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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 10.11.2019

Eine Art Feindesliebe
Predigt zu Lukas 6:27-38, verfasst von Michael Plathow

  1. Sind sie nicht völlig realitätsfern, liebe Gemeinde,

diese Weisungen in der Feldpredigt Jesu? – „Tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch fluchen; bittet für die, die euch beleidigen. Und weiter lauten die Gebote: wer dich auf eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; wer dich bittet, dem gib; wer dir das deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück; richtet nicht, verdammt nicht, vielmehr vergebt und gebt.“

Das scheint nicht nur das eigene Selbst zu überfordern, sondern auch den gesellschaftlichen Regelungen zu widersprechen. Erzählt doch das alltägliche Zusammenleben vom unvereinbaren Gegensatz zwischen dem einen und dem anderen, weil sich da ein ungewohnter Lebensstil verbindet mit fremden, oft von Vorurteilen geprägten Anschauungen.

Das tägliche Leben berichtet weiter, wie die Regelverletzung des einen oder des anderen in Haus und Nachbarschaft einen Konflikt entzündet, der über Antipathie und gegenseitige Beschimpfung in Feindschaft und Hass eskaliert. Man ist zerworfen; die Gemeinschaft ist kaputt. Da wird jeweils das eigene Recht eingefordert, der Prozess eingefädelt, mit Anwalt und Gericht die eigenen Interessen durchzusetzen versucht.

Auf den anderen zugehen, mit einander reden, Empathie, Mitleid, Verzicht auf Vergeltung oder Rücknahme eigener Ansprüche werden als schwächlich abgelehnt. Und wenn immer der Klügere nachgeben würde, so heisst es, würden die Dummen herrschen. Auch sei Feindesliebe nur abträglich, eigene Interessen zu verwirklichen und das eigene Leben zu optimieren; Mitleid und Erbarmen mindere widernatürlich die Lebensqualität. „Was ist schädlicher?“, fragt Fr. Nietzsche in „Der Antichrist“, Kap. 2.

 

  1. Jesus beginnt, liebe Gemeinde, seine Weisung mit einem Aber, „Aber ich sage euch“. Es ist das Aber, das Gebot und Gehorsam miteinander verbindet. Das betont M. Luther, an dessen Geburtstag heute vor 536 Jahren wir uns erinnern. Zu Jesu Weisungen schreibt er: „Es hilft keine Ausrede, es ist ganz einfach ein Gebot, dem zu folgen wir schuldig sind“ (Evangelien-Auslegung (1530 – 32) Bd. II, hrsg., E. Mühlhaupt 1939, 104).

Bei der Feindesliebe geht es nicht um ein Gefühl, bei dem Liebe der Gegensatz von Hassgefühlen meint. Es geht vielmehr darum, eine Beziehung herzustellen durch ein Handeln, d. h. für den Gegner Gutes, eine Wohltat tun, die das Prinzip gegenseitiger Vergeltung unterbricht, aus dem Kreislauf eskalierender Feindseligkeit ausbricht.

Feindesliebe will Feindschaft und Hass durch Wohltaten für Gegner und durch Verzicht auf Rache und Gewalt gegen sie zu überwinden versuchen mit dem Ziel, Gemeinschaft und Frieden unter einander zu schaffen.

Als Herausforderung zum ersten Schritt gestaltet sich diese Weisung mit der „Goldenen Regel“: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch“. Es wird nun aber bei der Feindesliebe das Prinzip der Gegenseitigkeit, das menschliches Tun nach dem „Ich gebe, damit oder weil du gibst“, eben die Rückerstattung nicht bestätigt. Die Erwiderung einer Wohltat ist bei der Feindesliebe nicht vorauszusetzen.

Feindesliebe wird gelebt auf Hoffnung. Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden – vielleicht nur ein wenig, aber das einfühlsame Wort findet Gehör. Aufeinander zugehen, miteinander reden, nicht rechthaberisch beharren, sondern auf Vergeltung verzichten lässt immer wieder Gemeinschaft in Haus und Nachbarschaft neu entstehen.

Und in der christlichen Gemeinde wirkt im Hören auf Gottes Wort das gemeinsame Gebet und der Zuspruch der Vergebung Versöhnung, eröffnet Zukunft. Wenn Glaubende Jesu Gebot der Feindesliebe folgen, leben sie in einer Freiheit, die von der Bindung eigenen Verhaltens an das ihnen geschehene Unrecht befreit worden sind und frei sind. Sie sind befreit von dem Gesetz, Böses mit Bösem zu vergelten, durch Gottes erbarmende Liebe. Ihre lebensverändernde Kraft zeigt sie im lebensgestaltenden Glauben. „Laß ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach“ (Ps 24, 25).

 

  1. Die aus der erbarmenden Liebe Gottes leben, liebe Gemeinde, nennt Jesus „Kinder Gottes“. Gottes Menschlichkeit und Menschenfreundlichkeit zeigt sich in Jesus Christus; trotz Undank, Verleumdung, Backenschlägen, erlebtem Hass und Unrecht vergab er, gab er und tat wohl; er segnete und betete für die, die ihn verfluchten. Jesus lebte die Feindesliebe, bei der – mit dem heutigen Sonntagspsalm – „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Ps 85).

In Jesus Christus geht Gottes Gerechtigkeit und erbarmende Liebe uns voraus, auf dass wir folgen als Kinder Gottes und Geschwister Jesu. „Seid barmherzig wie euer himmlischer Vater barmherzig ist“, ruft Jesus in der Feldpredigt. Dabei ermutigt uns die Versöhnung, die in Jesus Christus geschehen ist, zu Schritten der Versöhnung, global denkend und lokal handelnd: die Selbstzurücknahme im Erbschaftsstreit mit den beiden Geschwistern um des Friedens willen; die Einladung der Mutter zu ihrem 70. Geburtstag an die sich seit Jahren verleugnende Tochter; der Schritt zu auf den irgendwie fremden muslimischen Nachbarn; der Widerspruch zu Falschmeldungen und Haßsprüche auf Andere, auch Politiker usw.

 

Christen sind gewiss und hoffen zugleich, dass Gottes Barmherzigkeit wirksam wird in menschlichen Schritten zu Frieden und Versöhnung. Da werden Feinde nicht ausgeschlossen aus Gottes Barmherzigkeit; eingeschlossen sind sie im Gebet für Frieden und „Heilung der Erinnerung“. Das Leben jenseits der Feindschaft lässt den anderen als Mitmensch und Freund Gottes sehen, der Barmherzigkeit braucht und erfahren soll.

 

Von der gelebten Feindesliebe erzählen die Lebensgeschichten von Martin Luther King, von Nelson Mandela, Bischof Romero und anderen Frauen und Männern. In der Wolke von Zeugen und exemplarischer Christen als „Friedensstifter“ sind sie Kinder Gottes, denen Jesu „Seligpreisung“ gilt: „Selig sind die, die Frieden stiften; sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5, 9).

 

Im Blick auf mich persönlich, so gestehe ich: Nicht selten meine ich, dass die Fußstapfen dieser modernen Heiligen für mich sehr groß, meist zu groß sind. Dennoch hoffe ich darauf, dass so etwas möglich ist, auch mir, immer wieder: Feindschaft mit Gutem zu beantworten, Fluch mit Segen, Beleidigung mit Gebet. Auch für mich gilt ja die Verheißung Gottes: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Kor 12, 9f), und sie gilt auch für die, mit denen Mitleid zu haben auch „Eine Art Feindesliebe“ ist, wie Erich Fried anzeigt:

 

„Mitleid haben

auch mit denen

in denen das Leid

so schlecht wie keinen

Platz mehr gelassen hat

Für ihr Mitleid.“

 

Liebe Gemeinde am Beginn der ökumenischen Friedensdekade,

gewiss bin ich: Gottes Barmherzigkeit erweist sich – gegen Fr. Nietzsches antichristliche Verleumdung – in Mitleid und Erbarmen als Leben fördernde und Zukunft erschließende Kraft in unserer sich nach Versöhnung und Frieden sehnenden Welt.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen, unsern Verstand und unser Tun im Glauben an Jesus Christus. Amen.

 



Prof. Dr. Michael Plathow
Heidelberg, Deutschland
E-Mail: michael@plathow.de

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