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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 10.11.2019

Gar nicht so unrealistisch
Predigt zu Lukas 6:27-38, verfasst von Thomas-Michael Robscheit

Friede sei mit Euch!

 

Liebe Gemeinde,

 

ich weiß nicht, ob es an beginnendem Altersstarrsinn, mehr Lebenserfahrung oder verlorenen Idealen liegt: immer mehr Ansprüche Jesu rufen spontan meinen inneren Widerstand auf den Plan. Auch der heutige Predigttext gehört dazu. „Wenn Dich einer auf die eine Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!“ In gottesdienstlichen Sonntagsreden, hört sich das ja noch sehr ehrenwert an, aber im Alltag? Geben wir das unseren Kindern als Erziehungsratschlag? Wenn sie in der Klasse geärgert werden? Einfach nur einstecken führt mitnichten dazu, dass die Achtung der anderen Kinder steigt. „Eine einzige Ohrfeige zurück, und die lassen Dich in Ruhe!“ - so denken wir, wenn es um unsere Kinder geht und wahrscheinlich haben wir alle auch dementsprechende Erfahrungen gemacht.

Und später? Als Erwachsene? Wie ist es da? Es gibt viel zu wenig Personal auf der Station, dazu dauernd ein so hoher Krankenstand. Wenn der Chef mal wieder um eine Überstunde bittet, biete ihm gleich zwei an? Oder eine Doppelschicht?

Diese Forderung Jesu ist unrealistisch und ein Ärgernis, sie unterstützt die Ausbeutung. Erst vor wenigen Tagen habe ich es miterleben müssen, dass engagierte Mitarbeiter, denen ihr Beruf nicht nur Job ist, für ihren Einsatz eine Abmahnung erhalten haben! Da brennt die Luft, es ist niemand da, der sich um die Pflegefälle kümmern kann und ohne viel Aufhebens wird länger gearbeitet. Dann ein paar Tage später ein Personalgespräch: „Vielen Dank für Ihren Einsatz; aus arbeits- und finanzrechtlichen Gründen bekommen Sie dafür eine Abmahnung!“. Das, liebe Gemeinde, ist eine Ohrfeige! Eine die richtig weh tut! Die lieben Kollegen sind andauernd krank, man springt ein und dann das!

 

Ich befürchte, nein, ich bin mir sicher, dass Ihnen allen schon ähnliche Dinge passiert sind. Jemand fordert. Nicht den Mantel, sondern unser Engagement oder unser Geld hier in der Kirchengemeinde. Ach, lieber Herr Meyer, wenn Sie nicht das Läuten übernehmen, dann...“ - manchmal muss der Satz gar nicht zu Ende gesprochen werden. Natürlich kann man vor dem Gottesdienst läuten. Ja, und zähneknirschend kümmert man sich auch um das Samstagsläuten, obwohl das einen zeitlich ziemlich einbindet. Aber einer muss es ja machen!

„Liebe Frau Schulze, könnten Sie sich nicht um den Blumenschmuck auf dem Altar kümmern? Und dann vielleicht auch gleich mal durchfegen?“

Und dann vergisst man es einmal und sofort regen sich alle darüber auf. Am lautesten die, die sich immer wegducken! Klatsch: wieder eine schallende, ungerechtfertigte Ohrfeige. Oder: man macht alles schön, verschiebt sogar den Besuch beim Enkelkind, doch am Sonntag ist gar kein Gottesdienst: „Ach, ich hatte ganz vergessen Ihnen extra Bescheid zu geben!“, murmelt der Pfarrer, der in Gedanken aber ganz offensichtlich irgendwo anders ist. Wertschätzung sieht anders aus.

Der Pfarrer seinerseits ist ebenfalls angepisst: Seit ein paar Minuten ist die mühselig ausgearbeitete und mit einer Handvoll Ehrenamtlicher abgestimmte Planung für Adventsandachten und kleine Adventsmärkte in den vielen Dörfern seines Zuständigkeitsbereiches obsolet: in einem der Dörfer hat sich der Heimatverein entschlossen, den seit Monaten feststehenden Termin zu wechseln. Wie ein Kartenhaus bricht das Gebilde zusammen. Er spürt schon die Verärgerung der ehrenamtlichen Orgelspielerin. Er weiß, dass sie es schwer hatte, in ihrer Familie, das häufige Engagement in den kalten Kirchen zu rechtfertigen. Nun passt das dort auch nicht mehr.

 

Solche Beispiele lassen sich dutzend-, ach was, hundert- und tausendfach finden. Aus Trotteligkeit, Unachtsamkeit, manchmal auch Bosheit oder Kalkül werden Menschen abgewatscht.

Wenn jemand den Mantel fordert, gib ihm auch den Rock! Als Dank dann eine Ohrfeige!

Wie weltfremd ist doch diese Forderung Jesu!

 

Ist sie das wirklich?

Wie sieht denn die Realität in unseren Gemeinden aus?

Wird Frau Schulze den Küsterdienst hinschmeißen? Wird Frau Müller nicht mehr orgeln, der Pfarrer die Stelle wechseln oder Herr Meyer nicht mehr läuten?

Nein, in den allermeisten Fällen werden die Betroffenen auch die andere Wange hinhalten, werden den Mantel und den Rock geben und notfalls auch noch mehr. Warum tun sie das?

Diese auf den ersten Blick so unrealistische Forderung Jesu, dieser weltfremde Wunsch, diese idealistische Vision ist, Gott sei Dank (und das im Wortsinn!), gar nicht so unrealistisch. Unsere Welt hat sich durch Menschen, die ethische Ansprüche wie die von Jesus geäußerten ernst nehmen, geändert. Zum Besseren geändert!

 

Denken Sie an Gewalt. Warum kommen wir in die Versuchung, unseren Kindern zu empfehlen, endlich mal zurückzuschlagen? Weil sie es nicht tun! Und das nicht aus Angst, sondern etwas in ihnen sträubt sich, Gewalt als erste Lösung zu sehen.

Als Mittel der Erziehung oder der Konfliktlösung im privaten Umfeld ist Gewalt nicht mehr gesellschaftsfähig. Im staatlichen Bereich wird sie immer wieder hart hinterfragt, selbst im Umgang mit „den Feinden“ hat sich ein Denken, das von Ausgleich und nicht von Besiegen ausgeht, weitgehend durchgesetzt. Was ist das anderes, als für die zu bitten, die einem angeblich ans Leder wollen?

 

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder. In unserem Text stellt Jesus nur auf den ersten Blick weltfremde Forderungen auf. Eigentlich beschreibt er den einzigen Weg, wie Menschen miteinander leben können; im Kleinen wie im Großen: die Bedürfnisse anderer wahrnehmen, eigene Verletzungen auch wegzustecken und nicht immer auf das große Lob zu warten. „Stell Dich darauf ein, Du Menschenkind“, so könnte Jesus auch sagen, „stell dich darauf ein, dass man die ganze Hand nehmen wird, wenn du den kleinen Finger reichst. Und bedenke, dass Undank der Welten Lohn ist. Lass dich davon nicht zu sehr erschüttern, sei Mensch, habe Träume und Visionen von einem gelingenden Leben. Strebe ihnen nach und lebe sie! Lass Dich nicht entmutigen! Dann bist Du ein Kind des Höchsten, dann bist Du mit Deinen Unzulänglichkeiten Ebenbild Gottes!“

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.

 

Amen.

 



Pfr. Thomas-Michael Robscheit
Kapellendorf, Deutschland
E-Mail: thm@robscheit.de

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