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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Totensonntag, 24.11.2019

… zum Leben hindurchgedrungen.
Predigt zu Johannes 5:24-29, verfasst von Ralf Reuter

Lebt nicht jeder Mensch sein ganz persönliches Leben? Lebt es aus seiner Sicht, in den Momenten der Zeit, mit dem eigenen Herzen, den eigenen Wünschen, Sorgen, Bezügen, aus der unmittelbaren Erfahrung heraus? Dies gilt dann auch für die Menschen, die uns sehr nahestehen, uns ein Leben lang begleiten wie die eigene Mutter oder der eigene Vater. Manchmal machen wir diese Erfahrung erst, wenn sie versterben.

Mit dem Tod wird Bilanz gezogen. Da leuchtet wie durch einen Blitz erhellt ein zurückliegendes Land auf, ein langer Weg, den sie mit uns gegangen sind. Doch an den Weggabeln werden plötzlich auch die anderen Zu- und Abwege deutlich, die uns gar nicht so bewusst waren. Man entdeckt sie in den zurückgelassenen Aufzeichnungen, in Tagebüchern, Briefen, auch in Kontoauszügen, in Fahrkarten, Urlaubserinnerungen.

Auch die eigene Mutter, der eigene Vater, die Großeltern, der Ehepartner, sie haben einen Lebensraum hinterlassen, der von ihnen geprägt ist. Wo auch wir unser Zimmer hatten, wo aber unsere Geschwister ebenso ihren Platz fanden, manchmal einen größeren, und andere Menschen auch. In der engen Partnerschaft wird es oft die ergänzende Hälfte gewesen sein, bei den Großeltern sicherlich nur eine Enkelkammer. Wir gehören dazu, doch ihr Leben ist immer darüber hinaus gewesen.

Abschiede sind auch Beurteilungen, das geschieht von selbst. Es sind Urteile aus einer betrachtenden Sichtweise. Mit Dankbarkeit oft, aus jahrzehntelanger innerer Verbindung. Aber auch andere gibt es, aus einem Gefühl der Enttäuschung heraus. Wo etwas als ungerecht nachlebt, das nicht mehr behoben werden kann. Es kann einen ganz schön mitnehmen, sogar bitter werden lassen. Die Sichtweisen der Zurückbleibenden, sie legen auf die Waage, urteilen über Gut und Böse.

Am Totensonntag besteht die Chance, die eigene Betroffenheit mit dem Lebensgrund in Verbindung zu bringen. Jedes Leben verhält sich ja immer auch zu seinem Auftrag und seiner Erfüllung, seinem Anspruch und seinem dahinter Zurückbleiben. In der christlichen Tradition ist das die Gottesfrage. Wie leben wir vor Gott, der das Leben schenkt? Wie ist der ganz eigene Weg inmitten dieses Gegebenseins, dieser inneren Beziehung zu seinem Schöpfer? Hält Gott wie wir am Ende eines Lebens Gericht?

Überraschenderweise taucht diese Frage im Johannesevangelium mitten in den Berichten über Jesus auf, die von seinem Gehen in die Dörfer und Städte erzählen. Wahrlich, wahrlich, sagt er, wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Jesus spricht von den Momenten des Lebens, in denen Glaube aufflackert, er sagt es nicht vom Ende her.

Das ist überraschend. Es sind dann ja nicht die Erinnerungen, die andere in sich tragen, die ein Leben bewerten. Es ist das Leben in seinen Augenblicken selber. Da, wo ein lebendiger Funke von Glauben aufscheint und das Leben erhellt. Wo von Gott her Licht eindringt und Lebensenergie zu fließen beginnt. Gemeint sind wohl all die Situationen, wo ein Vertrauen in das Leben beginnt, wo sich so etwas wie ein Raum der Liebe auftut, seiner Bestimmung nach zu leben.

Natürlich kann versucht werden, diese Punkte im Leben eines Menschen zu identifizieren. Man wird sie in den existentiellen Entscheidungen vermuten, wo etwas neu begonnen wird, eine Ausbildung, eine Aufgabe. Oder Beziehungen sich intensivieren, eine Liebe beginnt und eine andere endet. Vielleicht sind es auch die Phasen der Not, des Durchschreitens von Krisen, des nicht mehr selber weiter Wissens. Wo Gott einen über die Schwelle trägt und es weitergeht.

Doch wir wissen es nicht genau, wir werden es wohl nie ganz verstehen. Wir schauen von hinten, vom Ende der Erdentage her, und meinen diese und jene Linie zu sehen. Da ist sicherlich einiges zu erkennen, aber es bleibt immer unser Blick, aus unseren Urteilen. Es ist nicht die Sichtweise derer, die es selber lebten, und es ist nicht die Sichtweise Gottes. Natürlich, am Ende des Lebens wird Gott wie wir fragen, was war, da wird es endgültig, wer zur Auferstehung des Lebens geht, und wer zur Auferstehung des Gerichts.

Entschieden hat sich dies immer mitten im Leben. Im Hier und Jetzt, im Bewusstsein der unmittelbar gelebten Zeit. Da, wo unsere Verstorbenen die Stimme der Ewigkeit vernommen haben, wo sie vom Tode, vom nicht mehr Weiterkönnen wieder ins Leben gekommen sind, wo sie vom Tode zum Leben hindurchgedrungen sind. Ich glaube, hier kann durchaus von gelingendem Leben besprochen werden, von Verwirklichung und identisch werden mit sich und seiner Bestimmung.

Die Größe eines Menschenlebens wird somit vom Hören auf die Stimme dessen bestimmt, der als das Licht der Welt kommt, der uns seinen Frieden schenkt. Es wird sich durchsetzen müssen gegen die Finsternis, die Traurigkeit, die Resignation. Das ist der eigentliche Kampf des Lebens. Immer geschieht das unmittelbar, in der Stunde, die gelebt werden muss, an dem Tag, den es zu bewältigen gilt, der Woche, die vor einem liegt, dem Jahr, das geschenkt wird.

Immer geht es da schon um das Ganze, immer müssen wir uns die Schuhe dreckig machen und durch die Orte unserer Aufgaben hindurch, immer wird es Anstrengung und Mühe kosten, nie wird es so gelingen, wie wir es wollten. Doch sind es im Rückblick von Menschen genau diese Verwirklichungen, die das Leben ausmachen, wo sie sagen, das war echtes Leben. Das gilt sicherlich auch für Krisen, die hart waren, aus denen wir gestärkt herausgekommen sind.

In der christlichen Betrachtung des Lebens ist es Gott selber, der mit seinem Wort ins Leben ruft und es mit uns durchsteht, uns hindurchbringt ins Licht. Und es ist Gott, der diese Punkte gelingenden Lebens miteinander verknüpft und zu einem ewigen Weg werden lässt. Wer einmal mit ihm im Gespräch ist, der bleibt es, der wird auch über Abwege und Funklöcher des Lebens mit ihm verbunden bleiben. So wird die aktuelle Zeit von der Ewigkeit her qualifiziert.

Wer darauf vertraut, dass Gott ihn mitnehmen wird auf seinem Weg, der hat es leichter. Leichter mit einer Haltung, einer Ethik, sich seiner Bestimmung gemäß zu verhalten, sich mutig einzusetzen, Leidenschaft zu entwickeln, Liebe weiterzugeben. Wahrscheinlich ist es diese Kraft aus der Ewigkeit, die im Leben tatsächlich Gutes entstehen lässt. Das sind die Momente in diesen gemeinsamen Räumen der Liebe, die wir unseren Heimgegangenen nie vergessen.

Daneben gibt es Zeiten, in denen ist nichts zu erkennen. Hier können wir nun mehr einsetzen als nur unsere Erinnerungen. Wir können Gott danken für die Vielfalt und Lebendigkeit ihres Lebens, sei es kürzer oder länger gewesen. Ihr Leben hat immer eine ganz eigene Größe und Bedeutung. Uns selber sollen die eigenen Erfahrungen mit ihnen reichen. Wo sie uns beeinflusst haben, durch ihr Dasein. Wer mag, kann darin etwas von Gottes Wirken an uns erkennen, wo er uns durch sie anspricht und auf den Weg bringt, mitnimmt in die Ewigkeit.

Wenn wir heute an unsere Heimgegangenen denken, wird es uns guttun, uns mit eignen Urteilen zu bescheiden und sie getrost Gott zu überlassen. Gott, der uns durch ihr Leben beschenkt, mit viel Gutem und auch mit Schwerem. Er ruft uns heute mit der Stimme von Jesus Christus in das Licht, in den Frieden: Wer mein Wort hört, und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Amen.

 

Literatur:

Exegetisch beruht die Predigt weitgehend auf Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, 2016, S. 58-60 und 225-231. Besonders beeinflusst in Hinsicht einer sogenannten präsentischen Eschatologie, teilweise bis in Formulierungen hinein, hat sie Hans Weder: Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, 1993.

 

Pastor für Unternehmensleitungen und Führungskräfte der Wirtschaft, Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und zugleich Pastor an der Friedenskirche Göttingen



Pastor Ralf Reuter
Göttingen, Niedersachsen
E-Mail: ralf.reuter@evlka.de

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