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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 20.04.2008

Predigt zu Offenbarung 15:2-4, verfasst von Isolde Karle

Lied der Befreiten

Der Predigttext für den kommenden Sonntag steht in Offenbarung 15, die Verse 2-4. Der Seher Johannes berichtet von einer Vision:

„Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig. Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden."

Liebe Gemeinde,

von einer fremden und zugleich großartigen Vision erzählt unser Predigttext. Die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu stehen an einem gläsernen Meer und singen mit den Harfen Gottes ein Lied der Befreiung, ein Lied des Jubels. Das Lied der Befreiten erzählt von den großen Taten Gottes.
Die Musik eignet sich in besonderer Weise dazu, Erfahrungen von Befreiung, von Ekstase und Freude Ausdruck zu geben. Aber es kommt auch vor, dass Musik und Gesang selbst zum Schlüssel für Erfahrungen der Befreiung werden. Davon will ich Ihnen heute erzählen.

Vielleicht kennen einige von Ihnen den Film Vaya con Dios des deutschen Regisseurs Zoltan Spirandelli. Seiner Musikbegeisterung gibt Spirandelli in einer witzigen und zugleich ergreifenden Erzählung über die Cantorianer, einem fiktiven Orden in Brandenburg, Ausdruck. Der Film wurde  mit dem bayrischen und mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet.

Worum geht es in dem Film? Die Cantorianer wohnen in einem brandenburgischen Kloster und verehren Gott im Gesang - mehrmals am Tag kommen sie zusammen, um mehrstimmig zu singen. Kurz nach der Wende steht das vorletzte Kloster des Cantorianer-Ordens allerdings vor dem Ruin: Baufällig und heruntergekommen können die Mönche die Klosteranlage nicht mehr halten. Die Eigentümerin verlangt die Begleichung der Schulden. Abt Stephan, der sein Kloster von der Außenwelt abgeschirmt hielt, sieht durch diese Ankündigung seine Lebensaufgabe zerrinnen: Ein Ordensleben, das keine Kirche benötigt, sondern nur den Klang, die Musik, das geistliche Lied, in dem sich der Heilige Geist offenbart. Für die Cantorianer liegt der Schlüssel zu Gott und zum Glauben nicht in Ritual und Gebet, sondern im Gesang. Deswegen wurden sie seit dem 17. Jahrhundert verfolgt und konnten nur noch an zwei Orten überleben: Neben dem Mutterkloster in Italien hier in Brandenburg. So jedenfalls will es die fiktive Geschichte des Films.

Am Sterbebett gibt Abt Stephan seinen drei verbliebenen Confratres den Auftrag, die „Regula Cantorianorum", die Ordensregel, mitzunehmen, das brandenburgische Kloster aufzugeben und sich dem italienischen Mutterkloster Montecerboli anzuschließen und die Regula Cantorianorum der dortigen Klosterbibliothek anzuvertrauen. So machen sich der bibliotheksvernarrte Benno, der von einem ostdeutschen Bauernhof stammende Tassilo und der im Kloster aufgewachsene junge Mönch Arbo auf den Weg zu ihren Glaubensbrüdern nach Italien. Dabei müssen sie sich dem Leben aussetzen, von dem sie sich bislang ferngehalten haben. Jeder der drei gerät dabei auf je seine Weise auf Abwege.

Nachdem Tassilo und Arbo wieder zueinander und zu ihrer Mission zurückgefunden haben, versuchen sie auch Benno wiederzugewinnen. Benno ist mittlerweile in einem Jesuitenkloster in Süddeutschland gelandet. Zu riskant und ungewiss ist ihm die Reise nach Italien geworden. Im Jesuitenkloster soll er die Musikpartituren der reichen Jesuitenbibliothek katalogisieren und edieren. Ein Angebot, dem er nicht widerstehen kann. Arbo und Tassilo wissen, dass sie es sehr schwer haben werden, ihn wiederzugewinnen. Nicht Argumente und Vernunft, nur die Musik könnte Bennos Herz erreichen - und Benno wieder in Kontakt zu seinen wirklichen Sehnsüchten und Hoffnungen bringen.

Die beiden verfolgen einen ausgeklügelten Plan. Sie besuchen einen Gottesdienst der Jesuitengemeinschaft, zu dem auch Benno gekommen ist. Eine Freundin, die sie auf der Reise kennengelernt haben, bezirzt den Kantor an der Orgelbank und kann diesen dazu bringen, statt des angeschlagenen Liedes das Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten" anzuzeigen und zu spielen. Die Gemeinde ist zunächst verwundert, stimmt dann aber mit etwas kläglichem Gesang ein. Da beginnt Arbo plötzlich im zweiten Teil der ersten Strophe mit seiner glockenhellen Falsettstimme mitzusingen. „Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten, in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott den Allerhöchsten traut, der hat auf keinen Sand gebaut".

Als die zweite Strophe beginnt, ertönt nun auch unüberhörbar Tassilos sonore Tenorstimme am anderen Ende des Kirchenschiffs. „Er kennt die rechten Freudenstunden, er weiß wohl, wann es nützlich sei; wenn er uns nur hat treu erfunden und merket keine Heuchelei." Da hält es Benno nicht mehr auf seinem Sitz. Obwohl es der Jesuitenvorsteher zu verhindern sucht, steht Benno ergriffen auf und stimmt mit seinem tiefen Bass in den Gesang mit ein. Er setzt bezeichnenderweise bei dem Wort „ Heuchelei" ein. Dann fährt er zunächst alleine - und bekenntnishaft - fort: „so kommt Gott, eh wirs uns versehn, und lässet uns viel Guts geschehn."
 
Mittlerweile ist die Gemeinde und der Organist verstummt. Sie werden Zeuge eines himmlischen Gesangs und einer himmlischen Berufung und hören nur noch gebannt und verwundert zu. Es ist wie bei der Vision des Johannes: Man hat das Gefühl, göttliche Musik und himmlischen Lobpreis zu hören. Selbst die Freundin, die in den Plan von Arbo und Tassilo eingeweiht ist, ist so betroffen, dass sie die Flucht ergreift. Sie will Arbo, den sie liebt, nicht von dieser himmlischen, bewegenden Musik und seinen Glaubensbrüdern entfernen.

Die Cantorianer singen die letzte Strophe - „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht." Inhalt und Gesang sind eine Botschaft aus einer anderen Welt und treffen doch mitten in diese Welt. Sie rufen Benno aus den sicheren und privilegierten Mauern des Jesuitenordens zurück auf Gottes Wege. Sie erinnern ihn in zutiefst existentieller Weise daran, dass er sich auf Gott verlassen kann, auch wenn ihm im Moment seine Zukunft unwägbar und gefährdet erscheint.

Kantate - singt. Das ist das Thema des kommenden Sonntags, das ist die Aufforderung, die nach Ostern an die christliche Gemeinde ergeht. Ostern ist ein Grund zur Freude und wer kann der Freude besseren und nachhaltigeren Ausdruck geben als die Musik? Musik ist eine wirklichkeitsverändernde Kraft. Musik hilft uns, uns selbst zu vergessen und in etwas einzutauchen, das größer ist als wir. Lieder haben dabei den besonderen Vorzug, den musikalischen Klang mit Text zu koppeln und uns im gemeinsamen Singen zu einer Gemeinschaft über alle Unterschiede hinweg zu verbinden. 

Benno findet Befreiung in der Musik, im geistlichen Lied. Das Lied und die Musik - sie berühren seine Seele. Sie befreien ihn von äußeren Zwängen und verlockenden Angeboten, die ihn letztlich doch nur korrumpieren. Die Musik befreit Benno, einen riskanten Weg zu gehen, der ihn am Ende aber glücklich macht. Der Weg zum Kloster wird zum Weg, der den Erfahrungshorizont der Brüder verändert. Am Ziel angekommen lernt Benno in der Bibliothek des italienischen Mutterklosters einen Confrater kennen, mit dem zusammen er die Forschung in der Bibliothek zu neuer Blüte treibt.

Natürlich begegnet uns Gott auch im Gebet, im Ritual und in der Wortverkündigung. Aber die biblische Überlieferung, die mit den Psalmen das wohl wichtigste Liederbuch des Judentums und des Christentums enthält, wie die reformatorische Bewegung lassen keinen Zweifel daran, dass die Musik und der Gesang das Herz und die Gemüter der Menschen in besonderer Weise berühren. Musik und Gesang, das war die Überzeugung Martin Luthers, befreien in besonderer Weise von Niedergeschlagenheit und Traurigkeit und verbinden den Inhalt des Evangeliums mit Gefühlen der Lust und der Freude.

Musik und Gesang sind die sinnliche Seite der evangelischen Kirche. Nur als Singbewegung wurde die Reformation zur Bewegung des Volkes. Nur auf diese Weise hat sie sich stürmisch ausgebreitet und eine große Wirkungskraft entfaltet. Im Gesang wurde das Volk mündig - wie die Cantorianer, die sich durch ihren Gesang unabhängig von der Mutterkirche machten und sich in unmittelbare Nähe zu Gott fühlten.

Entscheidend ist dabei nicht nur, wie wir etwas singen, sondern auch was wir singen. Johannes erzählt in seiner Vision vom Lied der Befreiten. Es ist das Lied des Mose, das Mirjam als Antwort auf die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten singt. Es ist ein Lied, das Gott als den besingt, der aus Gewaltherrschaft und Not herausführt. Mirjams Siegeslied ist, so meinen manche, das älteste Lied, das uns biblisch überliefert ist. Durch ihr leidenschaftliches Lied animiert Mirjam das Volk dazu mitzutanzen und jubelnd einzustimmen in das Lob Gottes.

Das Lied der Befreiten ist auch das Lied von Jesus Christus. Es ist das Lied vom Mensch gewordenen Gottessohn, der vom Himmel auf die Erde gekommen ist, um Menschen aus Unterdrückung, aus falschen religiösen Zwängen, aus Krankheit und Kummer zu befreien. Die Lieder der Kirche künden vom Lob Gottes über solche Freiheitserfahrungen, in denen sich Himmel und Erde berühren.

Mose, Mirjam und Jesus sind gefährliche Wege gegangen und haben viel riskiert. Ihre Wege waren oft mühsam, nicht selten auch frustrierend. Aber vom Ende her gesehen - oder sollen wir sagen: von oben her gesehen, aus der Perspektive des Himmels, des gläsernen Meeres, seiner Klarheit und Durchsichtigkeit, in der die Chaosmächte gebannt sind - ist es ein Weg der Befreiung, ein Weg, der zum Leben und zum Lob führt. Mose darf von Ferne das gelobte Land sehen. Und Jesus bleibt nicht im Tod, sondern erscheint seinen Jüngerinnen und Jüngern als der Auferstandene und befreit sie von Dunkelheit und Depression.

Deshalb singen wir. Im Lied drücken wir unsere Erfahrungen aus und gehen doch weit über sie hinaus. So wendet sich Johannes mit seiner Vision an eine unter großem Druck stehende Gemeinde und fordert sie mitten in Anfechtung und Zweifel zum Singen, zum Lob Gottes auf. Wir singen mehr, als wir sagen können. Im Lied wachsen wir über unsere Gegenwart hinaus und nehmen Gottes Zukunft vorweg, wie Johannes. Musik und Lied befreien uns schon jetzt und hier in wohltuender Weise von der Enge alltäglichen Lebens. Die Lieder sind es, die unsere Hoffnung lebendig werden lassen, die uns etwas erahnen lassen von der Zukunft Gottes.

„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht." Dieses Lied wurde im Film Vaya con Dios sowohl durch seinen Inhalt als auch durch seine kunstvolle Darbietung zum Ruf der Umkehr für Benno. Es hat ihn zur Freiheit geführt, es hat ihn innerlich berührt und daran erinnert, von welcher Hoffnung, von welcher Zuversicht er letztlich lebt - in der Gegenwart bis in alle Ewigkeit.

Deshalb „kantate"! Singt das Lied der Befreiten und lebt in solcher Hoffnung und Zuversicht. Amen.
 

Prof. Dr. Isolde Karle
Lehrstuhl für Praktische Theologie
Ruhr-Universität Bochum
D-44780 Bochum

E-Mail: Isolde.Karle@rub.de

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