Tierfrieden…

Tierfrieden…

Tierfrieden – ein Krippenspiel | Predigt zu Jes 11, 1-11 | verfasst von Verena Salvisberg Lantsch | 

 

Und der Wolf wird beim Lamm weilen,

und die Raubkatze wird beim Zicklein liegen.

Und Kalb, junger Löwe und Mastvieh sind beieinander,

und ein junger Knabe leitet sie.

Und Kuh und Bärin werden weiden, und ihre Jungen werden beieinander liegen,

und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.

Und der Säugling wird sich vergnügen an der Höhle der Viper,

und zur Höhle der Otter streckt ein Kleinkind die Hand aus.
Jes 11, 6-8

Vision des Propheten Jesaja, Kapitel 11.

Hirngespinste! Unmöglich! Wolf und Lamm! Kuh und Bärin! Und der Säugling mit der Schlange!

Liebe Gemeinde, ich kann gut nachvollziehen, wenn Sie den Kopf schütteln. Was soll das? Und was hat das mit Heiligabend zu tun?

Ein Zitat von Deutschlands Altkanzler Helmut Schmidt bringt es auf den Punkt:

«Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen!»

Da das mit dem Arzt an Heiligabend eher schwierig ist, lasse ich mich halt nicht heute kurieren und lade stattdessen Sie ein, bei diesem verrückten Bild zu verweilen.

Unter «Vision» verstehen wir Verschiedenes, zum Beispiel eine Erscheinung, eine Begegnung mit einer anderen Wirklichkeit. Eine Engelserscheinung. Ein Nahtoderlebnis.

Oder recht verbreitet ist der Begriff auch in der modernen Geschäftswelt. Eine Firma braucht eine Vision. Wie wollen wir als Unternehmen aufgestellt sein in zehn Jahren? In diesem Sinn ist «Vision» fast dasselbe wie Ziel. Es braucht eine Strategie, wie man dieses Ziel erreichen kann und Unterziele, die konkret sind, messbar, realistisch und terminiert. Selbst die Kirche ist nicht gefeit vor solchem Denken.

Und dann gibt es die «Vision» im Sinne einer Utopie. Ein Ort, den es nicht gibt. Wie die Weide, wo Kuh und Bärin friedlich nebeneinander grasen oder der Löwe Stroh frisst und nicht Gazellen reisst. Schön wäre es, wenn es diesen Ort gäbe, aber leider ist das unmöglich. Wunschdenken oder Schönreden. Vielleicht höchstens ein Traum. Und wer die Welt verändern will, muss anpacken und nicht träumen.

Aber da gab es mal einen, der hat gesagt: I have a dream[1]. Ich habe diesen Traum, dass es eines Tages selbstverständlich ist, dass alle Menschen, egal welche Hautfarbe sie haben, vor dem Gesetz gleich behandelt werden. Ich habe den Traum, dass schwarze und weiße Menschen eines Tages in Frieden an einem Tisch miteinander sitzen können.

Und das hat gewirkt.

Und da gab es die Friedensgebete, zum Beispiel in der Nikolajkirche in Leipzig mit dem Motto «Schwerter zu Pflugscharen», auch das ein Zitat aus dem Propheten Jesaja: Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg (Jes 2,4).

Und das hat gewirkt. 1989 fiel die Mauer zwischen Ost und West.

Zwei Beispiele dafür, wie «Vision» auch verstanden werden kann, nämlich als Erinnerung daran, dass die Welt mit ihrer ganzen Zerrissenheit und Ungerechtigkeit, mit Gewalt und Krieg, mit Hunger und Flüchtlingsströmen, mit Klimakrise und Pandemie, dass diese Welt anders gedacht ist und auch anders werden kann.

Die Einladung, sich nicht abzufinden mit den herrschenden Zuständen, nur weil wir daran gewöhnt sind. Die Vision macht aufmerksam auf die Missstände und lässt uns erkennen, wie viel an dem sogenannt Normalen verkehrt ist.

Eine gewaltige Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Rettung und Heilung.

Und das hat mit dem Kind zu tun, dem Kind in der Krippe, an der wir heute Abend stehen.

Auf dieses Kind gemünzt verstehen wir die Worte Jesajas:

Und aus dem Baumstumpf Isais wird ein Schössling hervorgehen, und ein Spross aus seinen Wurzeln wird Frucht tragen.

Und auf ihm wird der Geist des Herrn ruhen, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist des Wissens und der Furcht des Herrn.

Und er wird die Furcht des Herrn atmen, und er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, und nicht entscheiden nach dem, was seine Ohren hören:

Den Machtlosen wird er Recht verschaffen in Gerechtigkeit, und für die Elenden im Land wird er einstehen in Geradheit.

Das Kind in der Krippe ist dieser geistbegabte Sprössling Jesus Christus. Als Erwachsener zieht er umher und trifft sich mit allen möglichen Verlierern, Sündern und Armen, isst mit ihnen und macht sie zu seinen Freunden. Er verkündet die Botschaft von einer verkehrten Welt, in der die Ersten die Letzten und die Armen selig sind. Kein Wunder eckt er damit an. Und wird sogar umgebracht dafür.

Aber er hat auch einige angesteckt mit seinem Traum, mit seiner tiefen und innigen Verbindung zum Vater im Himmel, mit seinen Bildern vom Gottesreich.

Und an jenem Tag werden Nationen nach der Wurzel Isais fragen, die dasteht als Feldzeichen für die Völker, und ihr Ruheort wird Herrlichkeit sein.

Ein Feldzeichen – vielleicht ein etwas militärischer Ausdruck- das ist etwas, wonach man sich ausrichtet, ein Zeichen, das im Kampf des Lebens Orientierung gibt und Gemeinschaft stiftet.

Das Kind in der Krippe. Unzählige Lieder, Geschichten, Krippenspiele erzählen von dem umfassenden Frieden, der von ihm ausgeht und mit denen ist, die sich ihm zuwenden und sich nach ihm ausrichten.

Und unzählige alte Weissagungen werden in diesem Licht gelesen. Zum Beispiel die Vision vom Tierfrieden von Jesaja:

Und der Wolf wird beim Lamm weilen,

und die Raubkatze wird beim Zicklein liegen.

Und Kalb, junger Löwe und Mastvieh sind beeinander,

und ein junger Knabe leitet sie.

Und Kuh und Bärin werden weiden, und ihre Jungen werden beeinander liegen,

und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.

Und der Säugling wird sich vergnügen an der Höhle der Viper,

und zur Höhle der Otter streckt ein Kleinkind die Hand aus.

Zum Heiligabend gehört das Krippenspiel. Wie wäre es, liebe Gemeinde, wenn wir heute Abend eines aufführen würden? Nicht wie sonst immer. Nicht mit Maria und Josef, den Engeln und den Hirten, sondern ein Krippenspiel mit dem Wolf und dem Lamm, dem Löwen, der Bärin, dem Kind und der Schlange.

Welche Rolle würden Sie wählen?

Das Unschuldslamm, das nichts getan hat? Oder das quirlige Zicklein, das ganz auf seine Niedlichkeit setzt? Möchten Sie den Wolf spielen, gefürchtet von Mensch und Tier, der sich in der Nacht seine Beute holt und eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Vielleicht wählen Sie auch die Schlange, gerade weil Ihnen heimlich graust vor diesem Tier. Oder wie wäre es mit dem Mastvieh, das sich auf fetten Wiesen tummelt und keinen Gedanken an die Schlachtbank verschwendet. Ein junger, starker, Löwe, ein wunderbares Tier, Symbol für Macht.

Sicher nicht ein Löwe, der Stroh frisst!

In einer kurzen Geschichte hat sich Peter Bichsel etwas in der Art ausgedacht[2]

Als die Gazellen von den Löwen Mitbestimmung forderten, waren die Löwen dagegen. Es kommt noch so weit, dass die Gazellen bestimmen, wen wir fressen, sagten die Löwen. Sie beriefen sich auf eine unverdächtige Studie des WWF und sprachen von Wildpartnerschaft bei klarer Kompetenztrennung: Fressen auf der einen Seite, Gefressenwerden auf der anderen Seite. Denn“, so sagten sie, es liegt doch auf der Hand, dass einer nicht zugleich etwas vom Gefressenwerden und vom Fressen versteht. Und den Entscheid, jemanden zu fressen, muss schnell und unabhängig gefasst werden können.“ Das leuchtete dann auch den Gazellen ein. Eigentlich haben sie recht“, sagte eine Gazelle, denn schliesslich fressen wir ja auch.“ Aber nur Gras“, sagte eine andere Gazelle. Ja, schon“, sagte die erste, aber nur, weil wir Gazellen sind. Wenn wir Löwen wären, würden wir auch Gazellen fressen.“ Richtig“, sagten die Löwen.

Wir sind es gewohnt, die Rollen zu verteilen. Wolf und Lamm, zum Beispiel. Das Lamm – das bin ich. Der Wolf – das ist mein Feind. Das ungschuldige Lamm und der böse Wolf.

Das Spiel wäre eine Einladung, etwas anderes zu probieren. Eine andere Rolle zu wählen, nicht die, die ich sowieso schon immer habe. Da gäbe es einiges zu entdecken, bei sich selbst und den anderen.

Vielleicht, dass mich am anderen ärgert, was ich an mir selbst nicht wahrhaben will und nicht leiden kann. Vielleicht, dass die Muster gar nicht so klar sind, wie ich meine.

Wenn wir es also wagten, dieses Krippenspiel? Was würde passieren? Was würde geschehen, fände ich mich plötzlich vis-à-vis von meinem Erzfeind oder konfrontiert mit meiner grössten Angst. Kämen die Kuh und die Bärin ins Gespräch beim gemeinsamen Grasen?

Im Zeichen des Sprösslings, im Licht des Kindes in der Krippe kann vieles passieren.

«Wer Visionen hat, braucht einen Arzt». Übrigens: Helmut Schmidt korrigierte seine Aussage.

Er sagte, das sei eine «pampige Antwort auf eine dusselige Frage» gewesen. Das ist halt manchmal so bei Politikern. Sie müssen auf alle möglichen Fragen schnell antworten.

Wir hingegen haben Zeit, heute Abend und morgen und vielleicht auch noch länger. Wir haben Zeit, der Vision nachzuhängen. Uns vorzustellen, welche Rolle wir wählen würden im Krippenspiel. Und wie uns das Spiel vom Tierfrieden im Zeichen des Sprösslings vielleicht verändern würde in unserer Machtgier, in unserer Listigkeit, in unserer Niedlichkeit, in unserer Angst und in unserer Resignation, was die Welt betrifft. Darin, dass wir die Augen verschliessen und uns abfinden mit so vielem, was nicht in Ordnung ist.

Kind, das in der Krippe liegt,

König, der sich selbst besiegt,

Wind, der durch die Herzen weht,

Leben, das aus Gott entsteht.

Himmel, der die Erde liebt,

Liebe, die dem Feind vergibt,

Feuer, das für alle brennt,

Gott, der keine Grenzen kennt.[3]

Amen

Pfrn. Verena Salvisberg Lantsch, Roggwil

E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.

[1] I Have a Dream ist der Titel der berühmten Rede von Martin Luther King, die er am 28. August 1963 beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit gehalten hat.

[2] «Wege zum Fleiss», aus «Geschichten zur falschen Zeit», Luchterhand Verlag, Darmstadt 1979

[3] RG 430, 4.6: Gott aus Gott und Licht aus Licht (T: Georg Schmid; M: Martin Luther nach dem Hymnus «Veni redemptor gentium»)

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