Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 23.02.2020

Die Liebe Gottes: Sehen und gesehen werden
Predigt zu Lukas 18:31-43 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Marianne Frank Larsen

Die meisten Bilder sind gemalt, damit wir sie sehen sollen. Die Farben sind gewählt und das Bild ist komponiert, so dass unsere Blicke gefangen werden und wir in die Landschaft oder das Stadtbild oder das Ereignis einbezogen werden, die das Bild schildert. Wenn ich eines der Bilder des dänischen Malers Eckersberg von Rom sehe und von ihm beeindruckt bin, dann ist es als setze ich selbst meinen Fuß auf die Treppen zum Kapitol zwischen schönen italienischen Frauen und rauschenden Springbrunnen. So als träte ich an einem schönen Augenblick heraus aus dem Regen im Februar hinein in den Sonnenschein an am einem Frühlingstag in Rom. Und das eben war ja der Sinn des Bildes. Aber dann gibt es da auch andere Bilder. Das sind die griechischen, russischen und byzantinischen Ikonen, und die ältesten von ihnen sind viele hundert Jahre älter als Eckersberg. Auf einigen von ihnen sieht man keine Landschaft, kein Stadtbild, vielleicht nicht einmal ein Ereignis. Da ist vielleicht nur eine Person, und sie ist auf einem ganz glatten, goldenen Hintergrund dargestellt. Kein Springbrunnen, kein Sonnenlicht, keine schönen italienischen Frauen, die den Blick auf sich ziehen. Diese Bilder sind nicht gemalt, damit wir sie ansehen. Doch, das sind sie natürlich, aber Christus oder Maria auf den Ikonen sind vor allem gemalt, damit sie uns ansehen. Ganz gleich wo im Raum wir uns befinden, wir können uns diesem Blick nicht entziehen. Dieser Blick richtet sich direkt an uns und das, womit wir kommen. Auch das Regenwetter im Februar wird durch den Blick der Ikone erfasst.

Im Evangelium dieses Sonntags geht es auf den ersten Blick darum, dass man sehen kann. Das kann der blinde Bettler. Obwohl er blind ist, kann er sehen, dass nun jemand vorbeikommt, den er aufhalten kann und muss. Trotz seiner blinden Augen kann der blinde Bettler offenbar sehen, dass es die Liebe Gottes ist, die an diesem Tag in Jericho einzieht. Selbst diejenigen, die Augen im Kopf haben, können nur einen gewöhnlichen Mann von Fleisch und Blut, mit Körper und Gesicht, Armen und Beinen, Haut und Haaren sehen. Dass dieser Mann die Liebe Gottes ist – das ist vor den Blicken aller verborgen. Das zu sehen, ist für die Sehenden nicht leichter als für den Blinden. Und es wird auch nicht leichter für den Blinden, als er sein Augenlicht wieder bekommt. Denn das kann man nicht mit bloßem Auge sehen. Das kann man nur mit den Augen des Glaubens sehen, die offenen Augen im Herzen des Bettlers, sie veranlassen ihn, nicht nur beherrscht und still zu rufen, sondern zu schreien und darauf zu bestehen, gehört zu werden. Mit den Augen des Glaubens sieht der blinde Bettler, dass ihm alles daran liegt, von ihm gesehen zu werden, von ihm, der mit der Liebe Gottes kommt.

Der Blinde kann sehen, wer da kommt. Im Unterschied zu den Sehenden. Das ist die ironische Pointe in der Erzählung des Lukas, und es ist der Blinde, der sehen kann, und es sind die Sehenden, die hier im Evangelium vor der Fastenzeit blind sind. „Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen“, berichtet der Evangelist mit einer Sorgfalt, die fast diejenigen bloßstellt, die es nicht begreifen können, und er erzählt dies wohlgemerkt von denen, die in der ersten Reihe stehen, seinen Jüngern, die Jesus eng gefolgt waren, jedes Wort gehört und jede Handbewegung gesehen hatten. Man sollte meinen, wenn jemand imstande sein sollte zu sehen, wer er ist, dann sie. Aber sie können es nicht sehen.

Und das können wir ihnen so gesehen nicht verdenken. Denn auf dem ganzen Weg von Galiläa nach Jericho haben sie gesehen, wie er Menschen mit seinen guten Kräften heilte und Menschen mit seinen guten Worten in den Bann zog. Vielleicht haben sie auch einen Schimmer von der Liebe Gottes in seinen Taten gesehen und in seinen Worten gehört, und nun sind sie bereit, zusammen mit ihm die Hauptstadt zu erobern. Und dann sagt er, dass er verhöhnt und misshandelt und ausgepeitscht und getötet werden wird. Dass dies in Jerusalem geschehen wird. Und er kehrt nicht um und geht zurück, um dem zu entgehen. Kein Wunder, dass die Jünger nichts begreifen und nichts verstehen. Mit gewöhnlichen Augen betrachtet ist das ungeheuerlich. Sie haben sich offenbar geirrt. Er ist doch nicht die Liebe Gottes. Nicht wenn es so endet. Das macht keinen Sinn.

Das kann man nur mit den Augen des Glaubens sehen, dass das einen Sinn macht. Dass da ein Zusammenhang besteht zwischen der Liebe, die sie in seinen Taten und seinen Worten gesehen haben – und dem, wie das in Jerusalem enden sollte. Dass da eine direkte Verbindung besteht zwischen der Heilung des Blinden vor den Toren Jerichos heute bis zum Tode in knapp sieben Wochen. Dass er weitergeht hinauf nach Jerusalem und es sich gefallen lässt, dass er verhöhnt wird, ausgepeitscht und geschlagen, aus Barmherzigkeit, weil es ihm nicht um sich selbst geht, sondern weil er den Weg geht, den wir gehen sollen. Er nimmt unsere Fehler und Vergehen von unseren Schultern und trägt sie für uns den ganzen Weg bis zum Ende. Teilt nicht allein die Geburt und das Leben mit uns, sondern auch den Tod und das Grab, damit wir nie mehr uns selbst überlassen sein sollen. Das ist also der Preis für die Liebe, den er am Karfreitag bezahlt, und das ist die Liebe, die siegt, während sie ihn verhöhnen und bespucken und ihm das Leben nehmen. Seine eigene Liebe und die Liebe Gottes. Denn auf sie verlässt er sich, ihr gibt er sich hin, als er nach Jerusalem zieht. Die Liebe Gottes, der ihn am dritten Tag auferwecken wird von den Toten, wie er sagt. Erst dann können die Jünger und wir andere sehen, dass der ungeheuerliche Schluss ein Siegt ist. 

Der blinde Bettler am Weg sieht, wofür die Sehenden blind sind: In dem Mann aus Nazareth kommt die Liebe Gottes vorbei. Von nun an geht er nicht mehr hier und dort hin, wo die Leute ihn brauchen. Von nun an ist er auf dem Weg, „seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem“, von nun an hat er das Ziel vor Augen: Zielgerichtet, vorwärts, Schritt für Schritt dem Karfreitag entgegen. Die Jünger wollen den Blinden vertreiben und ihn zum Schweigen bringen. Sie sehen in ihm ein Ärgernis, ein Hindernis auf der Reise, an der sie teilnehmen. So sei doch still, wir haben wichtigere Dinge vor! Aber im selben Moment, wo Jesus die Rufe des Blinden hört, bleibt er stehen und sieht den Mann an. Er sieht offenbar etwas anderes in dem schreienden Bettler die Jünger. Keine Störung, die man ignorieren kann. Sondern einen Menschen, der sich auf seine Liebe verlässt.

An diesem Tag wurde der Bettler sehend. Aber vielleicht ist das nicht das Wichtigste, was ihm widerfährt. Viellicht ist das allerwichtigste, dass er gesehen wird. Dass da einer ist, der ihn nicht übersieht und wegläuft. Einer, der sein Gebet hört und stehen bleibt und in ihm etwas anderes sieht als einen blinden Bettler. Ihn sieht mit den Augen der Barmherzigkeit - als einen Menschen, der von Gott geschaffen und geliebt ist. Denn man kann wohl damit leben, dass man blind ist, aber man kann nicht damit leben, dass man übersehen wird. Der Blinde wird gesehen und anerkannt als der, der er ist, mit der Vorgeschichte und den Mängeln und dem Vertrauen, die er hat – und von der Liebe Gottes umfasst. „Sei sehend. Dein Glaube hat dir geholfen“. Mit diesen Worten öffnet Jesus nicht allein seine Augen, sondern sein ganzes Leben. Als dem Bettler erst die Augen aufgegangen sind, kann er sich nichts anderes vorstellen, als dem Mann zu folgen, der ihn sah, ihm zu folgen bis zum bitteren Ende. Mit seinen offenen Augen wird er sehen, welchen Preis der Sohn Davids für die Liebe bezahlt.

Wir kommen in die Kirche, um zu sehen, während wir hören. Hineinzusehen in eine Erzählung, eine Landschaft zu sehen, ein Stadtbild, ein Ereignis vor unserem inneren Blick, den Weg nach Jericho zu sehen

und den blinden Bettler – und Jesus, wie er vorbeikommt. Vielleicht können wir auch die Liebe Gottes sehen, die sich in dem Mann verbirgt, der stehenbleibt, wenn man ihn ruft. Und sieht, wo der Weg endet – eben hier bei uns. Aber es geht nicht nur darum, dass wir sehen sollen. Vielleicht verstehen wir im Laufe des Gottesdienstes, dass es vor allem wir sind, die gesehen werden. Gesehen von einem Blick wie dem, der uns in den Ikonen begegnet. Ein Blick, dem wir uns nicht entziehen können. Ein Blick, der uns ansieht – und der zu gleich etwas an uns vorbeiblickt, über uns hinweg auf das was hinter uns liegt. Denn so sind die Ikonen ganz bewusst gemalt. Und das ist die Pointe: Wenn wir Gott hier drin sehen, sollen wir die Wirklichkeit nicht hinter uns lassen. Denn er sieht uns und all das, was hinter uns liegt, so wie er den Blinden sah an diesem Tag auf dem Wege nach Jericho, er sieht unsere Mängel und Niederlagen und unsere Liebe, sieht die, mit denen wir zusammengehören, und die, die wir verloren haben, die ganze Geschichte, die vorausgeht, und all das, woher wir kommen. Aber auch den Himmel, der sich über uns wölbt. All das sieht er, wenn er uns sieht. Unser Leben, wie es nun einmal geworden ist und wie es nun im Regen im Februar ist. In seinen Augen ist es umschlungen von der Ewigkeit. In diesen Augen werden wir gesehen und umschlungen von der Liebe, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft und alles erträgt mit uns. Amen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
DK 8000 Aarhus C
E-Mail: mfl(at)km.dk

(zurück zum Seitenanfang)