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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christnacht, 24.12.2019

Das Christkind in uns
Predigt zu Lukas 2:1-20, verfasst von Sibylle Rolf

Liebe Gemeinde,

Haben Sie sich in diesem Jahr auf Weihnachten gefreut – so richtig unbändig und grenzenlos? Ich erinnere mich gut, wie ich als Kind am Heiligen Abend in meinem Bett lag und diese unbändige Freude verspürt habe. Es war Weihnachten, das Fest des großen Geheimnisses. Sicherlich, auch das Fest der Geschenke, aber doch noch so viel mehr. Der Lichterbaum, die uralte Geschichte, die mir als Kind schon zu Herzen ging. Ich weiß noch, wie diese Freude mein Herz und meinen ganzen Körper erfüllt hat.

Vielleicht ist es eine Freude, die Kindern vorbehalten bleibt. Vielleicht ging es Ihnen ja wie vielen anderen, dass die inneren Antreiber größer waren als die kindliche Freude. Die inneren Antreiber, die Ihnen Ihre Pflichten vorgehalten haben: hast du schon bedacht…? Hast du dich gekümmert…? Ist alles besorgt…? Alle Karten geschrieben…? Alles vorbereitet…? Oder kennen Sie das noch – diese Freude, die Herz, Seele und Leib erfüllt und so raumgreifend ist, dass alles andere klein wird?

 

Matthias Claudius hat einmal gedichtet:

Ich danke Gott und freue mich

Wie's Kind zur Weihnachtsgabe,

Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,

Schön menschlich Antlitz! habe,

 

Dass ich die Sonne, Berg und Meer

Und Laub und Gras kann sehen

Und abends unterm Sternenheer

Und lieben Monde gehen,

 

Und dass mir denn zu Mute ist,

Als wenn wir Kinder kamen

Und sahen, was der heil‘ge Christ

Bescheret hatte, Amen!

 

Ich danke Gott und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe – einfach dass ich bin und ein menschliches Gesicht habe. Die Freude bei Matthias Claudius setzt sich fort im Betrachten der Natur: wenn du durch den Oftersheimer Wald gehst oder am Bodensee stehst. Oder wenn du in den Alpen bist und dich mit einem Mal ganz klein fühlst. Oder heute Abend durch die Nacht zur Kirche gekommen bist. Und wenn du in den besonderen Momenten deines Lebens spürst, dass du geborgen und gehalten bist. Dass jemand dich liebt und für dich sorgt. Einfach weil du bist. Dann ist das Leben gut. Und dann kann sie entstehen, diese unbändige Freude.

 

Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Matthias Claudius die kindliche Freude am Leben und am Dasein mit Weihnachten in Verbindung bringt. Weihnachten ist das Fest des Kindes – nicht nur das Fest, das mich daran erinnert, wie meine Kindheitsweihnachten waren, oder das Fest, das ich jahrelang für meine eigenen Kinder liebevoll und sorgsam gestaltet und vorbereitet habe. Es ist nicht nur das Fest, an dem wir Familienbesuch erwarten und unsere erwachsenen Kinder willkommen heißen oder unsere Eltern besuchen. Weihnachten bringt uns in Berührung mit unserem eigenen inneren Kind. Wohl dem, der darin eine Quelle der Freude findet.

Das innere Kind – wer ist das? In mir, in dir gibt es viele Anteile der Persönlichkeit. Da sind die inneren Antreiber, die mir sagen, was ich alles noch zu erledigen habe. Die sind in der Adventszeit besonders laut. Dann ist da noch der innere Kritiker, der mir spiegelt, an welcher Stelle ich mich unbedingt noch entwickeln muss. Oder die inneren Eltern, die mir im besten Fall Rückhalt und Fürsorge geben und die mir helfen, für mich selbst zu sorgen, wenn es mal wieder zu viel ist. Manchmal sind die inneren Eltern aber auch meine größten Kritiker und Antreiber, und dann braucht es Zeit und Arbeit, um ihre fürsorgliche und wohlwollende Seite zu finden.

 

Und dann ist da mein inneres Kind. Meine Erfahrungen aus meiner Kindheit, in meinem Leib und meiner Seele gespeichert. Meine Bedürftigkeit und meine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Meine Freude und meine Verletzlichkeit. Meine kindliche Neugierde und meine Unbefangenheit. Aber auch mein Gefühl des Alleinseins und meine Verlassenheit. Viele dieser Erfahrungen sind mir nicht bewusst. Manche sind so schmerzhaft, dass sie verborgen werden müssen. Zu manchen habe ich guten Kontakt. Und manche dringen an die Oberfläche, wenn ich gar nicht darauf vorbereitet bin.

Das innere Kind ist ein Bild aus der Psychologie. Ich finde es hilfreich für mein eigenes Erleben. Ich spüre: in jedem Menschen gibt es verschiedene Anteile, und es tut gut, diese verschiedenen Anteile anzusehen und zuzulassen, auch die vermeintlich schwachen Anteile wie die eigene Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Es tut mir gut, mein inneres Kind zu spüren und behutsam mit ihm umzugehen. Liebevoll mit mir selbst umzugehen und für mich zu sorgen. Dann nehme ich für mich selbst und meine verletzlichen Anteile die Rolle ein, die fürsorgliche Eltern für ihr kleines Kind einnehmen. Das tut gut.

 

Weihnachten ist das Fest des Kindes – das Fest des Kindes in der Krippe. Für mich ist es mit den Jahren auch das Fest des inneren Kindes geworden. Schön wäre es, wenn mein inneres Kind sich so unbefangen und unverstellt einfach freuen könnte, wie Matthias Claudius es beschreibt. Ich danke Gott und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe… Ich spüre aber auch: da gibt es Schmerzpunkte und Verletzlichkeiten, die sich gerade an Weihnachten melden. Nicht umsonst ist Weihnachten in vielen Familien das Fest der Konflikte. Stellvertretend wird über Strohsterne oder Lametta gestritten, über Gans oder Raclette. Aber eigentlich geht es doch um viel tiefere Dinge: siehst du meine Bedürftigkeit und nimmst sie wohlwollend wahr? Lässt du deine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit zu, und hältst du den Schmerz aus, der sich mit dem Gefühl deiner Verlorenheit und deines Alleinseins verbindet? Hältst du es aus, dass sich gerade an Weihnachten Deine Traurigkeit meldet, weil du einen Menschen verloren hast, ein Scheitern verarbeiten musst oder dich allein fühlst? Im Bild gesprochen: kannst du dein inneres Kind mit seiner Freude und seinem Schmerz einfach da sein lassen, es in den Arm oder auf deinen Schoß nehmen? Gerade heute – am heiligen Abend?

 

Mir hilft die Geschichte von Weihnachten. Ich bekenne: ich liebe Weihnachten. Nicht weil es so romantisch oder gar rührselig ist. Sondern weil die Weihnachtsgeschichte sich um das Kind dreht, in dem Gott zur Welt kommt. Martin Luther hat sich einen Weihnachtschristen genannt. Er nimmt sich Maria, die Mutter Jesu, zum Vorbild und formuliert einmal in einer Predigt: „Dieses Wunderzeichen muss in uns ohne Unterlass erneuert werden, ein jeglicher muss sich des Kindes annehmen, dass er sage und glaube, das Kind sei sein, wie die Jungfrau tat, da sie es empfangen hat. Ein jeglicher muss tun, als sei es ihm allein geboren.“

 

Für dich muss das Wunder geschehen, es ist so, als würdest du es selbst unter deinem Herzen tragen und zur Welt bringen, es selbst in den Arm und auf den Schoß nehmen. Dir gilt das Kind. Für dich muss es zur Welt kommen – Gott in diesem Kind. Und wenn Gott in diesem Kind ist – dann liegt darin die tröstliche und frohe Botschaft von Weihnachten. Gott wird selbst Kind, teilt die Erfahrung, die mein eigenes inneres Kind mit sich bringt. Teilt meine Verletzlichkeit, kennt und teilt meine Schmerzpunkte, meine Verlorenheit wie meine Freude. Mein inneres Kind ist nicht allein, sondern hat in Gott einen freundlichen und wohlwollenden Begleiter. Gott, der selbst Kind geworden ist, ist mir zum Heil gekommen. Damit ich in meiner Verlorenheit nicht allein bin. Damit meine Zerrissenheit heil und ganz wird. Damit in mir Freude wachsen kann. Freude, wie sie der Engel den Hirten auf dem Feld angekündigt hat. Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk, auch dir und mir, widerfahren wird. Euch ist ein Kind geboren, das euch heil macht, weil es euch mit eurem eigenen tiefsten inneren Schatz in Berührung bringt. Nehmt doch das Kind an euer Herz und lasst es in euch selbst zur Welt kommen. Und dann stimmt ein: Ich danke Gott und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, dass ich bin!, Bin! Und dass ich dich, schön menschlich Antlitz habe. Oder, mit Paul Gerhardt: so lass mich doch dein Kripplein sein: komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden. Amen.



Pfrn. Dr. Sibylle Rolf
Heidelberg, Deutschland
E-Mail: sibylle.rolf@wts.uni-heidelberg.de

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