Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern), 4. Mai 2003
Predigt über Johannes 10, 11-16. 27-30, verfaßt von Reinhard Weber
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Liebe Gemeinde,

an den Bildern, die im heutigen Predigttext verwendet werden, kann man ermessen, wie weit die biblische Welt von uns entfernt ist bzw. wir uns von ihr entfernt haben und wie fremd uns ihre Lebenswelt geworden ist. Hirten und Schafe und alles, was ihr Leben und Weben angeht, kommen in unserer Umwelt praktisch nicht mehr vor. Die allfällig praktizierte industrielle Agrarwirtschaft hat sie verdrängt bis auf ein paar kleine Nischen, etwa in der Lüneburger Heide, wo man hin und wieder, und dann schon mehr mit touristischen und folkloristischen Anklängen, noch einmal einen Schäfer mit seiner Herde zu Gesicht oder besser: vorgeführt bekommt. Unsere jungen Leute wissen nichts mehr vom Hirtenleben, und schon gar nicht, wenn es um deren alltägliche Existenz, also um die erwähnten Wölfe geht, obwohl die ja jetzt wieder in Deutschland von irgendwelchen verrückt gewordenen Ökosophen eingewildert werden sollen. Ein Anachronismus sondergleichen, während man gleichzeitig jeden Tag in dem winzigen Kleinstdeutschland, was uns dank der Weisheit der sog. Siegermächte noch geblieben ist, ein Areal von 180 Fußballfeldern oder 2.000.000 qm (in Worten: 2 Millionen m2 täglich!!!) der eh nur noch geringen Freiflächen zubaut, versiegelt, betoniert. Das muß niemand mehr kommentieren.

Also, was das Jesusbild vom Hirten angeht, sind wir von einem andern Stern, leben wir auf einem anderen Planeten. Die Menschen damals, und so auch Jesus, haben eben eine andere Lebenswelt geteilt, die nicht mehr die unsere ist, eine halbnomadisch agrarische mit viel Weidewirtschaft und Kleinvieh. Das Hirtenbild war plastisch und allfällig, heute ist es künstlich, ein Schauspiel für Kinder mit Seltenheitswert. Deshalb müssen wir es übersetzen, um es uns nahezubringen und anschaulich zu machen. Als gängige, selbstverständliche Metapher taugt es nicht mehr.

Und doch - seltsam: wenn man als Pfarrer bei Beerdigungen die Angehörigen fragt, welchen Text man denn für die Ansprache nehmen soll, so kommt in der Regel, jedenfalls in den allermeisten Fällen: Psalm 23 – „der Herr ist mein Hirte“. Der Hirtenpsalm! Natürlich, ich weiß, den hat man vielleicht und wahrscheinlich als einzigen, übriggebliebenen noch im Konfirmandenunterricht gelernt, wenn man denn noch was gelernt hat. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man noch kommt. Der sitzt bei den Älteren noch ziemlich fest, den kennt man noch halbwegs, und sei es auch nur von ferne, dem Hörensagen nach. Dieser Psalm mit dem Weiden auf grüner Aue und dem frischen Wasser ist sicher einer der bekanntesten Texte der Bibel überhaupt, sogar in eher kirchen und christentumsfremden Kreisen. Ein hängengebliebener Rest. Immer wieder wird der verlangt, auch wenn es dem Pfarrer bald lästig ist, immer wieder dasselbe Getreide dreschen zu müssen, mit wohlwollendem Gesicht zumal. Und das ist ja der gute Hirte.

Das Bild kommt anscheinend immer noch gut an, und als Kinder haben wir ja früher auch so kleine oder größere Jesusbildchen gehabt und geschenkt bekommen, auf denen der treuherzige, bärtige Jesus sich das verlorene Schaf (da kommt es noch mal vor!) auf die Schulter gelegt hat und es beschützt und zur Herde zurückbringt. Der Jesus mit dem Hirtenstab. Damit konnte man sicher einschlafen. Das war tröstlich.

Das Bild selbst atmet darum immer noch eine Vertrautheit, jedenfalls geht es mir so, die tief in Kindheitszeiten und Kindheitsgefühle hinabreicht, sehr tief sitzt und wohl doch archetypischen Charakter hat, also ins kollektive Unbewußte hinunterwurzelt. Und damit auch der Text vom guten Hirten aus Joh 10, wie er heute die Predigt begründet.

Das Bild als solches ist eben „so richtig schön“, wie man oft zu hören bekommt. Es geht zu Herzen und erreicht eine seelische Intensität, wie sie wenigen anderen Metaphern eigen ist. „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ Das schlägt eine Saite im angesprochenen Menschen an, die Ruhe und Frieden, Geborgenheit und Vertrauen, Sicherheit und Angstfreiheit, Wärme und Nähe, Loslassenkönnen und Umfangensein wachruft und zum Klingen bringt, ja sie uns zusagt, uns in diesen erweckten Raum hineinversetzt, ihn schafft. Da kann man sich wohlfühlen. Darum wird das Bild auch heute noch recht unvoreingenommen und widerstandslos goutiert, angenommen, rezipiert, akzeptiert, obwohl mit ihm doch erhebliche Ambivalenzen, Zwiespältigkeiten verbunden sind. Wer möchte sonst schon gerne mit einem Schaf verglichen werden, das doch eher für Dummheit und Naivität steht. Mit dem Bild könnten ja sowohl im Blick auf den Hirten fatale „Führer“-Assoziationen verbunden werden, als auch im Blick auf die Schafe solche der Entmündigung und Bevormundung, und beides zusammen ergibt dann diese berühmt-berüchtigte Melange von Herdentrieb und Unterwerfungsgestus. Alles nicht sehr appetitliche Vorstellungen, dazu noch die Lämmer als traditionell wehrlose Opfer, geradezu prädestiniert zum Mißbrauch und zur Instrumentalisierung, und die Hirten als Übermenschen mit der Overprotecting-Neurose oder dem Gott-Vater-Herrschafts-Syndrom.

Und dennoch gilt auch hier: abusus non tollit usum, der Mißbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf, obwohl man das in Deutschland noch nie begriffen hat, bes. nicht nach 1945, sondern immer nur den Sprung von einem Extrem ins andere kennt und so den einen Mißbrauch durch den anderen ersetzt.

Das Urbedürfnis des Menschen, und das ist es ja und wird es bleiben, solange er ein endliches und abhängiges und angewiesenes Wesen ist, und wie sollte er je etwas anderes sein, dieses Urbedürfnis nach Lebensgewißheit und Sicherheit, nach Orientierung und Umfriedung, nach guter Leitung und solidarischer Gemeinschaft (ein Hirt und eine Herde), besonders und vor allem aber nach Erkanntwerden („ich kenne die Meinen“), also nach individueller Identifikation (auch und gerade in der „Herde“), das läßt sich nun einmal weder mit dem Teufel austreiben noch wirklich verleugnen. Das ist schlicht als unhintergehbar anzuerkennen. Dazu ist ja zu sagen! Will heißen, das fremde, lebensweltlich entzogene Hirtenbild, gerade auch mit seinen religiösen Konnotation und Assoziationen ist trotz seiner Abständigkeit im milieuspezifischen Sinne eigenartig präsent und aktuell in unserem seelischen Untergrund.

Und da und gerade deshalb, wo es um diese Urbedürfnisse und ihre Befriedigung geht, ist es eben von entscheidender Bedeutung, wohin man gerät, in welchen Kreis man sich hineinziehen läßt, wie sie gefüllt, verwendet und gestaltet werden, wie man besonders an den Jugendlichen sehen kann. Und auch das mit dem Hirtenbild verbundene Bedürfnis kann man nicht ausrotten, ohne die Menschlichkeit des Menschen aufzuheben, das dürfte jedem vernünftigen Menschen, der Erfahrungen mit sich selbst und der Menschheit und ihrer Geschichte gemacht hat, einsichtig und unwiderleglich sein. Also kommt es darauf an, wie es befriedigt wird. Wie der Hirte von dem Rattenfänger, sprich in unserem Text von dem Mietling unterschieden werden kann. Darum geht es, das ist der Kern unseres Johannes-Textes. Daß man es mit dem richtigen, dem guten Hirten zu tun bekommt. Und das heißt ineins dann eben, daß man es mit dem richtigen Leben zu tun bekommt, dem Ort, wo dieses Bedürfnis wirklich hingehört. Da muß unterschieden werden.-

Deshalb: Jesus grenzt sich als den guten Hirten, für den die Schafe sein Eigentumsvolk sind, von dem Mietling, dem gemieteten Hirten ab und zeigt die Differenz zwischen beiden in ihrem Verhältnis zu den Schafen an ihrem Verhalten in der Krisis, der kritischen Situation, die immer enthüllenden Charakter hat. Schon im ersten Satz ist alles gesagt: der gute Hirte läßt in der Not sein Leben für die Schafe. Der Mietling hingegen nimmt reißaus, wenn der Wolf kommt. Wozu soll er auch sein Leben einsetzen und evtl. opfern, wenn er doch nur um Lohn arbeitet, wenn die Schafe ihm nicht gehören, nicht sein Leben, seine Daseinsgrundlage darstellen, er nur einen Zeitvertrag hat, seine Loyalität, sein Interesse also begrenzt sind?! Sein Verhalten entbehrt nicht der Logik, denn seine Verantwortlichkeit ist faktisch limitiert. Ihm kann es nicht ums Ganze gehen, weil die Herde nicht sein Ganzes ist. Sein Verhältnis zu ihr ist eben kein existentielles, sondern ein geschäftliches, und darin liegt der entscheidende Unterschied!

Man kann es vielleicht vergleichen mit einem Beispiel aus unserer heutigen Lebenswelt: wenn ich ein Auto miete oder lease, dann mache ich einen entsprechenden Vertrag, in welchem meine Rechte und Pflichten genau geregelt und abgegrenzt sind. Es wird nicht mein Eigentum, es bleibt geliehen. Es ist fast unweigerlich, und wir erleben die Macht dieses Einflusses beinahe jeden Tag, daß ich es dann anders behandeln werde, als wenn ich es gekauft hätte. Das beste Beispiel für dieses „Gesetz“ war die untergegangene DDR, und jeder, der alt genug war, hat die Bilder nur noch allzu deutlich vor Augen. Mit dem sog. sozialistischen Eigentum, dem Volkseigentum, war es nicht soweit her, da konnte man sich auch unter der Hand mal dran bedienen, wenn es für private Zwecke brauchbar schien, im übrigen aber wurde es vernachlässigt bis dort hinaus. Anders im privaten Raum, da achtete man auf seinen Trabi wie auf einen Augapfel, der wurde pfleglich behandelt wie ein Heiligtum. Mit dem, was mir nicht gehört, gehe ich anders um als mit meinen eigenen Sachen. Das scheint unausrottbar, im Großen wie im Kleinen.

Daß bei den heutigen Jugendlichen dieses Prinzip auch nur noch eingeschränkt zu gelten scheint, wie ich immer wieder erstaunt und mit Erschrecken erleben muß, und sie auch mit dem Eigenen in trostlos-rabiater, gleichgültiger Manier umgehen, steht auf einem anderen Blatt und liegt wohl eher nur daran, daß für sie alles ersetzbar, weil im Überfluß vorhanden ist und demgemäß das (nominelle) Eigentum eigentlich gar mein richtiges Eigentum nicht mehr ist; ich komme darauf gleich noch zurück.

Den Mietwagen also bringe ich wieder zurück, um dessen (weiteres) Ergehen brauche ich mir keine Sorgen zu machen, es interessiert mich nicht; sollen die anderen sehen, wie sie damit zurecht kommen. Achthaben muß ich nur auf mein Eigentum, weil dessen Schicksal mich trifft, dafür muß ich geradestehen, da habe ich etwas zu verlieren, da habe ich Inter-esse, da bin ich dazwischen, dabei, darin.

Es hängt also wohl am Begriff des Eigentums. Aber was ist wirklich Eigentum?

Kann der VEB kein echtes Eigentum sein? Wie kommt es zu dieser Geringschätzung fremden, allgemeinen, öffentlichen und damit scheinbar herrenlosen Eigentum, wie wir es jetzt wieder im Irak bei den Plünderungen und bes. dem Ausrauben des Nationalmuseums, ja auch Volkseigentum, erlebt haben? Es scheint eben nicht an den äußeren Rechtsverhältnissen als solchen zu hängen, Eigentum ist nicht zuinnerst ein bloß juristischer, legalistischer Begriff. Wirkliches Eigentum ist vielmehr das, was mir wirklich zueigen ist, dem ich, das mir zugeeignet ist. In unserem konkreten Verhalten zeigt sich ja, daß Eigentum in erster Linie eine seelische, keine privatrechtliche Realität ist, oder doch erst sekundär auch eine solche. Das macht ja das nachlässige Verhalten der heutigen Jugendlichen zu ihrem eigenen Besitz deutlich. Mein Eigentum ist eigentlich nur das, was ich mir innerlich zueigen gemacht habe, was ein Teil von mir, was mir unersetzlich geworden ist, was mein Leben ausmacht, wovon ich innerlich erfüllt bin, was mich in meinem Selbstsein erfaßt hat, dem ich in Liebe zugetan bin, das ich nicht missen möchte, mit dem ich ein Fleisch geworden bin. Das kann ich auch nicht in dem üblichen Sinne besitzen. Das ist viel mehr als ein formalisierter Eigentumsbegriff, wie er gewöhnlich verwendet wird. Es ist aber derjenige, den Jesus hier verwendet und für sich und sein Verhältnis zu seinen Schafen in Anspruch nimmt.

Der Mietling baut kein persönliches, inneres Verhältnis zu der ihm übergebenen Herde auf, und ein solches widerspricht auch seinem zeitlich und sachlich begrenzten, kommerziellen Auftrag, wenn er ihn denn so versteht. Der gute Hirte aber hat ein Lebensverhältnis zu der ihm anvertrauten Herde, und zwar ein solches, das weder zeitlich noch sachlich limitiert ist, dem kein Vertrag zugrunde liegt, sondern das Leben selbst. Sein Schicksal ist mit dem seiner Herde verknüpft. Das Leben seiner Schafe ist sein eigenes und umgekehrt. Und nur auf dieser Grundlage ist das Opfer des Lebens möglich und glaubhaft. Opfern kann sich nur das Leben der Liebe, die in dem Opfer des Lebens sich selbst als Liebe gewinnt und bestätigt zugleich. Darum kann Jesus dieses Bild vom Hirten hier so spezifisch wenden und durchbrechen und überhöhen zugleich, und damit auch konkretisieren, nämlich auf sich selbst und sein eigenes Schicksal hin.

Sein Leben als guter Hirte ist das Leben der Liebe zu den Schafen als zu seinem eigenen Leben, welches sich liebend hingibt an das Leben der Schafe, um durch das Lebensopfer die Liebe zu leben und sich selbst als Liebenden und so eben als wahrhaft guten Hirten zu gewinnen. Es ist dies ein einziger, in sich lebendiger Prozeß.

So können wir die Botschaft unseres heutigen Predigttextes ganz schlicht zusammenfassen und auf den Kern bringen: Wir sind keine Mietwagen, die nach Gebrauch abgegeben und in die Ecke gestellt werden, sondern wir sind das Eigentum Gottes, d.h. sein eigenes Leben, durch welches und in welchem er sich selbst liebt und sein Lieben als unser Leben betätigt und bestätigt. Sich als das lebendige Eigentum der Liebe Gottes zu sich selbst zu erkennen, dadurch daß er uns als diese individuierte einzelne Existenz als Bestandteil seines Lebens erkennt, heißt darum, sich als sein Kind zu wissen. Gott hat zu uns mithin kein Leistung-Lohn-Verhältnis, er ist auch kein Arbeitgeber, der am Ende abrechnet oder kündigt, sondern seine Gemeinschaft mit uns ist von der Art, wie sie der Vater zu dem Sohn hat, welche die Liebe zum eigenen Leben ist. Das in einer solchen Beziehung herrschende Vertrauen kommt von und wirkt sich aus in der Treue. Denn dieses Kennen ist Erkennen, sich im anderen als man selbst erkennen, dieses Antworten ist Verantworten. Wie sich Jesus als der gute Hirte zu uns verhält, so verhält sich Gott der Vater zu dem Hirten als Gott dem Sohn, denn so wie der gute Hirte die Seinen kennt und die Seinen ihn, so kennt der Vater den Sohn und der Sohn den Vater, denn er und der Vater sind eins; aber indem der Vater durch den Sohn dessen Herde kennt, erkennt er sie als seine Kinder und damit durch den Opfertod des Sohnes hindurch als integrierenden Bestandteilsein seines eigenen auch noch im Tode lebendigen Lebens. Und genau dies ist die Osterbotschaft, von der wir an diesem Sonntag herkommen. Denn über denen, die seine Stimme hören und von ihm gekannt werden und ihm folgen, steht die Verheißung des wahren, des ewigen Lebens, das keinen Tod mehr kennt.

„Er reißet durch den Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not, er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell“.

Darum, „heute so ihr seine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht“ (Hebr 3,8 etc.), „denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen“ (1. Petr 2,25; vgl. Mt 9,36).

Amen.

PD Dr. Reinhard Weber
Rudolf-Bultmann-Str. 4
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