwortet, macht den gleichen Fehler und der Hass trägt den Sieg davon. Von dieser Botschaft ist er durchdrungen. Mit vergleichbaren Worten hat es ein Jahr zuvor Antoine Leiris gesagt, der beim Attentat in Paris seine Frau verlor: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“.

Starke Zeugnisse voller Glaubwürdigkeit! Menschen, die zurückgeworfen wurden auf das Innerste ihrer selbst, hören nicht auf die Stimmen, die sich ihnen anbiedern und laut aufdrängen, weil eine andere Stimme aus ihrem Herzen spricht.

Welche Worte haben sich in unser Gemüt eingeschrieben? Welche Worte lassen wir zu? “Liebt eure Feinde“ sagt Jesus und schränkt seinen Adressatenkreis ein: „sage ich Euch, die Ihr zuhört!“ Hören wir zu?

Um Gottes Wort zu hören, bin ich in die Kirche gekommen, habe meinen Alltag durchbrochen. Aber bin ich bereit, mich von Jesu Wort bewegen und ändern zu lassen: „Wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar, und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht“? Förmlich spüre ich noch den Schlag, der mich getroffen hat, das Unrecht, das mich so tief verletzt hat und das seither in mir nagt. Ich habe keine Möglichkeit mich ins Recht zu setzen. Das Gespräch wird verweigert, viel zu stark ausgeprägt sind die Selbstgefälligkeit und die Selbstgerechtigkeit meines Gegenübers. Aushalten? Ja! Runterschlucken? Auch! Aber meine andere Backe hinhalten? Soll der Täter dauerhaft über das Opfer triumphieren?

Nein, nicht Unterwürfigkeit fordert Jesu, sondern er zeigt einen Weg auf, wie entrechtete Menschen ihre Würde bewahren können, machen Ausleger dieser Bibelworte mir deutlich. Wer, ins Gesicht geschlagen, sich nicht wegdreht, sondern seinem Peiniger auch die andere Wange zuwendet, richtet sich auf und schaut ihm direkt ins Gesicht. Dies ist ein Akt gewaltfreien, passiven Widerstandes, der den Täter mit seinem Unrecht konfrontiert. Gebe ich zu dem mir genommenen Mantel auch noch den Rock mit hinzu, konfrontiere ich denjenigen, der mir Gewalt tut, mit der Nacktheit und Schutzlosigkeit, in die er mich stößt. Die Konsequenz seines Tuns muss er sehen. Erspart bleibt ihm dies nicht. Nein, nicht zur Unterwürfigkeit ruft Jesus auf, sondern dazu, sich aufzurichten und sich der eigenen Würde und Kraft bewusst zu sein.

Sich aufrichten! Ich denke zurück an die Tage vor 30 Jahren, als wir aus empfundener Ohnmacht aufbrachen und den Mut fanden, auf die Straße zu gehen, um einem System der Lüge, des Misstrauens und der Unfreiheit offen entgegenzutreten. „Keine Gewalt“ war der Ruf, der uns miteinander verband. Er ging von den Kirchen aus. Er hatte seine Wurzeln durchaus in der Berg- oder Feldpredigt Jesu und trug in sich die Kraft, dass schließlich am 9. November eine die ganze Welt trennende Mauer einfiel.

Wie tief hat sich uns diese Erfahrung eingeprägt? Welche Worte bewegen uns heute, so dass wir erneut Mauern aufrichten, um Menschen fernzuhalten, die wir in ihrem Anderssein und in ihrer Fremdheit als Bedrohung erleben? Was bewegt uns, wenn wir unmittelbar mit solcher Armut konfrontiert werden, die uns aufruft, zwar nicht unsere Röcke zu geben, wohl aber unsere Mäntel zu teilen? Menschen, die Verlustängste schüren und Grenzen errichten wollen, heischen sich an, den Aufbruch der Wende vollenden zu wollen. „Das Boot ist voll“, hören wir – und so ertrinken die Menschen im Mittelmeer.

„Wir sind alle Brüder“, sagt Mohamed El Bachiri angesichts des Verlustes seiner Frau. „Ist jemand, der so etwas tut, auch ein Bruder?“ „Ja, das ist auch ein Bruder, aber ein Bruder, der einen falschen Weg gewählt hat. Als Mensch bleibt er dein Bruder …“ sagt er.

„Als Mensch bleibt er dein Bruder!“ An einem 9. November fiel nicht nur die Mauer. Es fielen auch Steine. Massenhaft gingen Scheiben jüdischer Läden und von Synagogen in Bruch. Feuer entbrannte und Hass loderte auf, gerichtet gegen Menschen, die bis dahin als Teil der Gemeinschaft galten. „Ist jemand, der so etwas tut, auch ein Bruder?“ Vielleicht haben wir es vergessen? Verdrängt? Aber auch wir leben davon, dass Menschen uns vergeben und den Mut zu dem Bekenntnis finden, dass es eine tiefe Zusammengehörigkeit gibt, die uns Menschen verbindet, - eine Zusammengehörigkeit, die wir uns nicht aussuchen und der wir nicht ausweichen können: „Als Mensch bleibt er dein Bruder. Und deine Schwester…“.

Solchen Mut zu haben, den Anderen als Menschen zu sehen, als Menschen, der jenseits all seines Tuns und Lassens von Gott geliebt und bejaht und nur darum am Leben ist – dazu ruft Jesus von Nazareth uns auf. Er selbst hat Gott seine grenzenlose Liebe zu uns Menschen geglaubt, sie als Grund seines eigenen Lebens an- und wahrgenommen und hat sich von dieser Liebe bewegen lassen. Er hat sich Gott geöffnet, soweit, dass wir Gott in ihm finden. Welches Menschenbild machen wir stark, wenn wir von Mitmenschlichkeit reden, davon, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind. Seht welch ein Mensch sagt Pilatus mit Blick auf Jesus. Wahrer Mensch und wahrer Gott, so sagen die Kirchenväter. Glauben wir das, dass uns in Jesus von Nazareth das Bild wirklichen Menschseins begegnet und zugleich Gott ansichtig ist. Trauen wir uns zu glauben, dass auch wir Menschen als Ebenbild Gottes geschaffen und dazu bestimmt sind, Jesus darin gleich zu sein? „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ – setzt Jesus als Maßstab.

Mensch sein, dadurch, dass wir uns öffnen für Gottes Wort; dadurch, dass Gottes radikale Liebe durch uns wirkt? Die Vorstellung finde ich verlockend. Sie ist groß, sie macht groß. Auch leuchtet mir ein, dass ich etwas von meinem eigenen Menschsein preisgebe, wo ich mich von Hass und Wut leiten lasse. Mir leuchtet ein, dass der Terror als Sieger hervorgeht, wenn die Parole Vergeltung heißt. Aber alles dies sagt mir mein Kopf und ich wünschte mir, es würde mich treffen, so, wie es das Licht und Weite des Meeres getan haben. Als ich mich in meinem Alltag unterbrechen ließ und innehielt.

Ich wünschte, und doch merke ich, wie mich meine Verletzungen wieder einholen und die Wut in mir zur Widerrede anhebt, gegen das große und großmachende Wort der Liebe. Ich sehe mein Bedürfnis nach Schutz und weiß, ich bin nicht zu jedem Opfer bereit. Ich verweigere mich, halte entgegen, nicht nur passiv. Auch aktiv leiste ich Widerstand und trage selbst bei zum Streit. Welche Seite würde obsiegen, wenn ich urplötzlich gestellt wäre, an einen Ozean voller Trauer und die wogende See mir ihr Lied zuraunt und mich mitzureißen droht? Vergeltung? Rache? Ich wünschte, Gottes Wort wäre stärker. Solch ein Mensch würde ich gerne sein.

Um Gottes Wort zu hören, bin ich hier in die Kirche gekommen, habe ich meinen Alltag durchbrochen. Nicht immer gelingt es mir, es mit meinem Herzen zu hören. Im Gegenteil. Oft bin ich gar nicht bereit dazu. Vieles hält mich gefangen, bindet meine Gedanken und Kräfte und stellt sich dem Wort Gottes entgegen. Das weiß ich von mir. Ich scheitere an meinem Glauben, aber doch bin ich hier. Denn auch, wenn es mir nicht immer gelingt, so möchte ich doch gerne ein Mensch sein, der auf Gottes Wort hört. Ich möchte, dass sich dieses Wort tief in mein Gemüt einschreibt und sich als kraftvoll erweist, wann immer ich auf das Innerste meiner selbst zurückgeworfen sein werde. Davon, dass Gottes Wort mir hilft mich selbst zu finden und nicht zu verlieren, davon bin ich fest überzeugt. Darum bin ich hier.

In unserer Inselkirche gibt es ein Nagelkreuz. Als deutsche Bomber im November 1940 die Kathedrale von Coventry zerstört hatten, hat der dortige Dompropst Richard Howard dieses Kreuz aus Nägeln des zerstörten Dachstuhles zusammengefügt und die Worte „Vater vergib“ in die Chorwand der Kirchenruine einmeißeln lassen. Dass alle Menschen der Vergebung bedürfen, nicht nur der Feind, auch wir, dass wir darin eins sind und dass es keinen anderen Weg gibt, als den der Versöhnung, das sah er klar. In Zeiten größter Trauer und Wut war es ihm gegeben, an Jesu Worte zu erinnern: „Liebt Eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen.“ Immer waren es einzelne, die diesen Mut und diese Klarheit fanden. Doch immer haben sie Brücken zum Frieden gebaut. Von Coventry ging die Nagelkreuzgemeinschaft aus, eine Gemeinschaft, die bis heute weltweit Menschen im Bestreben um Frieden und Versöhnung verbindet. Und das Nagelkreuz ist zu einem starken Symbol geworden, das die Kraft und Wahrheit der Worte Jesu in unseren Tagen glaubhaft bezeugt.

Als ein Mitglied der Nagelkreuzgemeinschaft halten wir in unserer Kirchengemeinde an jeden Freitag ein Friedensgebet und sprechen die Worte des Versöhnungsgebetes von Coventry. Regelmäßig kommen wir zusammen und beten, dass der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne bewahre, in Jesus Christus, unserem Herrn.

Amen.

 

Konrad Glöckner, geb. 1966, Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Seit 2008 tätig als Pastor in Kloster, Insel Hiddensee

 

 

Liedvorschlag:

(Ausgabe der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland für den Sprengel Hamburg und Lübeck und für den Sprengel Schleswig und Holstein)

 

Gebet zur Predigt: (Versöhnungsgebet von Coventry)

 

Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes,

den sie bei Gott haben sollten. (Röm 3,23)

Den Hass, der Rasse von Rasse trennt,
Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater, vergib!

Das Streben der Menschen und Völker
zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist: Vater, vergib!
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen
ausnutzt und die Erde verwüstet: Vater, vergib!
Unseren Neid auf das
Wohlergehen und Glück der Anderen: Vater, vergib!
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der
Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge: Vater, vergib!
Die Entwürdigung von Frauen, Männern und Kindern
durch sexuellen Missbrauch: Vater, vergib!
Den Hochmut, der uns verleitet, auf
uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott: Vater, vergib!

Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebt einer
dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Christus! (Eph. 4,32)

 

 

Literaturhinweis: Mohamed El Bachiri/ David Van Reybrouck, Mein Dschihad der Liebe, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2017



Pastor Dr. Konrad Glöckner
Hiddensee, Deutschland
E-Mail: Kloster@pek.de

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