Markus 10,35-45

Markus 10,35-45

Von Skorpionen und Fröschen | Judika | 03.04.22 | Mk 10,35-45 | Sven Keppler | 

I. Ein Skorpion trifft einen Frosch am Ufer eines Flusses. Er fragt den Frosch: „Trägst Du mich hinüber? Ich kann ja nicht schwimmen.“ „Ich bin doch nicht lebensmüde,“ antwortet der Frosch. „Du wirst mich stechen und ich muss sterben.“ Der Skorpion antwortet: „Warum sollte ich das tun? Ich würde doch mit Dir untergehen!“ „Da hast Du Recht,“ sagt der Frosch und trägt den Skorpion durch das Wasser. Mitten im Fluss sticht der Skorpion ihn doch. „Warum hast Du das getan?, fragt der sterbende Frosch. Und der Skorpion antwortet im Ertrinken: „Das ist nun mal meine Natur…“

Eine orientalische Fabel. Im Kino wurde sie immer wieder erzählt. Von einem Gangster, einem Mafioso, einem Terroristen. Und immer wieder ist die Pointe: Ja, ich bin ein Mörder. Ich bereue das vielleicht sogar. Aber es ist eben meine Natur… Im Comic Prinz Eisenherz wird die Fabel von einem Feldherrn im Osten erzählt: von Prester John. Der ist in einer verzwickten Lage: Er ist in sein Nachbarland einmarschiert. Wenn er weiter angreift, wird er seine Armee verlieren und seine Macht. Er könnte Frieden schließen. Aber wie der Skorpion entscheidet er sich für den Angriff – und damit für seinen Untergang.

„Toxische Männlichkeit“. Dieser Begriff begegnet zuletzt immer öfter. Bei Feministinnen. Aber auch bei Männern, die traditionelle Rollenbilder hinterfragen. Toxische, also: giftige, vergiftende Männlichkeit. Aggressiv, herrisch, zerstörerisch. Gewalttätig und gefährlich. Ich denke an die Neonazis, die vor drei Wochen Frédéric Bußmann verprügelt haben. Den Direktor der Kunstsammlungen Chemnitz. Er hatte sie zur Rede gestellt, als sie zum Hitlergruß immer wieder „Sieg heil“ brüllten.

Aber vor allem denke ich in diesen Tagen natürlich an Wladimir Putin und den russischen Angriffskrieg. Ein Raubmörder im Gewand eines Präsidenten. Waren wir im Westen naive Frösche? Dass wir uns auf das grausame Spiel dieses kalt berechnenden KGB-Offiziers eingelassen haben? Oder war Putin ursprünglich der Frosch? Weil er der Nato vertraut hat, bis die sich bis zur russischen Grenze ausdehnte? Und der im letzten Moment die Notbremse gezogen hat? So will es das russische Narrativ. Diese Sichtweise lebt jedoch von der Voraussetzung, dass Großmächte über ihre Nachbarn bestimmen dürfen. Dass freie Völker nicht frei ihre Staatsform und ihre Partner wählen dürfen. Toxisches, herrisches Denken!

 

II. Liegt die Gewalt in unserer Natur? Das Herrschenwollen? So, wie das Zustechen die Natur des Skorpions ist? Können Menschen letztlich nicht anders? Oder zumindest Männer?

Heute habe ich einen Text auszulegen, der von dieser männlichen Herrschsucht erzählt. Es gab sie sogar im engsten Kreis Jesu. Bei seinen Jüngern. Vielleicht war die Versuchung dort auch besonders groß. Die Jünger waren die Keimzelle der Kirche. Aber auch der kirchlichen Hierarchie. Die ersten in einer langen, traurigen Kette: Päpstliche Kriegsherren. Verweltlichte Fürstbischöfe. Korrumpierte russisch-orthodoxe Popen, die den aktuellen Krieg bis in den Westen hineintragen wollen. Aber auch hier gibt es in den Gemeinden genügend machtverliebte Pfarrer*innen und Kirchenvorsteher*innen.

Das Markusevangelium erzählt von Jakobus und Johannes. Ehemalige Fischer. Jünger der ersten Stunde. Seit Jahren sind sie mit Jesus durchs Land gezogen. Haben erlebt, wie eine Bewegung entstanden ist. Gehörten immer zum innersten Kreis.

Jetzt fordern sie Jesus heraus. Anders kann man das nicht nennen. Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Scheinbar demütig nennen sie Jesus „Meister“. Und sie geben vor, ihn zu „bitten“. Aber das „wir wollen“ ist unüberhörbar. Und was wollen sie? Dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Herrschen wollen sie. Chef sein. Vorne sitzen. Die ewige Sehnsucht des Alpha-Tiers.

Die anderen Jünger hören es und murren. Weil sie den Machtwillen der Brüder verabscheuen? Oder weil sie selbst gerne vorne sitzen möchten? Jesus spürt das Murren. Was antwortet er? Ich lese aus dem Evangelium nach Markus, im 10. Kapitel [Mk 10,41-45].

 

III. Ihr Lieben, der Satz geht mir unter die Haut: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Ja ist das denn eine unendliche Geschichte? Wenn Jesus es schon genau so erlebt hat! Von den Pharaonen bis zu Präsident Assad. Von Cäsar bis Putin. Von Herodes bis Xi Jinping. Autokraten, die die Unterdrückung ihrer Völker nur mit Gewalt aufrecht erhalten können.

Jesus sieht also ganz klar: Herrschen und Gewalt gehören zusammen. Und je absoluter die Herrschaft, umso stärker die Gewalt. Das ist die Natur des Herrschens. Demokratien versuchen, das in den Griff zu bekommen. Indem sie die Herrschenden zwingen, sich regelmäßig einer Wahl zu stellen. Indem die Herrschaft eine zeitliche Grenze bekommt. Gesetze, Verträge und Bündnisse sollen die toxische Seite der Macht im Zaum halten.

Die Gewalt gehört zur Natur des Herrschens. Wie das Stechen zum Skorpion. Bemerkenswert: Jesus sagt das nicht, weil er das militärische Gebaren der Machthaber kritisieren will. Das nimmt er als gegeben hin. Aber er erinnert an diese grausame Wirklichkeit, als auch in seiner Umgebung die Alphamännchen ihren Willen zur Macht anmelden.

Er macht damit eindeutig klar: Diese Verhaltensmuster gehören zusammen. Wer Platzhirsch sein möchte, folgt dem Muster der Gewalthaber. Wer nach Vorrang strebt, begibt sich in ein gefährliches Kraftfeld. Man mag das noch so schön kaschieren: Freude am Gestalten. Verantwortung übernehmen. Die Führungsrolle annehmen. Immer drohen am Horizont die Mechanismen der toxischen Männlichkeit. Wer das wegdiskutieren möchte, muss sich fragen lassen: Welche Interessen leiten Dich dabei?!

 

IV. In der Gemeinschaft der Glaubenden sollen diese Muster jedoch keinen Raum haben. Jesus ist da unmissverständlich. Er sagt sogar nicht nur: Das soll nicht sein. Sondern: Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.

Jesus will das Machtstreben also nicht nur einhegen. Durch Checks and Balances, wie im Raum des Politischen. Sondern er fordert für die Kirche eine grundsätzlich andere Haltung.

Jesus richtet sich an die Menschen – so, wie sie sind. Er sagt nicht: Ihr dürft nicht groß sein wollen. Ihr dürft nicht die Ersten sein wollen. Wahrscheinlich weiß er: So ist der Mensch nun einmal. Es gibt dieses Streben. Man sollte es nicht unterdrücken. Sondern man darf es sich zunutze machen. Das Neue ist nicht, dass Menschen ihr Streben unterdrücken sollen. Sondern sie sollen es auf ein anderes Ziel richten.

Wer groß sein will, soll sich durch Dienen hervortun. Wer ganz vorne sein will, soll das als Knecht tun. Nietzsche hatte dafür ein Etikett: Das sei Sklavenmoral. Die Moral von denen, die im gesunden Kampf um die Macht nicht mithalten können. Die vom Neid zerfressen sind und sich deshalb an den Starken rächen wollen.

Aber nein. Jesus ruft durchaus dazu auf, sich hervorzutun. Wettbewerb ist nicht an sich schlecht. Aber den Preis bekommt nicht, wer sich selbst nach vorne boxt. Sondern wer seine Mitmenschen nach vorne bringt. Denn darum geht es beim Dienen: Nicht meine eigenen Interessen im Blick haben. Sondern was den anderen nützt. Auch hier zeigt sich: Jesus geht es um die Liebe.

Wahrscheinlich wäre Jesus der perfekte Frosch gewesen. Wahrscheinlich wäre er sogar von selbst auf den Skorpion zugegangen. Hätte ihn gefragt: „Du willst doch zum anderen Ufer. Darf ich dich mitnehmen?“ Obwohl er genau wusste, welches Risiko er dabei einging. Am Ende hat Jesus den Preis dafür bezahlt. Wurde von Menschen ans Kreuz geschlagen. Weil die Welt voller Skorpione ist.

 

V. Heißt das: Wir müssen den Skorpionen das Feld überlassen? Müssen wir uns abstechen lassen und auch andere den Schlächtern ausliefern? Manchmal klingen die Worte von Jesus wirklich danach. Wenn er zur Feindesliebe aufruft. Wenn er dazu auffordert, dem Schlagenden auch die andere Wange hinzuhalten.

Aber ich denke, es gibt auch noch einen anderen Weg. Jesus fordert: Unter Christinnen und Christen darf die toxische Männlichkeit keinen Raum haben. Das gilt für alle Menschen, die Macht ausüben. Männer wie Frauen. Wenn Sie dennoch nach ihrer Herrenmoral leben, dann schließen sie sich selbst aus. Aus der Gemeinschaft der Liebenden. Aus der zivilisierten Welt.

Zu bestimmten Zeiten muss man die Skorpione isolieren. Die Beziehungen abbrechen. Sie nicht in Leitungsämter wählen. Ihnen keine Verantwortung übertragen. Sie manchmal in die Wüste schicken – in den natürlichen Lebensraum der Skorpione.

Das gilt auch für den Umgang mit Russland. Nicht mit den Menschen guten Willens. Den Mutigen, die Kritik äußern. Es gibt sie hier wie dort. Aber mit den Mächtigen und den Profiteuren. Isolierung ist das Gebot der Stunde. Um klar zu machen: Für toxische Gewaltbereitschaft ist bei uns kein Raum. Irgendwann wird dann wieder die Zeit kommen, vertrauen zu wagen. Weil es letztlich um die Liebe geht. Immer. Amen.

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Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de

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Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Vorsitzender des Versmolder Kunstvereins. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

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