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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 23.02.2020

Tag- und Nachtseite auf dem Planeten Seele
Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Udo Schmitt

(1. Begreifen tut weh)

Geht Ihnen das auch manchmal so, dass Sie etwas gehört haben, aber irgendwie doch noch nicht begriffen haben? Wie das kleine Kind, das von der Mutter hört: “Vorsicht, das ist heiß!” - “Aha, heiß”. Aber was das heißt, das begreife ich erst, wenn ich es ergreife, anfasse, berühre, dann erst habe ich es begriffen: Nicht “Aha...”, sondern: “Aua, das ist heiß!”

So erging es auch den Jüngern, wie wir gerade gehört haben: Da waren sie gerade mal wieder auf der Reise nach Jerusalem, um Passa dort zu feiern. Da zitiert Jesus, ihr Rabbi und Meister, ein Stück aus der Bibel. “Aha”, dachten sie: “Jesaja”. Der Menschensohn muss leiden “so, so...” - “Aua!”, hätten sie schreien müssen, nicht “Jesaja”, sondern “Jesus” ist gemeint. Er spricht von sich selbst, dies ist sein letzter Weg. Er bereitet sich auf das Sterben vor. Die Jünger wollten es nicht begreifen - konnten es wohl auch nicht begreifen, wahrscheinlich war es zu viel für sie, es ging über ihr Fassungsvermögen. Dies ist menschlich - nur zu verständlich.

(2. Wenn es zu nahe geht)

Vielleicht haben sie das auch schon mal erlebt oder gehört: Dass ein Mensch sich auf das Sterben vorbereitet, und es selbst ganz klar sieht, dass der Tod nahe ist. Doch seine Angehörigen, gerade weil sie dem Sterbenden so nahe sind, gerade weil ihnen sein Tod so nahe geht, können es nicht sehen und wollen es nicht wahrhaben.

So war es wohl auch für die Jünger: “Was unser geliebter Herr und Meister soll sterben? Ist es nicht gerade so schön? Und wie soll es weitergehen? Wie sollen wir ohne ihn weiterleben? Wie - wenn nicht durch ihn - die Liebe Gottes erleben?” Die Jünger konnten es nicht fassen. Überlastetes System - zack - Notfallabschaltung. Die Jünger schlossen die Augen vor der nahenden Katastrophe, sie konnten es nicht sehen, wollten es nicht verstehen. Und sie verstummten.

(3. Verstummen oder Schreien)

Und nun der ganz andere, der eine, der blind ist. Er hat all das nicht gehört, was Jesus gesagt hat, nur das eine hat er gehört, nämlich, dass er kommt. Und doch reicht das für ihn, um Jesus zu rufen. Und als sie ihn bedrängen, er solle doch Ruhe geben, er solle den Meister doch nicht stören, da verstummt er nicht, nein, er bleibt nicht stumm, er ruft, ach was, er schreit so laut er kann: “Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!”- “Hier bin ich, sieh mich an, nimm mich wahr, Herr erbarme dich, Kyrie eleison!” Und Jesus lässt sich stören, er erhört sein Begehren. Und am Schluss steht nicht ängstliches Schweigen, sondern freudiger, lauthalsiger Jubel, der ansteckend wirkt und sich ausbreitet, alle rufen: “Gepriesen sei Gott, Halleluja, preiset den Herrn!”

(4. Ein Blinder hat‘s geblickt)

Da haben wir also zwei ganz verschiedene Geschichten gehört, und doch bilden sie eine Einheit. Da sind auf der einen Seite die Jünger, die von Jesus selbst alles gehört haben; da ist auf der anderen Seite der Blinde, der nur wenig über Jesus gehört hat. Während die Jünger die Wahrheit nicht begreifen können, hat der Blinde es gleich geblickt: Jesus ist der Herr, durch ihn werde ich sehend.

Und während die Jünger noch zweifeln, und ihren Meister ängstlich zu schützen suchen, hat der Blinde nichts zu verlieren, mutig ruft er und lässt sich auch nicht davon abbringen, lässt sich nicht von den anderen entmutigen. Zum Schluss bleiben die Jünger sprachlos, der geheilte Blinde aber bricht in Jubel aus. Beide Geschichten ergänzen sich also wie Tag und Nacht. Die Jünger sind im Bereich der Nacht, ihnen bleibt alles dunkel, ihre Angst macht sie blind. Der Blinde aber ist im Bereich des Tages, ihm wird alles klar, sein Glaube macht ihn sehend.

(5. Licht und Schatten)

Und nun frage ich sie: Wo stehen wir? Wenn ich eine Linie einzeichnen würde, hier mitten im Gang und würde sagen: Die einen, denen es wie den Jünger geht, setzen sich hierhin, und die anderen, die sich wie der Blinde fühlen, dahin. Wohin würden sie sich setzen? Wie würden sie entscheiden? (…)

Gar nicht so einfach. Mal nachdenken. Also es gibt Tage, an denen ist mir alles klar, da scheint die Sonne, es fällt mir leicht zu Gott zu beten und es macht richtig Spaß, ihn zu loben und zu preisen. Dann gibt es aber auch die anderen Tage, an denen schieben sich Wolken vor die Sonne. Dann höre ich die Worte zwar, aber begreife sie nicht. So viele Fragen, und so wenig Antworten. Zweifel kommen auf und das Beten fällt mir schwer; ich werde immer leiser und immer stummer… Doch dann kommen auch wieder die Sonnentage, dann fallen die Fragen und Zweifel wieder von mir ab, und ich schlag mir gegen die Stirn und sage: “Mensch, was war ich blind, die Liebe Gottes hat dich die ganze Zeit umgeben, die Sonne war immer da, auch wenn ich sie nicht sah!” So geht es hin und her im Leben. Und also könnte ich mich weder auf die eine Seite, noch auf die andere Seite ganz stellen. Mal bin ich im Dunkeln wie die Jünger, mal bin ich im Hellen wie der Blinde. Licht und Schatten kommen über meine Seele wie die Gezeiten, wie Ebbe und Flut. Doch erfülle mich dies nicht mit Schrecken, sondern mit tief empfundener Demut. Ich bin hin- & hergerissen zwischen Verzagen und Mut. Doch Du, Gott, bleibst beständig der große Liebhaber, tust mir immer wieder und unendlich gut.

(6. Tag- und Nachtseite auf dem Planeten Seele)

Was lehrt uns nun die Geschichte? Vielleicht dies, dass es ein Unterschied ist, auf welchen Teil meiner Seele ich eher schaue, auf welche dieser Tage ich mein Leben baue. Ein jeder frage sich selbst: Welche von den Stunden, die hellen oder die dunklen, wird tiefer empfunden und prägt meine Entscheidungen? Denke ich voll Bangen und voll Zagen, auch an sonnigen Tagen, ich könnte, was ich habe, einst verlieren? Suche ich also das bisschen Glauben möglichst lange zu bewahren, meinen lieben kleinen Herrn Jesus zwischen meinen Händen zu bergen und zu schützen… Was wird mir dieses bisschen Glaube an dunklen Tagen nützen? Werde ich dann noch beten können oder es lieber lassen, aus Angst, mein Flehen bliebe unerhört, aus Furcht, mein Glaube könne mich verlassen? Oder halte ich auch an dunklen Tagen, die Türen mehr als einen Spalt breit offen, bin ich trotz all der Zweifel, all der Fragen, stets bereit, neu zu glauben, neu zu hoffen? Mache ich also meine Arme weit, um ihm, was mich bewegt, zu sagen, wenn es sein muss, mehr als einmal nur zu klagen, so bin ich offen - verwundbar und doch bereit, seine große Liebe ganz zu empfangen, und zu ergreifen die Arme, die mich umfangen.

(7. der Glaube, der sich preisgibt, wird bewahrt)

Keine Frage, Jesus hat es uns vorgelebt und vorgeliebt. Was ich ängstlich suche zu bewahren, geht verloren, der Glaube aber, der sich preisgibt, wird bewahrt. Das Hoffen, das sich kundtut, wird erhört, und die Liebe, die sich hingibt, wird den Sieg behalten.

Und dies ist es was ich Ihnen zum Schluss wünsche:
Dass Sie an sonnigen wie an dunklen Tagen, von der Liebe her und auf die Liebe hin leben, dass Sie mutig Ihren Glauben bekennen, auch wenn die anderen Sie entmutigen, und dass Sie offen und beständig im Gebet bleiben, als gäbe es nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen.

 

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Liedvorschläge:

Zum Eingang: „Lasset uns mit Jesus ziehen“ (EG 384),
            oder „Wir gehnhinauf nach Jerusalem (EG.E 3),

Lied zur Epistel: „Liebe, die du mich zum Bilde“ (EG 401),
            oder:    „Liebe ist nicht nur ein Wort“ (RG RWL 665 / HuE 264),

Lied nach der Predigt: „In dir ist Freude“ (EG 398),

Zum Schluss: „Jesu geh voran“ (EG 391).

 

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Udo Schmitt, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, von 2005-2017 am Niederrhein, seit 2017 im Bergischen Land.



Pfarrer Udo Schmitt
Wülfrath (Düssel), Deutschland
E-Mail: udo.schmitt@ekir.de

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