Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

14. Sonntag nach Trinitatis, 21. September 2003
Predigt über Lukas 17
, 11-19, verfaßt von Andreas Brummer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

"Noch einmal davongekommen!". In letzter Sekunde.
Da waren sie schon weg vom Fenster, die Zehn, von denen unser Evangelientext erzählt. Da gehörten sie schon zu denen, die man abgeschrieben hat. Mit denen keiner mehr etwas zu tun haben wollte.
Abgeschoben draußen vor die Stadt. Diagnose: Aussatz.
Eine Krankheit, die den Körper entstellt - und die die anderen abstößt.
Wer weiß, wie lange die 10 da schon vor den Toren der Stadt lebten in ihrer ungewollten Quarantäne?
Monate, Jahre? Man sieht die Kinder von ferne - aber sie in den Arm nehmen?
Die eigene Frau - keine Berührung ist möglich, allein vielleicht ein paar Worte von ferne?
Aber dann: Eine Nachricht breitet sich aus. Breitet sich aus auch unter denen, die da vor den Toren leben. Der Wunderrabbi kommt. In diese Stadt. Und so versammeln sie sich in Sichtweite des Weges.
“Ob er wohl auch uns helfen kann? Uns, denen, die im abseits stehen, draußen vor der Tür?”
Sie standen von ferne, so heißt es da.

Sie standen von ferne. Nicht nur damals ist das so. Ich denke, es gibt auch heute eine ganze Reihe von Menschen, die da von Ferne stehen und gucken, ob da nicht einer einmal Notiz nimmt von ihnen und ihrer Not. Ob da nicht einer oder eine einmal hinzuschauen wagt und nicht gleich den Kopf wegdreht.

Doch die 10 Ausgestossenen aus unserer Geschichte lassen es nicht dabei, still zu leiden und zu warten, dass einer sie sehe. Sie machen auf sich aufmerksam. Sie rufen, sie schreien aus voller Kehle:
Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser.
Ob's die Verzweiflung ist, die da aus ihnen ruft?
So vieles schon ausprobiert - und doch nicht gesund geworden!
Warum nun nicht diesen einen als letzten Strohhalm? Wer weiß, vielleicht kann dieser ja helfen?
Oder ob sie wirklich spüren und ahnen: Da ist eine Kraft in jenem Rabbi, die kann ein Leben auf den Kopf stellen und so auch das ihre; die kann ihr Leben jenseits der Gemeinschaft neu machen und heil.

Wie dem auch sei, der, der da angerufen wird, fragt nicht nach ihren Gründen.
Er bleibt stehen und sieht.
Und als Jesus sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern!

Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein".
Keine Spontanheilung ist es, die hier stattfindet. Kein Budenzauber, der die Menge erschrecken lässt.
Die Kranken werden vielmehr schlicht auf einen Weg geschickt: Geht hin und zeigt euch den Priestern.
Jesus hält sich dabei an das übliche Verfahren. Die Priester waren es, die zu beurteilen hatten, ob da einer rein war, sozusagen wieder gesellschaftsfähig. Die Priester waren so etwas wie das Eingangstor zurück in die Gemeinschaft. Kam von dort die Antwort "du bist rein", dann war der Weg frei: der Weg zurück - zurück zur Familie, zurück zur Arbeit, zurück ins Leben.

Jene Zehn nun machen sich auf diesen Weg, auf den sie geschickt werden.
Ich finde, das ist schon außerordentlich und nicht selbstverständlich.
Denn wohlgemerkt: Der Ausgang des Ganzen ist ja noch unsicher. Da war keine vorschnelle Versprechung. Da war kein Heilungswunder. Das einzige, was Jesus zu ihnen sagt, ist schlicht eine Aufforderung: “Geht! Zeigt euch!” Das Wunder geschieht erst dann, auf dem Weg und ganz nebenbei. Unauffällig und unspektakulär, so dass man es im Grunde gar nicht beweisen kann. Dass man gar nicht Jesus direkt dafür verantwortlich machen kann und die Heilung selbst mehrdeutig bleibt. Ein Wunder? Waren sie nicht vielleicht in Wahrheit schon längst wieder dabei, gesund zu werden? Sicher ist nur: by the way - nebenbei auf dem Weg, da wird es sichtbar und spürbar für alle.

Auf dem Weg und nebenbei. Vielleicht ist das ja etwas, was auch wir heute uns merken müssen: Um heil zu werden an Körper und Seele, dazu muss man einen Weg gehen. Das fällt nicht vom Himmel. Selbst in der unmittelbaren Gegenwart dessen, der in Gottes Auftrag unsere Welt heil machen will. Selbst in seiner Nähe fällt die Heilung nicht vom Himmel. Und manchmal ist der Weg vielleicht sehr lange und mühsam. Und selbst dann ist es nicht zu erzwingen, sondern geschieht. Plötzlich und unvermutet. By the way.
Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

"Noch einmal davongekommen!".
Endlich wieder die Kinder in den Arm nehmen können, endlich wieder eine zärtliche Berührung zwischen Mann und Frau.
Endlich wieder unter den Menschen, unter den Gesunden, endlich wieder unter denen, die Zukunft haben, denen die Zukunft gehört.
Und so stürzen sie zurück, wie es scheint. Jedenfalls 9 von ihnen. Wie ausgehungert stürzen sie zurück. Stürzen wieder mitten hinein in das Leben, von dem sie solange ausgesondert und ausgemustert waren. Stürzen hinein in ihre Familien, in ihre Arbeit, in ihre alten Lebensmuster und in ihre alten Lebenspläne.
Nachvollziehbar ist das. Es ist im Grunde schlicht normal. Damals und heute auch. Wer wieder gesund ist, aus dem Krankenhaus oder dem Reha-Zentrum entlassen, für den heißt es: So schnell wie möglich wieder Anschluss bekommen und auf den Zug des Lebens wieder aufzuspringen. Der hält ja nicht einfach an, weil ich krank bin. Der bleibt ja nicht einfach im Bahnhof liegen, weil da ein Platz leer geblieben ist.
Und deshalb: Dranbleiben, aufholen!
Der Arbeitsplatz - wie schnell ist man da ins Hintertreffen geraten!
Das Leben - nur nichts verpassen!
Deshalb: Heraus dem Krankenhaus und zurück in den Alltag. Auf dass da wieder Normalität einkehre.
Denn nichts ist schlimmer in einer Welt, in der Leistung fast alles ist, als dass da an einem oder einer der Nimbus klebt: "Der/die ist nicht mehr belastbar".

Also: Verwunderlich ist das nicht, dass 9 von den 10 Männern sofort in ihren Alltag zurückkehren, dass sie versuchen all das hinter sich zu lassen, was sie an ihre Krankheit erinnert. Denn da ist ja auch dieses schreckliche Gefühl, diese Erinnerung: “Mein Körper wendet sich gegen mich, er versagt mir den Dienst, lässt mich mit all dem, was da ist an Plänen und Zielen im Stich”.

Zurück in den Alltag: Nur ja nicht einmal mehr den Anschein des Krankseins mehr um sich haben.
Nein: “Wir sind gesund, wir sind wieder da, mit uns müsst ihr wieder rechnen.” Und das gilt es dann auch zu beweisen in der Tretmühle des Alltags. Kennen Sie das nicht auch? Da war einer schwer krank, und kaum ist er zurück an seiner Arbeitsstelle, da versucht er mit aller Kraft es allen und jedem zu beweisen: “Schau an, ich bin wieder da, ich kann's noch. Ich bin noch was wert.”

Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war,
kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme.

Einer schert aus. Einer geht nicht sofort zurück in den Alltag. Einer von den 10 hält inne. Geht zurück zum Ort seiner Krankheit. Geht zurück zu dem Ort der Not, an dem aber doch auch die Heilung begann und an dem vielleicht noch andere liegen und warten. Das ist fast so, als bliebe da für einen Moment die Zeit stehen. Als machte da einer einen Einschnitt und fragte: "Was nun?".
Das alles lässt sich ja nicht einfach abschütteln und verdrängen. Die Zeit der Krankheit, die Ausgeschlossenheit, das Gefühl: “Ich bin nicht unverwundbar. Mein Körper hat Grenzen. Grenzen der Belastung”. Und dazu die Erfahrung: “Wenn ich krank bin, dann kräht kein Hahn mehr nach mir.”

"Was nun?" - Da geraten Lebensziele und -pläne ins Wanken. Da kehrt einer nicht sofort zurück in die Tretmühle des Alltags, in die Welt der hoffnungslos Gesunden und ihrer oft so unbarmherzigen Ideale vom "mehr": Mehr leisten, mehr Erfolg, mehr Geld, mehr Spaß. Da nimmt einer eine Auszeit, auf dass er es überhaupt begreife, es überhaupt schmecke und spüre: “Ich bin gesund!”
Das gibt es eben auch in unserer Geschichte, dass da einer erkennt: “Ich kann neu ins Leben gehen.”
Mit einer veränderten Perspektive. Nicht mehr nur mit dem Leistungsblick der hoffnungslos Gesunden.
Dass einer merkt: “Ich kann mir neue Ziele setzen, kleiner vielleicht, aber eben mit mehr Freiraum und weniger Druck”. Dass einer oder eine nun ein bisschen mehr in der Gegenwart als für die Zukunft lebt.

Und er pries Gott mit lauter Stimme.
Mit lauter Stimme. Am Anfang war ein Rufen und ein Schreien: Jesus lieber Meister, erbarme dich unser. Und jetzt ist das Lob mit lauter Stimme so etwas wie die Entsprechung, wie die Antwort auf das Flehen in der Not. Da nimmt einer seine Gesundheit nicht heimlich still und leise mit sich nach Hause, so wie man ein Pfund Butter, das man gekauft hat, einsteckt, sondern ruft es heraus: “Gesund bin ich - Gott sei Dank!”
Da spricht es einer aus, dass da vorher ein Flehen war und ein lautes Bitten und manche Verzweiflung.
Und da fängt einer nicht damit an, den Gott, den er vorher angerufen hat in der Not, hinterher herauszuerklären aus der Geschichte seiner Heilung. Auch wenn es dafür Gründe geben mag. Auch wenn da nichts zu sehen war von einem wundersamen Eingreifen Jesu oder von Engeln und göttlichen Gewalten.
Dennoch wird hier nichts herauserklärt und herumgedeutet.
Da nimmt vielmehr einer sich selbst beim Wort.
Da war am Anfang ein Flehen und ist am Ende ein Lobpreis. Mit lauter Stimme.
Und dazwischen ein Mensch, der heil geworden ist.
Gott sei Dank!
Amen.

Pastor Andreas Brummer
Lüneburger Damm 4 b
30625 Hannover
Andreas.Brummer@evlka.de

 


(zurück zum Seitenanfang)