Neben uns in unserer Zeit…

Home / Kasus / 1. Advent / Neben uns in unserer Zeit…
Neben uns in unserer Zeit…

Neben uns in unserer Zeit der Friedefürst! | Erster Advent, 29.11.2020 | Text: Sacharja 9,9-10  | verfasst von Rainer Stahl |

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Nun treten wir wieder in die Adventszeit ein. So oft haben wir schon Advent begangen – gefeiert, dass wir gewiss spezielle Situationen, Texte und Lieder mit dieser Zeit verbinden, mit denen wir uns auf diese Zeit und während dieser Zeit freuen können. Für mich ist es immer auch ein Lied aus unserer Lied-Tradition, das ich besonders liebe, ein Lied, für das bewusst eine wunderbare Melodie von Georg Friedrich Händel eingesetzt worden war:

„Tochter Zion, freue dich,

jauchze laut, Jerusalem!

Sieh, dein König kommt zu dir,

ja er kommt, der Friedefürst. […]

[…] sei gesegnet deinem Volk!

Gründe nun dein ewig Reich, […]

[…] sei gegrüßet, König mild!

Ewig steht dein Friedensthron,

du, des ewgen Vaters Kind. […]“ (Ev. Gesangbuch 13, aus den Strophen 1-3).

Diese „Milde“ – welch altertümlicher Begriff; redet heute überhaupt noch jemand so? –, diese „Milde“, diese „Freundlichkeit“ ist in einem anderen Adventslied unvergleichlich zur Sprache gebracht worden:

„Er ist gerecht, ein Helfer wert;

Sanftmütigkeit ist sein Gefährt,

sein Königskron ist Heiligkeit,

sein Zepter ist Barmherzigkeit; […].

O wohl dem Land, o wohl der Stadt,

so diesen König bei sich hat.     […]“ (Ev. Gesangbuch 1, aus den Strophen 1 und 2).

Gerade die beiden letzten Zeilen waren mir in meiner Jugendzeit in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik ganz wichtig: In unsere, sich atheistisch gebende Gesellschaft wird geheimnisvoll dieser König einziehen und seine guten Wirkungen ausstrahlen. Aber ist das nicht auch heute in unserer sich manchmal als dem Glauben nahe gebende, in Wahrheit sich aber doch als noch viel weitergehender atheistisch erweisender Gesellschaft die entscheidende Herausforderung, die eigentliche Hoffnung? Dass da eine liebende Macht in unsere Welt kommt, ja: als in unserer Welt geheimnisvoll gegenwärtig erkannt wird! Neben uns, neben Ihnen, neben mir ist – Ich wage „ist“ zu sagen! –, neben uns, neben Ihnen, neben mir ist ein „Friedefürst“, ein „König mild“. Ist das nicht unsere Hoffnung für jede Advents- und Weihnachtszeit? Dass wir das ahnen?! Dass wir das ein wenig fühlen können?!

In diesem Jahr 2020 wird uns nun an diesem ersten Sonntag der Adventszeit, an diesem 1. Advent, das eigentliche biblische Wort zugemutet, von dem her in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts Friedrich Ranke das schöne Lied „Tochter Zion, freue dich“ gedichtet hatte. Das aber – so erkennen wir jetzt richtiggehend erschreckt – fügt sich gar nicht so glatt in unsere Sehnsüchte. Das aber verunsichert unsere Sehnsüchte ein gutes Stück weit:

„Jauchze sehr, Tochter Zion,

rufe Tochter Jerusalem:

‚Siehe, dein König ist kommend zu dir,

der ein Gerechter und ein Rettender ist,

der ein Armer und ein Reitender auf einem Esel

und auf einem Eselsfüllen, dem Sohn von Eselinnen, ist!‘

[Der sagt:]

‚Ich rotte die Streitwägen über Ephraim aus

und die Reiterei über Jerusalem

und zerschlage den Bogen des Krieges.‘

Und er ruft aus Frieden für die Völker.

Und seine Herrschaft wird von Meer zu Meer sein

und vom Strom bis zu den Enden des Landes“ (Sacharja 9,9-10 – vgl. Sie am Ende die Wiedergabe des hebräischen Originals).

Dürfen wir dieses Wort überhaupt auf uns beziehen? Gilt es uns? Waren wir im Blick, als dieses Wort gefunden worden war? Gefunden worden vielleicht von Denkern in Jerusalem im ausgehenden 3. Jahrhundert vor Christus – stammelnd, stotternd, aber doch ausgesagt! Also gefunden worden in den Jahrzehnten, in denen das Siedlungsgebiet um Jerusalem Spielball der Kämpfe zwischen den beiden griechisch geleiteten Großreichen der Region war, zwischen dem Großreich der Ptolemäer von Ägypten aus im Süden und dem Großreich der Seleukiden vom heutigen Irak und von Syrien aus im Norden. Damals konnte man von Jerusalem aus das eigene Schicksal kaum bestimmen. Genau damals wurde diese besondere Hoffnung formuliert und dem Schatz an Worten jenes Propheten Sacharja hinzugefügt, der im ausgehenden 6. Jahrhundert vor Christus, also 300 Jahre früher gelebt und gewirkt hatte. Vor vielen Jahrzehnten hatte ich einmal ein Seminar zu Worten jenes Sacharja durchgeführt. Damals habe ich natürlich diese Worte, die heute in Sacharja 9 stehen, gar nicht behandelt, weil sie ja von viel Späteren ausgesprochen worden waren. Jetzt aber wird mir ein Zusammenhang bewusst, der damals verborgen bleiben musste: Dieses, unser Wort bestimmt das Wissen um Sacharja ganz neu, fügt diesem Wissen eine neue Ahnung hinzu: Sacharja war ein Mann gewesen, der Gott bedrängend angeschrien hatte:

„Bis wann / wie lange wirst du dich nicht erbarmen über Jerusalem und die Städte Judas?“

(aus Sacharja 1,12).

Und dem die Antwort von Gott her aufdämmerte:

„Ich eifere für Jerusalem – großer Eifer!“ (aus Sacharja 1,14).

Solcher Hoffnung wird nun aber unsere Konkretion hinzugefügt:

„‘Ich rotte die Streitwägen über Ephraim aus

und die Reiterei über Jerusalem

und zerschlage den Bogen des Krieges.‘

Und er ruft aus Frieden für die Völker.“

Das ist die Herausforderung unseres Bibelwortes! Können wir uns überhaupt auf sie einlassen? – Auf eine endgültige Lösung der Machtfrage zugunsten Jerusalems, zugunsten Israels – stotternd wage ich hier den Namen des modernen Staates „Israel“ anzudeuten, denn wie sonst könnten die Begriffe „Ephraim“ und „Jerusalem“ aufgenommen werden? Auf eine Zerstörung der vorhandenen militärischen Waffenarsenale – von Panzerarmeen bis zu Bomberflottillen, zu Raketen in Silos, zu waffentragenden Drohnen, zu Lagern von Chemiewaffen, zu Arsenalen von Hackertechnologien, um Krankenhäuser, Kraftwerke lahmzulegen… Wer von uns bedenkt solche Dimensionen, wenn sie oder er sich auf Advent und Weihnachten vorbereitet? Wer stellt sich einen König vor, der unsere Welt der Jahre 2020 und 2021 auf solche Richtung hin ändert?

Wir lesen diese alten Worte als Christen, als Frauen und Männer, die sich dem Christentum öffnen, die Christinnen und Christen sein wollen, die ihrem Leben christliche Ausrichtungen geben! Das heißt, wir lesen diese alten Worte als Worte, die im Zusammenhang mit Jesus aus Nazareth stehen, die für uns von ihm sprechen. Dieser Jesus aus Nazareth ist für uns

„unser König, der kommend ist zu uns,

der ein Gerechter und ein Rettender ist,

der ein Armer und ein Reitender auf einem Esel

und auf einem Eselsfüllen, dem Sohn von Eselinnen, ist!“

Dieser Jesus hat die Gewaltstrukturen seiner Zeit immer wieder zeichenhaft überwunden aber letztlich nicht aufgehoben. Er hat sie nicht beseitigt. Sondern er wurde unter ihnen zerstört. Nur, weil er als Auferstandener erfahren wurde und wir ihn als Auferstandenen glauben, ahnen wir, dass es jenseits unserer Machtstrukturen von Militär, Geld, Elitenmacht und Hackerarbeit eine besondere, eine eigentliche Macht gibt. – Diese glauben wir, diese begrüßen wir zu Advent und zu Weihnachten.

Ich darf noch einmal eine Verbindung zu meiner Jugendzeit herstellen: Damals habe ich als Bürger des Sowjetischen Imperiums, als Bürger der sozialistischen und atheistischen DDR geglaubt, dass es eine wahre Wirklichkeit voller Macht gibt, die jenseits allem Beobachtbaren, jenseits aller alltäglichen Kompromisse doch da ist. Deshalb habe ich auf sie mitten in den alltäglichen Kompromissen vertraut. Von ihrer Fähigkeit und Herrschaft war ich im Unterschied zu allen offensichtlichen Machtstrukturen überzeugt. Dass es also dieser Christus ist, den „unser Land, unsere Stadt bei sich hat“. Dazu lade ich auch heute, auch zur Adventszeit des Jahres 2020 ein!

Unser Predigtwort in Sacharja 9 können wir nur richtig verstehen, wenn wir erkennen: Jesus ist Sieger – aber ganz anders, als die Theologen Jerusalems um 230 vor Christus gehofft hatten. Und seine Herrschaft gilt überall und für alle – nicht nur für ein Gebiet im Vorderen Orient „vom Meer zum Meer“, „vom Strom bis zum Ende des Landes“. Seine Herrschaft besteht auch für uns in Franken, in Erlangen, und für die Menschen von Wladiwostok ganz im Osten Russlands, in Ostsibirien, bis zu jenen in Punta Arenas ganz im Süden Chiles, um nur die beiden Pole zu nennen, die ich bei meinen vielen Besuchen und Begegnungen vom Martin-Luther-Bund aus in Partnerkirchen erreicht hatte.

Werden wir aufmerksam auf die kleinen, ganz verhaltenen, aber doch überwältigenden Zeichen und Hinweise dieser geheimnisvollen Macht: In diesem Jahr werden wir nicht in bisher gewohnter Weise auf Weihnachtsmärkte gehen können, nicht dort begeistert zusammen mit anderen stehen können, nicht feinen Glühwein trinken und nicht schmackhafte „Drei im Wäckla“ essen können. Aber verteilt in einer Stadt wird es einzelne Stände geben. Bei Beachtung der Abstandsregelungen werden wir an ihnen schauen und kaufen können. Sind diese vereinzelten Stände nicht ein Symbol dafür, dass eine bessere Wirklichkeit da ist und sozusagen hier und da hineinragt in unser Leben?! Ich habe schon in dieser Zeit im Kopf: an einem Platz in Erlangen ein Karussell, das dort ganz allein dasteht, aber Kinder zum fröhlichen Fahren auf seinen Pferdchen einlädt. Mitten in unserer alltäglichen Welt, in der wir von einem Kaufhaus in das andere wechseln, so ein Angebot einer ganz anderen Wirklichkeit! Wäre dieses Angebot nicht auch ein Hinweis auf diese ganz andere Wirklichkeit, die sich über unserer Welt wölbt:

„[…] so lass uns hören jenen vollen Klang

der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,

all deiner Kinder hohen Lobgesang“ (Ev. Gesangbuch 65, aus Strophe 6).

Öffnen wir uns also dieser beeindruckenden Dimension, durch die auch wir erfasst werden, erreicht werden, betroffen werden:

„Hosianna, Davids Sohn,

sei gesegnet deinem Volk!“                                                                 Amen

Text:

9aαα    גילי מאד בת ציון              Jauchze sehr, Tochter Zion,

9aαβ    הריעי בת ירושלם             Rufe [Septuaginta: Verkündige] Tochter Jerusalem:

9aαγ    הנה מלכך יבוא לך            Siehe, dein König kommt (ist kommend) zu dir –

9aαδ    צדיק ונושע הוא                ein Gerechter und ein Rettender [Septuaginta: Retter] ist er,

9bα      עני ורכב על חמור             ein Armer und ein Reitender auf einem Esel

9bβ      ועל עיר בן אתונות             und auf einem Eselsfüllen, dem Sohn von Eselinnen, ist er:

10aαα  והכרתי רכב מאפרים         „Und ich rotte aus [Septuaginta: Und er wird vernichten] den Wagen (die Streitwägen) von (über) Ephraim

10aαβ  וסוס מירושלם                 und das Pferd (die Reiterei) von (über) Jerusalem

10aαγ  ונכרתה קשת מלכמה        und zerschlage den Bogen des Krieges.“

10aαδ  ודבר שלום גוים                Und er ruft aus Frieden [Septuaginta: es wird sein Fülle und Frieden] für die Völker.

10bα    ומשלו מים עד ים              Und seine Herrschaft wird von Meer zu Meer sein [Septuaginta: Und er wird Gewässer beherrschen bis zum Meer]

10bβ    ומנהר עד אפסי ארץ          und vom Strom {Euphrat?} bis zu den Enden des Landes [Septuaginta: und Flussmündungen auf der Erde].

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

de_DEDeutsch