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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Totensonntag, 24.11.2019

Stimmen hören
Predigt zu Johannes 5:24-29, verfasst von Ulrich Pohl

Überarbeiteter Predigttext nach Johannes 5, 24 – 29

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und die Stunde ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören, die werden leben. Wundert euch darüber nicht. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören, und dann werden sie aufstehen: Die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts. Doch hat der Vater dem Sohn die Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, denn er ist der Menschensohn! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen.

 

Wir sollen hören. Wir sollen auf seine Stimme hören. Dann werden wir leben und kommen nicht in das Gericht. Wir sollen auf seine Stimme hören.

Seine Stimme ...
Es ist nicht die Stimme Jesu, die wir hören, wenn es um uns still wird. Uns kommen vielmehr immer wieder die Stimmen derer in den Sinn, die wir in der letzten Zeit loslassen mussten. Manches Wort, das wir gewechselt haben, ist uns noch im Ohr, als wäre es erst gestern gesprochen. Wie gut, wenn wir Zeit hatten, gemeinsam auf das zuzugehen, was kommen musste. Wie gut, wenn wir einander noch das sagen konnten, worauf es ankommt, wenn jemand endgültig Abschied nimmt. Und doch, mitunter fragen wir uns, ob denn wirklich alles Wichtige gesagt wurde. Und erst recht, ob wir alles richtig verstanden haben. Wir würden gerne nachfragen. Wir würden uns gerne vergewissern und noch einmal die Stimme derer hören, an denen wir uns so schmerzlich hängen. Aber das geht nun nicht mehr. „Lehre uns bedenken Herr, dass wir sterben müssen…“ Ja, das haben wir nun gelernt, und wir vergegenwärtigen es uns, besonders an diesem Tag, heute. Doch ist es eine Lektion, die wir uns nicht gewünscht haben. Die wir niemandem wünschen.

Für andere kam der Tod völlig überraschend. Von einem Moment auf den anderen war der geliebte Mensch nicht mehr da, unerreichbar. Vieles, viel zu vieles blieb ungesagt, blieb ungelebt und vielleicht sogar unverziehen. Immer wieder kommen uns Augenblicke in den Sinn, die uns im Nachhinein wichtig erscheinen. Sätze fallen uns ein, die wir hätten sagen wollen. Sätze, die wir gerne noch sagen würden. Manches davon brennt in unserer Seele wie Feuer. Was wir nicht gesagt haben, obwohl wir es hätten sagen sollen, wir bereuen es. Was wir nicht gehört haben, obwohl wir uns danach gesehnt haben, es tut uns weh, es schmerzt uns. Es ist ein Schmerz, für den man nicht zum Arzt gehen kann. Es ist ein Schmerz, gegen den keine Tablette hilft.
Mitunter machen wir uns Vorwürfe. Ach, hätte ich nur, ach wäre ich damals... Das sind die Sätze mit denen wir uns selbst anschuldigen. Zugleich sagen wir uns Sätze, mit denen wir uns  freisprechen: Es ging nicht anders, wer hätte wissen können, was kommt?
Das sind die Stimmen, die wir uns selbst hören, Stimmen der Anklage und der Verteidigung. Wie gerne möchten wir da die Stimme Jesu hören, die dieses Hin und Her durchbricht: „Wer mein Wort hört und glaubt, der kommt nicht in das Gericht. Er ist frei von allem, was ihn verklagt. Er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen.“

 

Vom Tod zum Leben durchgedrungen …

Das Leben … Vom Leben ist so viel die Rede, gerade, wenn ein Mensch stirbt. Uns, die wir übrigblieben, sagt man, wir sollen uns nicht vergraben. Wir sollen uns nicht verlieren in der Trauer. Wir sollen nicht zu lange an dem hängen, was war, sondern weitergehen und wieder ins Leben zurückfinden. Als ob das so einfach wäre. Es ist schwer, das, was man erlebt, mit anderen zu teilen – das, was man erlebt, wenn ein Mensch stirbt, den man liebt. Wer diese Erfahrung noch nicht gemacht hat, kann sich da nicht hineinversetzen. Die, die uns beistehen, versuchen das. Sie versuchen, etwas zu sagen, das soll uns trösten. Es soll unsere Trauer lindern. Wir wissen, es ist gut gemeint. Aber es erreicht unser Herz nicht. Noch nicht vielleicht.
Andere werden plötzlich stumm und verschwinden von der Bildfläche. Wir warten auf ein Wort der Anteilnahme, aber es kommt nichts. Ob sie sich davor fürchten, sie könnten in so einer Situation nur das Falsche sagen? Wir versuchen Verständnis aufzubringen. Obwohl doch eigentlich wir es sind, die auf Verständnis angewiesen sind. Wir versuchen, denen, die uns begegnen, das Gefühl von Sicherheit zu geben. Obwohl doch eigentlich wir es sind, die wieder festen Boden unter den Füßen spüren möchten. Aber mitunter ist das so. Mitunter müssen die, von denen man denkt, sie seien die Schwachen, stark sein. Für die anderen mit stark sein.

 

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch …“
Da ist auch einer schwach und stark zugleich. Er ist sich seiner Sache ganz sicher, aber sie bedeutet seinen Tod, seinen Tod am Kreuz.
„Wahrlich, ich sage euch, es kommt die Stunde, und die Stunde ist schon jetzt, da werden die Toten die Stimme Gottes hören, und sie werden aus den Gräbern aufstehen.“

Dass die Toten auferstehen. Dass wir in den Himmel kommen und uns dort wiedersehen. Das ist es, was wir von Kind an gelernt haben. Es ist das, was wir uns später gesagt haben, wenn uns die Fragen danach bedrängten, was mit uns wird. Die Toten werden auferstehen! Wir sagen uns das mit bangem Herzen. Denn ist das nicht zu einfach? Alles wird gut! Wird es das wirklich? Wird es so sein, wie es uns unser Herr Jesus Christus sagt? Wir wissen es nicht. Woher wusste er es? Woher hat er die Gewissheit genommen?

Er nahm seine Gewissheit aus dem, was ihm der Vater gesagt hat. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch…“
Tatsächlich, da ist sich einer seiner Sache gewiss, und wir beten zu ihm, er soll auch uns gewiss machen. Etwas von seinem tiefen Glauben an den Vater soll auf uns übergehen, das wünschen wir uns, nun, da die Situation da ist, auf die wir uns mit all unserem Glauben vorbereitet haben. Und auf die man sich doch nicht vorbereiten kann. Die Toten werden auferstehen. Ja, das wünschen wir uns. Das Leben soll weitergehen. Ja, das erbitten wir. Am Ende wollen wir uns wiedersehen, dort in der anderen Welt, in der Welt, von der Jesus spricht. Ja, das erhoffen wir. So soll es einmal kommen. So soll es einmal sein.

Aber in unserem Bibelabschnitt redet Jesus nicht nur von „später“, nicht nur von „dann einmal“. Sondern vom „Jetzt“. „Wahrlich, es kommt die Stunde, und die Stunde ist schon jetzt“: Die Gräber gehen auf. Was tot war, wird lebendig. Das, wohinein wir uns vergraben, öffnet sich. Und wer die Stimme Jesu hört, der ist vom Tod zum Leben durchgedrungen …

Die Stimme. Die Stimme Jesu. Wenn wir die hören könnten, das täte uns schon gut. Wenn wir sie hören könnten, wie die Jünger sie einst hörten, das würde unseren Glauben groß machen. Für die Menschen damals war Jesus lebendig, und für alles was er sagte, stand er mit seiner Lebendigkeit ein. Mit seinem Leben und zuletzt mit seinem Sterben. Wenn Jesus doch auch für uns so lebendig werden könnte. Wenn er zu uns spräche, mit dem Klang seiner Stimme, dann würde es wahr: Im gleichen Moment wären wir durchgedrungen vom Tod zum Leben. Zum ewigen Leben.

Für unsere Verstorbenen ist das so. Sie hören die Stimme Jesu, der sie zu sich holt; sie hören sie jetzt. Sie sind bei ihm und er ist bei ihnen. Und er bleibt. Er bleibt bei ihnen, allezeit und in Ewigkeit. Wir können uns nicht vorstellen, wie das aussieht. Aber es ist so. Der, der die Welt in seinen Händen hält, bestätigt es. Und Jesus weiß es, er ist sich dessen gewiss: „Wahrlich, ich sage euch, die Stunde kommt, und sie ist jetzt, da hören die, die in den Gräbern sind, die Stimme Gottes.“

Unsere Verstorbenen sind bei ihm, schon jetzt – wir sind es noch nicht. Wir leben noch hier in dieser Welt, in der, eine nach der anderen, die Stimmen verklingen, die uns lieb sind. Auch unsere Stimme wird einmal verstummen. Nur die Stimme Jesu nicht. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mk. 13, 31-32).

Das was wir haben, hier, auf dieser Erde, ist allein sein Wort. Das Wort, das in der heiligen Schrift über ihn geschrieben steht, und die Worte, die er selbst uns hinterlassen hat. In diesen Worten suchen wir Halt. Einen anderen Halt gibt es nicht. An diesen Worten wollen wir uns festhalten. Auf sein Wort hin wollen wir annehmen, was er uns auferlegt. Wir wollen uns in Tapferkeit hineinschicken in das, was bleibt. Wir wollen sehen, ob noch einmal etwas wächst. Und wir wollen uns dem, was unser Herr uns an Schönem schickt, nicht verschließen.

Bis dann die Stunde kommt und es auch für uns so weit ist. Dann werden wir – endlich – seine Stimme hören. „Wer mich hört, kommt nicht in das Gericht, wer meine Stimme hört, der ist schon durchgedrungen vom Tod zum ewigen Leben.“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.



Pfr. Ulrich Pohl
Neuss, Deutschland
E-Mail: ulrich.pohl@ekir.de

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