Leise und deutlich

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Leise und deutlich

Predigt zum Heiligabend 2020 | Jesaja 11, 1-9 | Prof. Dr. Thomas Schlag Calw/Zürich | 

Liebe Gemeinde,

die diesjährige Weihnachtszeit ist mit Hoffnung geladen wie kaum je zuvor: Jetzt soll alles anders sein. Wenigstens für ein paar Tage.

Wir sind am Ende langer Monate eines erschreckenden Jahres. Aber die dunkle Vermutung bleibt, dass dieser Krisenzustand noch lange nicht vorbei sein wird.

Mitten in diesen Zeiten hoffen wir auf – wenigstens einige – Momente einer ganz anderen, stillen Zeit. Jetzt an Weihnachten endlich zur Besinnung kommen. Den Blick auf anderes richten als auf weiter ansteigende Fallzahlen. Für ein kurze Weile die Talkshows abschalten oder wenigstens die Nachrichten leiser drehen.

Tatsächlich ist dieses Weihnachten so still wie seit Menschengedenken nicht mehr. Der gewohnte Heiligabend fällt ganz anders aus als wir es in all den Jahren erlebt haben. Ja, es ist stille Nacht – aber ganz anders als gedacht. Die Corona-Regeln haben das Leben heruntergefahren und die Welt ruhig werden lassen. Stumm und einsam wie noch nie ist es in vielen Wohnungen und Häusern. Statt weihnachtlicher Besinnlichkeit macht sich eine kaum hörbare Ohnmacht breit.

Und nun ist am Heiligen Abend davon die Rede, dass weihnachtliches Licht in die Dunkelheit kommen möge: „Fürchtet Euch nicht“ – ruft der Engel. Selten hatte es seine Botschaft so schwer, zu uns durchzudringen.

Die stille Nacht der Geburt Jesu will uns darauf hinführen, dass Gott mitten hinein in unsere Welt kommt. Damit dem dunklen Augenblick durch dieses Kind ein heller Glanz entgegenscheint. Aber hat diese Hoffnung in diesem Jahr irgendeine Chance auf Realisierung?

Die Christenheit feiert und betet, dass in dieser stillen Nacht ein Neuanfang beginnen möge. Zugleich umgreift die Pandemie wortwörtlich alles und alle. Wahrscheinlich waren wir weltweit noch nie so stark verbunden wie an diesem Heiligen Abend – in unserer Sorge. Aber auch in unserer Hoffnung?

Wir ahnen schwer, dass uns spätestens nach den Feiertagen gleich wieder neue Schreckensmeldungen und Fallzahlen ereilen werden. Ganz zu schweigen von der Sorge um die Gesundheit anderer und die Sorge um das eigene Leben. Und ganz zu schweigen davon, dass die weltweiten ungerechten Strukturen durch die Pandemie noch sichtbarer geworden sind.

Mitten in unsere stille und stumme Unsicherheit hinein hören wir den hoffnungsvollen Propheten Jesaja. Seine Worte kommen am heutigen Abend in vielen Gottesdiensten zu Ohren – auch genauso lebendig in digitalen Formaten, die jetzt eingesetzt werden.

Ein vertrautes, leises, ja fast romantisch klingendes Weihnachtslied ist viele Jahrhunderte später aus Jesajas Worten entstanden: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art und hat ein Blümlein bracht, mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht.“

Lange vor diesem Lied lässt Jesaja alttestamentlich sein hoffnungsvolles Band über die Menschen leise und deutlich flattern und fasst es so:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.

3Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.

6Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. 7Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. 8Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter.

9Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt. 10Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

 

Manche der Verse überlese ich gerne und lasse sie hinter mir: Insbesondere die fürchterlichen angedrohten Schläge und die angekündigte Tötung der Gottlosen. Aber Jesajas damalige, durchaus sehr irdische Hoffnung auf den idealen Friedensherrscher kommt bei mir an. Und dabei stelle ich mir seine Worte nicht als laut triumphierend, hinausposaunend, selbstsicher vor. Sondern als leise, vielleicht sogar noch etwas tastend.

Das Kirchenlied, das uns am heutigen Heiligen Abend mit den Weihnachtsgemeinden landauf, landab verbindet, geht übrigens ebenfalls souverän mit der alttestamentlichen Vorlage um.: Aus dem „Reis“, was bei Jesaja den jungen Wurzeltrieb meint, macht der Dichter des 16. Jahrhunderts die „Rose“ und spielt damit auf Maria an. Und aus der Frucht der Wurzel wird ein „Blümelein“, niemand anders als Jesus selbst, das ideale Friedensherrscherkind sozusagen.

Und so geht das Lied in seiner nächsten Strophe leise weiter: „Das Blümlein, das ich meine, davon Jesaja sagt, hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd; aus Gottes ew’gem Rat hat sie ein Kind geboren wohl zu der halben Nacht.“ Angekündigt wird eine neue, ganz andere, nicht mehr finstere Welt – in der nach Gottes Willen sicher und friedlich gelebt werden kann – so die Hoffnung.

Aber kann man das an diesem Heiligen Abend hören – kann man darauf vertrauen, dass dies alles so kommen möge? Oder ist das eine fromme Illusion, die das gegenwärtige Dunkel doch nicht durchdringen kann? Warum sollten wir uns in diese ferne, alte Welt hineinbegeben? Warum sollten wir auf die Ankündigung eines neuen Friedensreiches zugehen? Wo doch unsere gegenwärtigen Sorgen und Probleme ganz andere sind – viel handfester und brennender.

Nicht wenige versinken in diesen Tagen in dunklen Gedanken. Sie fragen danach, wie und warum Gott dieses unendliche Leid über die gesamte Menschheit kommen lassen konnte. Die Frage „Wo bist Du, Gott?“ treibt uns um, wenn wir die Todeszahlen lesen und die katastrophalen Bilder der Opfer sehen.

Und deshalb sind wir froh, in diesen Zeiten wenigstens handfeste Hoffnung zu haben: auf den Impfstoff, der uns hoffentlich bald wieder normal leben lässt. Genauso handfest ist die Hoffnung darauf, dass wir – falls uns die Infektion erwischt – nicht zu schwer getroffen werden und in guten medizinischen Händen sein werden. Und dann ist da die ganz reale Hoffnung, dass unser politisches und wirtschaftliches System stabil genug ist, damit wir nicht am Ende um die nackte Existenz kämpfen müssen.

Warum braucht es dann noch weihnachtliche Hoffnung? Was soll Jesajas Hoffnung auf Gottes „Geist der Weisheit und des Verstandes“, auf seinen „Geist des Rates und der Stärke“, auf den „Geist der Erkenntnis“ unserem handfesten Hoffen hinzufügen?

Haben wir nicht genügend eigene Kräfte? Und irgendwie werden wir auch durch dieses stille Weihnachten hindurchkommen…irgendwie…

Aber dann hören wir, wie im Kirchenlied die Hoffnung leise in die nächste Strophe hineintreibt: „Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß; mit seinem hellen Scheine vertreibt’s die Finsternis. Wahr’ Mensch und wahrer Gott hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod.“ Helle, glänzende Stimmung entfaltet sich. Und das ist nur auf den ersten Blick einfach blauäugig romantisch – auch wenn diese dritte Strophe der Mitte des 19. Jahrhunderts entstammt.

Auch diese Worte schlagen – wie Jesaja – einen ganz eigenen hoffnungsvollen Klang an. Und so kann ich nachvollziehen, dass die prophetischen Worte und Kirchenliedstrophen durch die Zeiten hindurch Menschen in dunklen und angstvollen Zeiten immer wieder geholfen haben. Die Finsternis wird nicht einfach ignoriert. Aber das Dunkel wird sie glänzend überwinden – und Bosheit und Schaden auch.

Die hoffnungsvollen Worte einer anderen, helleren, friedlicheren Welt haben längst zu leuchten begonnen. Und ich kann mich über die Zeiten hinweg mit ihrem Hoffnungslicht verbinden. Auch wenn es auf den ersten Blick eigenartig klingen mag: Auf Gott müssen wir nicht in einer fernen Zukunft warten, sondern er ist schon jetzt mitten unter uns. Mitten in unserem Leben.

Und dies ist vielfach erfahrbar: Inmitten der schrecklichen Corona-Monate haben sich unzählig viele kleine Weihnachtswunder ereignet – ganz handfest und oftmals so leise, dass man es fast nicht für möglich hält: So ist es beinahe unglaublich, wie viele medizinische Pflegekräfte sich bis über die Grenzen und unter Gefahr für das eigene Leben für Kranke einsetzen und Sterbende in größtmöglicher Würde begleiten. Es kommt einem Weihnachtswunder gleich, wie viel Solidarität entstanden ist unter Nachbarn, Angehörigen, in der Diakonie und in den lokalen Gemeinschaften. Es ist wundervoll, wie sich wissenschaftliche Expertinnen und Experten global verbunden haben, um diese Pandemie mit aller Kraft zu bekämpfen. Und sollte nicht auch endlich einmal den vielen gutwilligen Vertreterinnen und Vertretern des politischen Lebens für deren wunderbaren Einsatz gedankt werden? Man wird sich gewiss nicht die Zunge abbeißen.

So bedrückend dieses Jahr war: Gott ist immer schon dabei gewesen, inmitten der Schrecken der letzten Monate und Wochen und Tage. An den Betten der Kranken, bei denen, die verängstigt und hoffnungslos sind, bei denen die trauern. Und bei denen, die der dunklen Ohnmacht und Boshaftigkeit ihren klugen und hoffnungsvollen Geist entgegensetzen.

Wir müssen nicht stumm und ohnmächtig warten auf Gott und seinen Geist der Weisheit und des Verstandes, auf seinen Geist des Rates und der Stärke, auf seinen Geist der Erkenntnis.

Gott ist längst schon mitten in unserer Welt angekommen. Er schenkt Menschen mitten im weltweiten Notfall seine Weisheit und seine Stärke und seine Erkenntnis und sein „Blümelein“. Er hält immer schon seine schützende Hand über uns. Und lässt unser Leben neu „im hellen Scheine“ strahlen.

Die Geburt Jesu, die heilige Nacht: Zeit, in der es von Anfang an nicht dunkel bleibt. Gott ist von Beginn an mitten in unserer Welt. Das himmlische „Fürchtet Euch nicht“ ist uns längst zugesagt – nicht vage oder fern. Sondern leise und deutlich, schon jetzt und für alle Zeit – „mitten im kalten Winter“ – mitten im ganzen Leben. Amen.

de_DEDeutsch