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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 23.02.2020

Ein Blinder versteht
Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Bernd Giehl

Wie schreiend ungerecht das Leben doch sein kann. Man muss nicht Hiob heißen um das erfahren zu haben. Man kann auch ein ganz normaler Mensch sein, einer wie du und ich. Man träumt seine ganz normalen Träume vom Hausbau, von der Familiengründung, vom Weiterkommen im Beruf. Man plant sein Leben und zunächst geht ja auch alles gut. Man findet eine Partnerin oder einen Partner, man versteht sich, erlebt gemeinsam Höhen und Tiefen des Lebens. Und irgendwann kommt der Schicksalsschlag, der einen aus der Bahn wirft. Die Bank kündigt den Kredit für das Haus, das man gerade gebaut aber noch nicht ansatzweise abbezahlt hat, die Firma in der man arbeitet wird verkauft und der eigene Arbeitsplatz wird wegrationalisiert, es gibt Spannungen mit der Partnerin, die verlässt einen und am Ende ist alles weg: Haus, Frau, das ganze alte Leben.

Das Leben kann sehr ungerecht sein. Oder uns zumindest so erscheinen. Und was hernach kommt, wissen wir nicht. Ob Gott es so wollen kann? Man sagt von ihm, dass er alles bis zum Ende hin übersehe und dass er alles zum Guten führe. Aber ob das auch stimmt? Wer will das wissen?

 

*

 

Ja sicher. Das waren schon einigermaßen ketzerische Gedanken. Wahrscheinlich wären Sie mir auch nicht in den Sinn gekommen, wenn ich mich nicht mit dem Predigttext hätte auseinandersetzen müssen. So oder so ähnlich werden wohl die Jünger gedacht haben, als Jesus ihnen ankündigt, dass sie nach Jerusalem hinaufgehen und er dort ein schlimmes Schicksal erleiden werde. Er selbst beschreibt es ja mit drastischen Worten: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem und es wird alles vollendet werden, was durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tag wird er auferstehen.“ (V31-33)

Merkwürdigerweise macht das Lukasevangelium kurzen Prozess mit den Jüngern. Es lässt sie nicht einmal zu Wort kommen. Lukas schneidet ihnen regelrecht das Wort ab, indem er abschließend formuliert: Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen und sie begriffen nichts, was damit gesagt war. (V34)

Dreimalige Verneinung. Härter hätte er sein eigenes Unverständnis wohl kaum ausdrücken können. Schlechte Schüler diese Jünger. Nichts gelernt. Sechs! Setzen!

 

*

 

Aber gut. Wir sind ja nicht verpflichtet, diesem Urteil zu folgen. Wir können uns ja auch ein Stück weit in die Jünger hineinversetzen. Immerhin haben sie Beruf und Familie verlassen und sind Jesus nachgefolgt. Sie haben auf vieles verzichtet, auf Geld, auf Bequemlichkeit, auf die Gewissheit, dass sie am Mittag oder am Abend etwas zu essen bekommen. Sie sind dahin gegangen, wo der Meister hinwollte. Sie haben alles ertragen, weil ihnen seine Botschaft vom kommenden Gottesreich einleuchtete, weil sie seinen Wundern glaubten und weil er etwas hatte, was sie sonst bei keinem anderen Menschen so erlebt hatten. Eine Überzeugung von der Güte Gottes, die das Leben der Menschen trägt. Und dann war plötzlich der Tsunami über sie gekommen und Jesus hatte ihn nicht abgewendet.

In dem Moment war ihnen alles fraglich geworden: ihr Leben, Jesus, Gott. Was war das für ein Gott, der seinen Gesandten, Jesus in diesen Sturm schickte, in dem er vermutlich umkommen würde. Und was war das für ein Gesandter, der sehenden Auges in ihn hineinging, wissend, dass der Sturm ihn wahrscheinlich umbringen würde. Noch konnten sie umkehren, nach Galiläa gehen, wo sie vermutlich sicher waren. Niemand konnte von einem verlangen, dass er in das Auge des Sturms hineinging. Auch Gott konnte das nicht.

Nein, sie verstehen nicht. Das zumindest ist wahr. Die Frage ist nur: Gibt es da etwas zu verstehen oder ist das alles nur kaltes Schicksal?

 

*

 

Und dann der Blinde. Ein Bettler am Weg. Ein Bettler, den man normalerweise nicht beachtet. Gibt sowieso viel zu viele von ihnen. Sie sind lästig.

Aber diesmal könnte er uns retten. Retten vor den Fragen, die wir nicht beantworten können. Also sollte er uns willkommen sein. Egal, wer ihn uns gerade über den Weg geschickt hat. Ob das nun der Evangelist selbst war oder irgendjemand sonst.

Nein, ich glaube nicht, dass die Jünger ihn sehen. Dafür sind sie viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Warum der Meister seinem Schicksal nicht zu entkommen trachtet. Warum er nicht flieht. Oder meinetwegen kämpft.

Der Blinde hört, wie sie vorübergehen. Nur noch ein paar Augenblicke, dann sind sie weg. Aber er weiß, dass das die Chance seines Lebens ist. Die kommt nie wieder. Also ruft er, so laut er kann: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich mein.“

Auch er: ein vom Schicksal geschlagener. Er gehört nicht dazu. Vielleicht hat er noch nie dazu gehört. Blind sein, taub sein, nicht gehen können, das sind alles Strafen Gottes. Wahrscheinlich sitzt er schon viele Jahre hier auf diesem Platz, wo möglichst viele Menschen vorübergehen. Hier hat er noch die größten Chancen, dass irgendjemand ihm etwas gibt, damit er auch den nächsten Tag noch überleben kann.

Erstaunlich, dass er den Mut aufbringt, sich bemerkbar zu machen. Vermutlich weil irgendjemand Jesus angeredet hat. Und weil er von diesem Jesus schon einmal gehört hat. Dass der Gottes Sohn sei. Dass der im Namen Gottes Menschen heilen könne. Ob er noch an Gott glaubt? Vielleicht weniger an Gott, aber dass dieser Jesus ihm helfen kann, daran glaubt er. Also schreit er aus vollem Hals: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich mein.“ Die anderen wollen ihn zum Schweigen bringen, aber er schreit nur noch lauter: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich mein.“ Und dann hört ihn Jesus. Und lässt ihn zu sich bringen. Fragt ihn: „Was willst du von mir?“ Und dann passiert, was alle erwarten: Jesus heilt ihn.  

Nein, man muss es noch ein wenig anders erzählen: Jesus hört den Blinden nicht nur; er sieht ihn auch. Und er sieht ihn anders als all die anderen, die mit ihm ziehen. Er sieht ihn nicht nur als Teil der Landschaft. Vermutlich sitzt er immer am gleichen Platz. Es ist der Platz, den der Zufall ihm bestimmt hat. Auch ein Blinder braucht einen Platz, wo er leben, essen, schlafen und auch betteln kann. Vermutlich wird er ihn nicht wechseln. Warum auch? Er sieht ihn ja nicht. Er nimmt nicht wahr, ob er schön oder hässlich ist. Ein Platz ist für ihn wie der Andere. Wichtig ist nur, dass viele vorbeigehen. Und so wird er eben irgendwann Teil dieses Platzes. Man nimmt ihn nicht mehr wahr, allenfalls als Randfigur, der man etwas gibt oder auch nicht. Er ist ein Stein, ein altes unansehnliches Möbelstück, das man auf den Speicher stellt und vergisst.

Und dann kommt Jesus und nimmt ihn wahr. Redet mit ihm. Stellt ihm eine Frage. Behandelt ihn als Mensch. Und er kann – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – einen eigenen Wunsch äußern. „Herr, ich möchte sehen können.“

Auf einer symbolischen Ebene könnte man sagen: Das Wunder ereignet sich, weil er angesehen wird. Weil er als Mensch wahrgenommen wird. Ich weiß nicht, ob das als Erklärung genügt. Ich weiß nur, dass wir eine andere nicht bekommen.

 

*

 

Aber ich glaube, da ist noch mehr zu sagen. Es ist sicher kein Zufall, dass Lukas die Heilung des Blinden nach der dritten Leidensankündigung erzählt, in der er so prononciert das Unverständnis der Jünger zur Schau gestellt hat. Es ist als wollte er sagen: Seht her, wie blind diese Jünger sind. Sie, die doch so lange Zeit mit Jesus gegangen sind, verstehen ihn nicht, aber der Blinde versteht ihn. Dabei ist er doch angeblich blind.

Aber das ist er doch wirklich, erwidern wir. Wäre er es nicht, so bräuchte er doch nicht zu rufen.

Und was ruft er?

Sohn Davids, erbarme dich mein.  

Also hat er den Messias erkannt.

Ja, sagen wir, du hast Recht. Er hat den Messias erkannt und nun folgt er ihm.

 

*

 

Verstehen wir jetzt besser? Ich glaube nicht. Der Blinde ist geheilt worden und nun will er dem, der ihm geholfen hat, überall hin folgen. Wohin er auch geht. Es ist fraglich, ob Lukas ihn nicht überfordert, indem er ihm die Rolle des einzig Sehenden aufbürdet. Immerhin: er hat erkannt, dass Jesus voller Liebe ist. Voller Liebe zu denen, die am Rand stehen. So wie er. So wie viele. Mit dieser Liebe eckt er an. Es gibt viele, die ihn nicht verstehen. Und einige, die ihn sterben sehen wollen.

Dennoch hat Jesus sich von seiner Aufgabe nicht abbringen lassen.  Er hat das damit begründet, dass er zu den verlorenen Schafen Israels gesandt ist. Dass er nun nach Jerusalem geht, ins Zentrum des Aufruhrs um seine Person, ist wohl nur zu verstehen, wenn man die Figur des leidenden Gottesknechts bemüht, mit der ja auch die Evangelisten sein Leiden und seinen Tod gedeutet haben.  „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsere Schmerzen und lud auf sich unsere Krankheit. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsere Missetat willen verwundet und um unsere Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt."

Der Mann, der für Andere leidet. Der notfalls sogar für sie in den Tod geht, weil er seiner Aufgabe nicht untreu werden will. Jesus wird nach Jerusalem gehen, leiden und sterben und dann wird er auferstehen. Wir wissen es. Es ist uns bezeugt. Vielleicht verstehen wir es immer noch nicht ganz, so wie die Jünger es damals nicht verstanden haben. Aber eines Tages werden wir es verstehen.

 



Bernd Giehl

E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

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