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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Rogate, 27.04.2008

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 32:7-14, verfasst von Wolfgang Vögele

Der Gott der Freiheit gegen den Gott unserer Wünsche

„Der HERR sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat. Und der HERR sprach zu Mose: Ich sehe, daß es ein halsstarriges Volk ist. Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose aber flehte vor dem HERRN, seinem Gott, und sprach: Ach, HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, daß er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und laß dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte."

Liebe Gemeinde, diese berührende und faszinierende Geschichte will uns Hoffnung machen. Sie bringt die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen in unerhörter Weise zur Geltung. Diese Geschichte packt uns förmlich in Gefühlen, Gedanken und Stimmung. In fünf Teilen will ich Ihnen das nahebringen.

 

1. Keine Predigt ohne Dalai Lama oder Was geschieht im Konfirmandenunterricht?

'Naja, und natürlich der Dalai Lama!' sagte die Konfirmandin mit einem leichten Zögern in ihrer Stimme. Der gutmütige Pfarrer war ehrlich überrascht von dieser Antwort und fragte nach: Wie kommst du auf den Dalai Lama? Die Konfirmandin zuckte die Achseln und schwieg. Der Pfarrer gab die Frage in die Runde weiter: Könnt ihr das auch so sehen? Ist der Dalai Lama einer der Götter, die wir im Moment anbeten? Langes Schweigen.

Der Pfarrer hatte seinen wenigen Konfirmanden genau diese biblische Geschichte vorgelesen. Das Volk Israel zieht aus Ägypten aus. Dort war es versklavt. Das Volk Israel kommt an den Berg Sinai. Mose erhält die Tafel mit den 10 Geboten, den Regeln für ein gutes Leben. Später murrt das Volk, weil die Wanderung durch die Wüste so lange dauert. Man kommt ein zweites Mal an den Sinai. Mose bleibt 40 Tage lang oben auf dem Gipfel und ist Gott nahe. Unten, beim Volk, weiß keiner richtig Bescheid. Unsicherheit breitet sich aus. Und Moses' Bruder Aaron beschließt: Wir machen uns einen eigenen Gott. Wir gießen ein goldenes Kalb, das wir anbeten können. Das wird uns helfen, wenn Mose und der Gott dort auf dem Sinai uns verlassen haben.

Diese Geschichte hatte der Pfarrer erzählt, die Gruppe hatte sie wiederholt, die entscheidenden Wendepunkte markiert. Dann hatte der Pfarrer die schriftliche Aufgabe gegeben: Überlegt einmal, welche anderen Götter wir heute haben! Zehn Minuten stille Einzelarbeit, dann vergleichen wir.

Und zehn Minuten später war die Gruppe am Vergleichen. Je länger der Pfarrer die Antworten anhörte, desto mehr dachte er. Irgendwie ist das nicht, was ich erwartet hatte. Erwartet hatte er Antworten wie die folgenden: Unsere Götter sind der Konsum, die teuren Autos von Ferrari, die Popstars von Tokio Hotel, unermeßlicher Reichtum, überbordender Luxus mit Brillanten in allen Farben, traumhafte Fernreisen, zum Exzess getriebene Eitelkeit, Schönheit bis in die letzten Hervorbringungen plastischer Chirurgie. Aber darauf kam kaum einer der Konfirmanden in seiner Einzelarbeit.

Manche Konfirmanden hatten in den Nachrichten wohl einmal diesen Satz gehört: In seiner Heimat Tibet wird der Dalai Lama wie ein Gott verehrt. Also muß er einer der Götter sein, über den der Pfarrer im Konfirmandenunterricht aus undurchsichtigen Gründen gerne nähere Auskunft hätte. Ein Konfirmand würde sagen: Der Pfarrer stellt in jeder Stunde nervige Fragen.

Ich verlasse hier die Erzählung aus dem Konfirmandenunterricht, leider in einer Situation in der beide ratlos waren, Pfarrer und Konfirmanden. Und ich will zusehen, daß wir aus dieser doppelten Ratlosigkeit doch noch einige Erkenntnisse und danach eine Ermutigung für den Glauben herausziehen können.

 

2. Toleranz und Götterkampf

Zuerst: Selbstverständlich verdient der Dalai Lama allen Respekt in der Ausübung seiner Religion. Das haben alle Konfirmanden auch unbewußt im Sinn, wenn sie heutige Götter aufzählen. Wir leben in einer Gesellschaft der Religionsfreiheit: Jeder Mensch entscheidet eigenständig, welchem Gott oder welchen Göttern er dient, welcher Religion er anhängt. Und selbstverständlich hat auch jeder die Möglichkeit, die Anbetung eines Gottes ganz und gar abzulehnen.

Moderne Gesellschaft akzeptieren in bestimmten Grenzen unterschiedliche Religionen und ganz unterschiedliche Götter. Die Soziologen und Juristen: Wir haben mit unseren Methoden gar keine Möglichkeit, wahre von falschen Göttern zu unterscheiden.

In der Gesellschaft Israels, die am Fuße des Sinai lagerte, gab es ebenfalls unterschiedliche Götter: den Gott Israels auf dem Berg und das Goldene Kalb, das dem Volk viel näher war. Aber aus der biblischen Geschichte wird eines deutlich: Man war nicht tolerant in dem Sinne, daß man jedem seine Religion zugestand, sondern man traf eine ganz andere, viel kräftigere und folgenreichere Unterscheidung: Auf der einen, der guten Seite steht der eine wahre Gott der Bibel, und auf der anderen, der bösen Seite, stehen die falschen, wirkungslosen und ohnmächtigen Gottesbilder, noch schärfer formuliert die Götzen.

Beides paßt nicht spannungsfrei zusammen, die moderne tolerante Gesellschaft der Religionsfreiheit und die alte israelische Stammesgesellschaft, in der die Anhänger Gottes und die Anhänger des Goldenen Kalbes gewalttätig und grausam miteinander kämpften.

Die Frage stellt sich: Kann man beides zusammen denken, Toleranz und Religionsfreiheit, auf der anderen Seite einen festen und vertrauensvollen, aber gewaltfreien Glauben an den barmherzigen Gott der Bibel?

 

3. Die Heimat der Geschichten

Bevor ich auf diese Frage weiter eingehe, will ich eine andere Frage stellen: Wieso brauchen wir diese Geschichten? Die Geschichte vom Goldenen Kalb, die unseren Ohren doch so merkwürdig und unzeitgemäß vorkommen mag. Wir haben doch keine Götter mehr. Wir stehen nicht mehr am Fuß des Sinai. Wir warten nicht auf einen Propheten, der uns eine Tafel mit 10 neuen Geboten bringt. Und dennoch wage ich die Behauptung: Christlicher Glaube besteht wesentlich darin, sich zuhörend und behutsam in solche Geschichten hineinzubegeben, abzutasten und zu spüren, was sich daraus an Wahrheit, Vertrauen, Hoffnung entnehmen läßt. Christlicher Glaube besteht darin zu lernen, einem, nein dem Gott zu begegnen, der der Gott der Juden und Christen ist, dem wahren Gott, dem barmherzigen Gott, dem Gott, der nicht den Bildern entspricht, die wir uns von ihm machen.

Ich finde das ganz entscheidend wichtig: Menschen, die diesem biblischen Gott begegnen, machen einen kräftigenden und hoffnungsvollen Prozeß der Veränderung durch. Und diese Veränderungsprozesse gehören zum Aufregendsten und Schönsten, was die Bibel für uns bereit hält.

Aus dem greisen, vom Leben gezeichneten Abraham wird plötzlich ein Wanderer, der ins Ungewisse zieht, der in hohem Alter Vater wird und eine ganze Reihe von Abenteuern zu bestehen hat. Aus dem kleinen Mose, der Angst hat, in der Öffentlichkeit eine Rede zu halten, wird der Anführer des versklavten Volkes Israel. Und er bietet dem allmächtigen Pharao die Stirn. Der kleine Hirte wird zum großen Propheten Gottes, der dem Volk die Gesetze überbringt.

Die Bibel zeichnet keine Klischees, sondern schwierige verletzte und versehrte Menschen, die sich auf eine Gratwanderung begeben, zwischen Glaube und Zweifel, zwischen Anstand und Eigeninteressen, zwischen  Gemeinwohl und Selbstsucht, zwischen Gotteshaß und Gottestreue. Darauf kommt es an, auf die Veränderung, auf die Bewegung, auf das psychologisch Flackernde, nicht Fixierbare, nicht Feststellbare. Darum höre ich gern die Geschichte des mächtig-ohnmächtigen Mose, des unzuverlässigen Aaron, aber ganz genauso von Josef, Abraham, David, Noah und nicht zuletzt die Geschichte des Jesus von Nazareth. Darum geht es in der Gemeinde: den Menschen etwas von dem Gott nahe zu bringen, der die Menschen auf eine barmherzige Weise leise, aber stetig und nachhaltig verändert, sie hinführt zu einer Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.

 

4. Auf dem Berg: Mose verändert sich

Mose war ein Findelkind, das Baby schwebte im Schilfkörbchen auf dem Flußwasser des Nil. Vom Sklaven und Hirten war er aufgestiegen zum Anführer des flüchtigen Volkes Israel. Die Wüstenwanderung aber zog eine Krise nach der anderen nach sich: Es dauert zu lange. Zu wenig Nahrung. Zu wenig Getränke. Zu wenig Ordnung im Volk. Zu wenige Regeln. Zu wenig Fortschritt. Dem Mose stellten sich Aufgaben, um die er nicht zu beneiden war. 

Aber zur Überraschung des Volkes und, wer weiß, vielleicht auch zur Überraschung Gottes meisterte er sämtliche politischen Aufgaben. Gott zog ihn ins Vertrauen. Er rief ihn hoch auf den Berg. Und dort, im Gespräch zwischen Gott und Mose, geschieht etwas ganz Ungeheuerliches. Mose wagt es, Gott zu widersprechen. Der ist es, ganz menschlich, leid, jedes Mal das murrende Volk wieder auf seine Seite zu ziehen. Ein halsstarriges Volk verdient nichts anderes als Zorn und Unheil. Aber nun kommt es: Mose läßt sich nicht beirren. Der entscheidende, der anrührendste und bewegendste Satz dieses Predigttextes lautet: „Mose aber fleht vor dem HERRN." Für mich liegt darin Zärtlichkeit, Größe, die Fähigkeit, Konflikte zu lösen und ein außerordentliches Maß an Mut. Früher nannte man das mit einem altmodisch gewordenen Wort: Freimut. Für diesen Freimut bewundere ich den Mose, den ich zuvor für einen verschlagenen theologischen Machtpolitiker hielt. Ihm gelingt es, den allmächtigen Gott in ein Gespräch hineinzuziehen. Lieber Gott, erinnere dich deiner Verheißungen, an all das, was du schon gesagt hast.

Psychologisch ist der Freimut des Mose über alle Maßen bewunderswert. Theologisch ist ein anderer Satz wichtig: „Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte." Gott entscheidet sich anders, er macht das rückgängig, was er sich ausgedacht hatte. Gott verändert sich, er verändert seine Entscheidungen. Darin besteht seine Barmherzigkeit und Gnade.

 

5. Jeder, der glaubt, besteigt den Berg Sinai

Niemand wird heute, in der Gesellschaft, in der wir leben, einfach anfangen, gegen diejenigen zu kämpfen, die er für Götzen oder Götzenanhänger hält. Das wäre nichts als schädlicher, verbohrter Fundamentalismus. An die Stelle der Bilderstürmerei sind heute Toleranz und Respekt getreten. Das ist auch gut so. Und Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, auch für die Christen. Der Überzeugung anderer können wir nur unsere eigene Überzeugung entgegensetzen.

Wer in der Geschichte des Goldenen Kalbes freundlich und aufmerksam umhergeht, der entdeckt eine doppelte Suchbewegung, und die will ich Ihnen, liebe Gemeinde, mit auf den Weg geben. Die erste Suchbewegung richtet sich auf das eigene Selbst. Wo verändere ich mich? Wo bin ich hart und unbeugsam und rechthaberisch? Wo sollten an deren Stelle Größe, Respekt und Barmherzigkeit treten? Wo gehe ich Schritte, die aus mir einen Menschen machen, der von der Gnade des biblischen Gottes lebt?

Denn das ist die zweite Suchbewegung. Es geht nicht um die Götter, die wir uns selbst machen. Von denen weiß jeder, oft unbewußt, daß sie künstlich sind, im schnöden Stil berechenbar, daß sie vor allem die eigenen Wünsche erfüllen sollen. So aber ist der biblische Gott der Gnade gerade nicht. Er ist eigenständig, in theologischer Sprache: allmächtig. Um es zugespitzt zu formulieren: Der christliche Glaube besteht gerade darin, daß wir Gott seine Freiheit lassen. Wir sollen ihn nicht zum Instrument unserer Wünsche machen.

Aber Gott verändert sich auch. Er läßt sich bitten und er vermittelt Hoffnung. Beide Suchbewegungen, die nach Gott und die nach mir selbst, gehören zusammen. Das können wir von dem unerschrockenen, freimütigen Mose auf dem Berg Sinai lernen. Auf dem Berg Sinai sehen wir staunend und überrascht und überwältigt beides: die Freiheit des Mose, trotz Gottes Vorentscheidung um Barmherzigkeit für Israel zu bitten. Und die Freiheit Gottes, auf diese Bitte einzugehen und das bereits gefällte Unheilsurteil nicht zu vollstrecken. Beide, Gott und Mensch, sind frei. Beide, Gott und Mensch, bewegen sich aufeinander zu.

Das klappt nicht jeden Tag, zugestanden. Das klappt nur auf dem Berggipfel. Aus der Geschichte lernen wir das: Gottes Freiheit verstehen. Unsere eigene Freiheit annehmen, damit leben und sie zur Ehre des freien, barmherzigen Gottes zu gebrauchen. Amen.





PD Wolfgang Vögele
Christuskirche - Nordpfarramt
Riefstahlstr.2
76133 Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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