Matthäus 17,1–9

Matthäus 17,1–9

Letzter So. n. Epiphanias | 29.01.2023 | Mt 17,1–9 | Hansjörg Biener |

Vielleicht kennen Sie das Bild aus dem Fernsehen – oder aus eigener Erfahrung: Bergsteiger auf einem Gipfel. Über ihnen [weitet sich] der [blaue] Himmel, unter ihnen [liegt] die Weite der Täler und ringsumher [blicken sie auf] die anderen Gipfel. – Ein langer Aufstieg liegt hinter ihnen, und nun genießen sie das Panorama. E[s ist e]in Moment der Größe und zugleich großer Demut. So groß ist die Welt, so klein der Mensch, und doch kann er aufsteigen und Berge bezwingen. Die Altvorderen fürchteten die Berge. Für sie waren Berge Sitz der Götter: Zaphon, Olymp, Sinai, Himalaya. Der moderne Mensch ersteigt sie, „weil sie da sind“, wie ein Bergsteiger einmal sagte. Immer höher geht es hinaus, immer weiter werden die Reisen, um zu erleben, was in unsere Sprache als  „Gipfelerlebnis“ eingegangen ist. Das Ineinander von Staunen über die Größe der Natur und über die eigene Kleinheit – und über die eigene Überwinderkraft, wenn man auf einem Gipfel steht. Bleiben kann man freilich nie. Der Abstieg ist so stundenlang und gefährlich wie der Aufstieg, doch nicht mehr mit der Verheißung des Gipfelsturms. Was bleibt, ist die Erinnerung.

Nicht jeder von uns ist Bergsteiger und Gipfelstürmer, aber vielleicht kennen Sie ähnliche Erfahrungen aus anderen Bereichen Ihres Lebens. Die perfekte Welle für den Surfer, den [ewigen] Moment des Sieges für den Sportler, den ersten Kuss der Liebe, das „Sie haben die Stelle“ für den Arbeitnehmer nach dem Auswahlverfahren, die Unterschrift unter den Vertrag für den Unternehmer. Man hat sich angestrengt, und zugleich steckt im Triumph auch etwas, das unerzwingbar zufällt und demütig macht. Nehmen wir solche Erinnerungen mit in den Predigttext des heutigen Sonntags. Vielleicht kann das säkulare Gipfelerlebnis uns helfen, das Gipfeltreffen zu verstehen, von dem der heutige Predigttext handelt:

Matthäus 17,1-9 Die Verklärung Jesu
Jesus nahm „Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.
Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.
Petrus aber fing an und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.
Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!
Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!
Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.
Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.“ (Matthäus 17,1-9)

Das war im wahrsten Sinne des Wortes ein Gipfeltreffen, und ein religiöses Gipfelerlebnis für die Jünger dazu. Es ist berechtigt, aber müßig, nach historischen Details zu fragen. Wir wissen nicht, wo der Berg lag, und kulturell bedingt liegen dem modernen Mitteleuropäer „Verklärungen“, Visionen und Auditionen eher fern. In anderen Kulturen sind diese [für Mitteleuropäer merkwürdigen] Elemente der Geschichte kein Problem, weil man ihrer religiösen „Bedeutung“ mehr Bedeutung zumisst als ihrer [intellektuellen] „Erklärung“. Aber wir sind nicht verloren. Wir können manches aus unserem Wissen „erklären“ und haben vielleicht auch Erfahrungen, die uns helfen können, zu verstehen, was an dieser Geschichte von einem Gipfeltreffen „bedeutsam“ ist.

Wir können „wissen“, was Berge in der Bibel bedeuten. Wir können wissen, welche Bedeutung Moses in der Bibel hat, und [dort] nachlesen, wer Elija war. Wer die Bibel etwas kennt, wird sich erinnern, dass Moses am Berg Sinai die Zehn Gebote bekam und dass es im Matthäus-Evangelium eine Bergpredigt gibt, in der Jesus die Gebote Israels ausgelegt hat wie ein neuer Moses. Elementare Gewalten erschütterten den Sinai, als Moses hinaufstieg, um das Grundgesetz Israels in Empfang zu nehmen. Die Bibel geht sogar so weit, dass Moses „den Herrn in seiner Gestalt“ sehen durfte [Numeri 12,8]. Doch im selben Kapitel heißt es auch: „Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden.“ [Numeri 12,3] Elementare Gewalten erschütterten den Gottesberg, an den Elija geführt wurde, um seine Gotteserfahrung zu machen. Der größte Gottesstreiter Israels, so die Bibel, musste lernen, dass Gott nicht in der elementaren Wucht zu finden ist, sondern im sanften Säuseln. [1. Könige 19] Das verstand er freilich erst nach dem Wind, der Berge zerriss und Felsen zerbrach, dem Erdbeben und dem Feuer. Und am Ende dieser Gotteserfahrung stand nach dem Zeugnis der Bibel unter anderem der Auftrag zur Berufung eines Nachfolgers.

Und wenn wir das nun zusammenhaben – den Berg als Ort der Offenbarung, Moses und Elija als die größten Gottesmänner, die Israels Überlieferung kannte -, dann kommen wir der Bedeutung näher, die diese Überlieferung von einem Gipfeltreffen Jesu hat: Auch Jesus gehört auf den Berg, wo sich Himmel und Erde berühren, und er ist im Gespräch mit den größten Gottesmännern Israels von gleich zu gleich. Doch es kommt mehr hinzu: „eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: ‚Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!'“ Das ist die Botschaft des Gipfeltreffens an die Jünger, und weil auch sie das glaubten, erzählten die Evangelisten davon als einem Gipfelerlebnis ihrer Väter im Glauben: Merkt auf, hier ist mehr als  Moses und mehr als Elija. Ihr habt nun Jesus, von dem ihr alles erfahrt, was von Gott und der Welt zu wissen nötig ist.

Ich weiß nicht, wie es mir ergangen wäre, wenn ich damals als Jünger dabei gewesen wäre. Es ist mehr als ein Gedankenexperiment, sich in die Situation hineinzuversetzen. Wenn wir so mit biblischen Geschichten umgehen, lernen wir da etwas über uns, und wir merken zugleich, wie der Umgang mit der Bibel verändert. Wie wäre das also gewesen, wenn „ich“ als Jünger mit Jesus unterwegs gewesen wäre und nun auf dem Berg der Verklärung stünde? Wie wäre das gewesen, wenn ich wie Petrus, Jakobus oder Johannes gehofft und geahnt hätte, dass dieser Wanderprediger ein wahrer Gottesmann war, vielleicht sogar der verheißene Messias. Und wie wäre das gewesen, wenn ich nun ihn und Moses und Elija beieinander sähe und aus dem [bisherigen] Ahnen würde [unmittelbare] Gewissheit. Und zugleich bin ich als Zeuge des Geschehens Teil von etwas Besonderem geworden! Vielleicht wäre ich überwältigt wie Johannes und Jakobus. Vielleicht wollte ich den großen Moment festhalten, wie Petrus, der Hütten bauen will, oder das Geschehen wenigstens photographieren. Vielleicht müsste ich vor lauter Aufregung etwas tun, wie viele Menschen, die großen Ereignissen beiwohnen und die ganze Zeit ins Handy reden. Spätestens aber bei der Gottesstimme würde mir bewusst, wer „die“ sind und wer „ich“ nicht bin. Moses, Elija und Jesus gehören sichtlich zusammen, doch ich bin nicht ihres gleichen. Geehrt sind Petrus, Jakobus und Johannes, wenn sie so etwas erleben dürfen. Und auch ich wäre herausgehoben aus der Masse, doch Furcht und Zittern müssten auch mich ergreifen – wie Petrus, Jakobus und Johannes. Sie fallen in den Staub, doch durch Gottes Gnade werden sie nicht zu Staub. „Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: ‚Steht auf und fürchtet euch nicht!‘ Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.“ Mir müsste auch jemand wieder auf die Beine helfen. Und wenn ich aus der Geschichte wieder herausgehe, stellt sich mir die Frage: „Wärst du bereit für solch ein Erlebnis“ – und bereit für seine Folgen?

Als Beobachter schaue ich wieder auf die Geschichte und mache mir meine Gedanken. Ein Gipfeltreffen für Jesus, ein religiöses Gipfelerlebnis für die Jünger. Petrus, Jakobus und Johannes haben mehr gesehen als die anderen Jünger und als die normalen Menschen sowieso. Das Mitgehen mit Jesus hat sich für jeden einzelnen gelohnt, und doch ist ihnen mehr zugefallen, als sie erwarten konnten. Aus dem Glauben wurde für einen kurzen Moment Schauen, und zugleich warf das sie nieder. Und ich, der ich mich aus der Geschichte wieder entferne, kann es [ein bisschen] nachempfinden. Auch wenn es müßig ist, nach der Historie zu fragen: Wenn es so war, dann gönne ich es den drei Jüngern, so wie auch heute es anderen gönnen muss, denen etwas Besonderes in ihrem Leben und Glauben widerfährt. [Es bleibt mir ja auch nichts anderes, wenn ich nicht Alltagserfolge bekritteln und besondere Glaubenserfahrungen bezweifeln will.] Doch es ist wie bei den weltlichen Gipfelerlebnissen unserer Tage. Bleiben kann keiner auf seinem Berg. Und auch die Jünger müssen wieder herunter. Sie können nur die Erinnerung mitnehmen, und die Botschaft, die sie, so das Matthäus-Evangelium, für sich verstanden haben: „Ihn sollt ihr hören.“ Petrus, Jakobus, Johannes und viele andere Jünger haben das getan – und Jüngerinnen auch. Wenn wir hier und heute in einer Kirche zum Gottesdienst zusammen sind, dann sind wir Teil der Wirkungsgeschichte von Menschen, denen ihr Glaube immer wieder eine Anstrengung [wert] war und die doch von der einen oder anderen Glaubenserfahrung zehrten.

Ich sagte schon, dass [uns als] Mitteleuropäern „Verklärungen“, Visionen und Auditionen eher fern sind. Manche Christen beziehen sich aber auch bei uns auf besondere Glaubenserfahrungen, die nicht immer Gipfel-, wohl aber Schlüsselerlebnisse waren: „Als wir im Graben lagen, und links und rechts fielen die Bomben. Das war meine Auferstehung.“ [Soll ich als Pfarrer da die Sprache richtig stellen?] Andere erzählen von einer Bekehrung nach langem Ringen, die für sie ebenso Überwältigung wie Befreiung durch Gott war. Andere erinnern sich an eine Erhörung, wo man beim Kämpfen mit den Herausforderungen des Lebens bis aufs Beten zurückgeworfen war, und dann fielen Steine vom Himmel und vom Herzen und bildeten einen Weg zu neuem Leben. Oder umgekehrt: Da war das Hindernis, auf das jemand auflief, von dem er oder sie heute im Glauben sagen kann, „Das musste so sein“. Das deutet den Unterschied an zwischen säkularen Gipfelerlebnissen und spirituellen Schlüsselerlebnissen. Den säkularen Kick kann man suchen und nach dem ersten Berg den nächsten besteigen, bis man zuletzt die 8000er im Himalaya bucht, auf die Europäer und Amerikaner steigen, während sie den Menschen vor Ort noch immer Sitz der Götter sind. Wo aber Menschen [ihrem] Gott begegnen, da ist nicht jede Erfahrung, die wir machen, gesucht. Wir haben diese Ambivalenz schon in der Bibel bei Moses, den Gott beim Schafhüten zum Hirten Israels bestellt, oder den Propheten, die durch ihre Berufung ebenso herausgehoben werden wie beschwert. Und sie alle sagen: „Wer bin ich, dass“. Auf der einen Seite die Erhebung, „ich kleiner Mensch im Fokus Gottes“, auf der anderen Seite die Erfahrung der Vergänglichkeit, und es ist gut, wenn Gott nicht mehr so genau hinschaut. [Das Leben nach einer individuell gewissen Gotteserfahrung erscheint mir wie eine Gratwanderung. Mir scheint, dass es keine Gottesbegegnung ohne Demütigung gibt, und da muss man darauf achten, dass sie nicht als psychische Verletzung weiterwirkt. Und ebenso gibt es keine Gottesbegegnung, die nicht jeden einzeln mit einem Auftrag für sein Leben entlässt, und hier muss man dem Größenwahn entgegen wirken.] Wo Menschen sich vor [ihren] Gott gestellt finden, ist es wichtig, dass sie Klarheit über ihre Schlüsselerfahrungen gewinnen und die Schlüsse, die sie ziehen. Das Gespräch mit einem in geistlichen Dingen erfahrenen Gegenüber wird hier ebenso nützlich sein, wie die Erinnerung an biblische Texte.

Lassen Sie mich darum abschließend noch ans Ende der Geschichte schauen. Das Gipfeltreffen Jesu mit Moses und Elija ist zu Ende, und das Gipfelerlebnis der Jünger auch. Es geht zurück ins normale Leben, und wie normal, denn den Jüngern wird verboten, von ihrer besonderen Erfahrung zu erzählen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich beim Abstieg erheblichen Frage- und Redebedarf gehabt hätte. Gewiss hätte ich meine Fragen an Jesus gestellt, und mit Sicherheit hätte ich das Verbot nicht verstanden. Muss man nicht jetzt, wo man Gewissheit hat, Jesus als Messias bekannt machen, jetzt wo man weiß, dass er mit Moses und Elija mehr als gleichrangig ist? Im Nachhinein kann ich mir meinen Reim darauf machen: Mit der Lichtgestalt der Verklärung hatten die Jünger noch nicht alles gesehen, was von Jesus zu sehen und zu wissen nötig war. Es fehlten Kreuz und Auferstehung, jener Karfreitag, an dem ihnen alle Hoffnungen starben, der Tag der Grabesstille, die auch bei uns über so vielen Erlebnissen liegt, und der Tag der Auferstehung, die Verstörung und Hoffnung bedeutete. An Jesu Lebensweg halten sich die Christen fest, wenn sie hoffen, dass ein Leben, das mit Gott gelebt wird, durch alle Höhen und Tiefen hindurch zu einem Leben mit Ewigkeitswert wird.

Wo die Schädelstätten unserer Tage liegen, dass wissen wir, an vielen Orten dieser Welt und manchmal auch im eigenen Leben, wenn Lebenshoffnungen sterben. Manchmal erleben wir kleine Auferstehungen, oft genug bleibt die Hoffnung auf die letzte Auferstehung ins Leben bei Gott und das Festhalten an Hoffnungsgeschichten der Bibel. Wo der Berg der Verklärung lag, – wenn man diese historische Frage überhaupt stellen darf -, wissen wir nicht. Wenn man es im zweiten, dritten oder vierten Jahrhundert noch gewusst hätte, hätte man dort bestimmt ein Kloster gebaut. Aber wenn die Mönche klug gewesen wären, dann lebten sie nicht wegen der Historie da. Man kann Uhren nicht zurückdrehen, weder in der Weltgeschichte noch im eigenen Leben. Wenn die Mönche klug gewesen wären, dann ehrten sie die religiöse Bedeutung der Geschichte. „Ihr habt Jesus, den sollt ihr hören.“ Es ginge ihnen aber vor allem um die Erfahrung mit sich und anderen, um Menschen, sei es an Höhe-, sei es an Tiefpunkten des Lebens, von Gott her beraten zu können.


Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an Nürnberger Gymnasien tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)

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