Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christnacht, 24.12.2019

Weihnachtsfreude und christliche Pessimisten
Predigt zu Lukas 2:1-20, verfasst von Dietz Lange

                                                 Christmette, 24.12.2019 in St. Marien Göttingen

                                                   

Liebe Gemeinde!

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens!“ Dieser großartige Engelshymnus hatte zu allen Zeiten etwas Mitreißendes. Er gehört fest zu Weihnachten. Er ist nicht nur der Höhepunkt der Weihnachtsgeschichte. Er bildet auch für uns heute die Leitmelodie des Weihnachtsfestes. Ohne ihn würde unserem Weihnachtsfest alle Leuchtkraft fehlen. Viele von uns denken dabei an das wunderbare Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach: an den lauten Jubel bei dem „Ehre sei Gott in der Höhe“ und an die dann folgende sanfte Passage über den Frieden auf Erden. Das lässt niemanden unbeeindruckt. Auch heute nicht. Dieses große Werk ist nun schon fast 300 Jahre alt (es wurde 1734 komponiert). Es steht vielleicht sogar manchem von uns näher als die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel. Musik spricht ja oft unmittelbarer zu uns als gesprochene Worte. Oder sind uns am Ende die Worte innerlich fern gerückt? Ist das, was die Musik in uns weckt, vielleicht eine Art uneingestandener Nostalgie, Heimweh nach etwas unwiederbringlich Verlorenem? Hören wir vielleicht nur noch auf die schöne Musik und achten nicht mehr auf den Inhalt?

Wir kennen alle die Klagen über den verbreiteten Abbruch christlicher Tradition, teilen sie vielleicht auch selber. Es ist ja auch gar nicht zu leugnen, dass schon die bloße Kenntnis der Kernaussagen des christlichen Glaubens bei vielen Menschen heute nahezu Null ist, gar nicht nur in der ehemaligen DDR, auch gar nicht nur außerhalb der Kirche. Es gibt darum bei unser Evangelischen mancherorts verzweifelte Versuche, das Christentum zu verbilligten Preisen zu verkaufen, alle schroffen und schwierigen Wahrheiten zu vermeiden, um nur ja niemanden zu verschrecken. Doch wenn das sich durchsetzt, nimmt uns niemand mehr ernst, und das mit Recht.

Außerhalb des Weihnachtsfestes herrscht also bei uns Evangelischen weithin Katerstimmung. Noch vor gut 100 Jahren, im Jahr 1900, hat der bedeutende amerikanische Evangelist John Mott begeistert verkündet: „Evangelisation der ganzen Welt noch in dieser Generation!“ Das berührt uns heute ganz fremd. Woran liegt das? Da kommt viel zusammen. Auf der einen Seite steht das berüchtigte Bündnis von Thron und Altar dahinter, auf der Gegenseite die Bewegung für soziale Gerechtigkeit, die sich mit radikaler Religionskritik vereinte. Und dann kam die antikirchliche und antireligiöse Propaganda der Nationalsozialisten und danach der DDR-Sozialisten. Das alles ist wohlbekannt. Aber nun hat das dadurch veränderte Klima vielen von uns Älteren auf Dauer eine große Scheu eingeflößt, über unseren Glauben überhaupt zu sprechen. Auf diese Weise sind wir mitschuldig geworden an der Entwicklung, die wir so beklagen.

Trotzdem ist das Märchen vom bevorstehenden Erlöschen des Christentums nicht wahr. Neben den nicht zu leugnenden Tatsachen steckt auch eine reichliche Portion einer typisch deutschen Jammerkultur darin. Einmal dürfen wir nicht übersehen, dass auf anderen Kontinenten das Christentum gerade dabei ist, sich rasch auszubreiten. Sodann gibt es auch unter uns sehr wohl tiefen, lebendigen und tatkräftigen Glauben. Was sich in den letzten Jahrhunderten geändert hat, ist nicht, dass der christliche Glaube dabei ist abzudanken, sondern nur, dass er in der Gesellschaft nicht mehr alleinherrschend ist. Das unterscheidet unsere Gegenwart auch von der Zeit des Weihnachtsoratoriums. Das Christentum ist heute für die Menschen eine Option neben vielen anderen. Aber man muss doch wohl fragen: Warum soll das ein Unglück sein? Warum lassen wir uns dadurch ins Bockshorn jagen? Im Urchristentum, also in der Zeit, in der die Weihnachtsgeschichte aufgeschrieben wurde, war das doch nicht anders! Fragen wir lieber, ob diese Geschichte uns nicht gerade heute helfen kann, in genau dieser Situation, die wir uns eben vor Augen geführt haben.

 „Er kommt auch noch heute“, heißt es in einem alten Adventslied. Er kommt heute im Grunde genauso wie damals: weithin unbeachtet von der Welt. Der Rummel, der heute um Weihnachten gemacht wird, hat ja mit dem Sinn dieses Festes nichts zu tun. Jesu Geburt war keine Sensation; wir wissen nicht einmal ihr genaues Datum. Selbst das Aufsehen, das dann später sein öffentliches Auftreten erregt hat, war erstmal ganz begrenzt, denn es fand in einem entlegenen Winkel des römischen Reiches statt, nicht in der glanzvollen Hauptstadt. Fernsehen und Internet gab es ohnehin noch nicht. Die Weihnachtsgeschichte macht diese Unscheinbarkeit auf ihre Weise deutlich, indem sie als Zeugen des großartigen Engelshymnus ein paar einfache Hirten benennt, schlichte Leute, keine Größen der Gesellschaft. Massensuggestion und Massentaumel waren nie die Sache Jesu, sondern sie sind Sache von politischen Großveranstaltungen. Die sind zwar heute nicht entbehrlich, aber wir Deutschen wissen nur zu gut, wie gefährlich sie werden können.

Gott kam in die Fremde, und das tut er auch heute. Der christliche Glaube hat sich zwar im Lauf der Geschichte gewaltig ausgebreitet. Wir wollen nicht unterschätzen, wie viel Segen das auch bedeutet hat. So sind die Menschenrechte faktisch zwar lange auf den Widerstand der Kirchen gestoßen, aber diese Idee transportiert durchaus viel von dem, wofür wir als Christen eintreten. Dennoch ist der christlichen Religion ihr Weg zur Weltherrschaft schlecht bekommen. Denn ihm sind Ketzerverbrennungen und Judenpogrome gefolgt, opportunistische Bündnisse mit den jeweils Herrschenden auf Kosten der Armen, Duldung brutaler Ausbeutung von Kolonien und unendlich viel Arroganz von Besserwissern. Das alles hat Jesus mit Sicherheit nicht gewollt. Im Gegenteil, er ist gekommen, um genau solcher Art von Herrschaft den Kampf anzusagen. Er hat Gottes Liebe einzelnen Menschen zugesprochen, und zwar besonders solchen, die im Leben gescheitert waren und Schuld auf sich geladen hatten. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!“ Das ist der Grund für die große Freude, damals wie heute. Denn damit verändert sich die Perspektive eines ganzen menschlichen Lebens.

 „Er kommt auch noch heute / und lehret die Leute / wie sie sich von Sünden / zur Buß sollen wenden / von Irrtum und Torheit / treten zu der Wahrheit“, so geht der Liedvers weiter. Das heißt: Jesu Kommen bedeutet für alle, die sich auf ihn einlassen, eine Lebenswende. Die großen Worte „Ehre sei Gott in der Höhe“ sind das Gegenteil von Ehre für die Machthabenden der Welt, auch von Ehre für kirchliche Macht. Es gibt keinen Grund, der einst selbstverständlichen Herrschaft des Christentums über die abendländische Gesellschaft nachzutrauern. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir als einzelne Menschen uns heute in die Bewegung der Liebe Gottes hineinziehen lassen, die Jesus angestoßen hat. „Euch ist heute der Heiland geboren“: nämlich der, der uns heilt von unserer Gottfeindschaft und Gottesfremdheit. Uns moderne Menschen will er heilen von unserer Scheu, zu unserem Glauben zu stehen, von unserer Angst, uns damit zu blamieren. Wie soll denn große Freude über Gottes Kommen mit solcher Ängstlichkeit zusammengehen?

Die Folgen der weihnachtlichen Begegnung mit Gottes Liebe reichen noch viel weiter. Sie betreffen unsere gesamte Lebensführung. Das bringt der zweite Teil des Engelshymnus zum Ausdruck: „Friede auf Erden“. Dazu fällt uns heute die nationalistische Abschottung in Amerika und in vielen europäischen Ländern ein und dazu die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs. Dann kreuzen wir resigniert die Arme, denn darauf haben wir doch sowieso keinen Einfluss. Aber der Frieden, den die Worte der Weihnachtsgeschichte meinen, ist nicht zuerst politischer Natur. Friede auf Erden ist vor allem der Sieg über unsere unbearbeiteten persönlichen Konflikte mit anderen Menschen und über die sorgfältig beschwiegenen Spannungen in unseren Familien und in unserer Nachbarschaft. Friede auf Erden ist, zugegeben, in der Zeit der Hassmails auf Facebook und Instagram oft anstrengend und fordert viel Geduld, auch viel vorbeugende Erziehung der nachfolgenden Generation.

Die Weihnachtsgeschichte ist offensichtlich keine sentimentale Idylle. Natürlich nicht. Denn sie handelt von der Geburt eines Kindes. Eine Geburt ist wahrhaftig keine einfache Sache. Die Mütter und Väter unter Ihnen wissen zwar, dass man dann wie betrunken vor Freude ist, wenn alles gut gegangen ist und der kleine neue Erdenbürger kräftig geschrien hat. Aber das kleine Wesen schreit auch weiterhin und bringt die Erwachsenen so manches Mal um den Schlaf. Trotzdem überwiegt die Freude bei weitem. Sie ist auch stärker als die mancherlei Sorgen und Enttäuschungen, die es später geben mag, meistens jedenfalls. Das ist bei der Weihnachtsfreude nicht anders. Sie reicht jedoch noch tiefer als die Freude über die Geburt eines Kindes, und sie kann sich auch robuster gegen die Ernüchterung des Alltags durchsetzen. Denn dieses besondere Kind bringt uns noch Wichtigeres als die Fortdauer unserer Familie, nämlich die heilende Kraft der Liebe Gottes, inneren Frieden und damit auch die Fähigkeit, großzügig und geduldig auf äußeren Frieden in unserem Lebenskreis hinzuwirken. Dann muss uns auch die Aussicht auf den Alltagstrott nach den Festtagen nicht schrecken.

                                                                                                                               Amen.

 

Geboren 1933 in Bremen, Professor für systematische Theologie bis 1998; seit 1988 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien in Göttingen

 

 

 



Prof. em. Dr. Dietz Lange
Göttingen, Niedersachsen
E-Mail: dietzclange@online.de

(zurück zum Seitenanfang)