Liebe Gemeinde!
"Noch einmal davongekommen!". In letzter Sekunde.
Da waren sie schon weg vom Fenster, die Zehn, von denen unser Evangelientext
erzählt. Da gehörten sie schon zu denen, die man abgeschrieben
hat. Mit denen keiner mehr etwas zu tun haben wollte.
Abgeschoben draußen vor die Stadt. Diagnose: Aussatz.
Eine Krankheit, die den Körper entstellt - und die die anderen abstößt.
Wer weiß, wie lange die 10 da schon vor den Toren der Stadt lebten
in ihrer ungewollten Quarantäne?
Monate, Jahre? Man sieht die Kinder von ferne - aber sie in den Arm nehmen?
Die eigene Frau - keine Berührung ist möglich, allein vielleicht
ein paar Worte von ferne?
Aber dann: Eine Nachricht breitet sich aus. Breitet sich aus auch unter
denen, die da vor den Toren leben. Der Wunderrabbi kommt. In diese Stadt.
Und so versammeln sie sich in Sichtweite des Weges.
“Ob er wohl auch uns helfen kann? Uns, denen, die im abseits stehen,
draußen
vor der Tür?”
Sie standen von ferne, so heißt es da.
Sie standen von ferne. Nicht nur damals ist das so. Ich denke, es gibt
auch heute eine ganze Reihe von Menschen, die da von Ferne stehen und
gucken, ob da nicht einer einmal Notiz nimmt von ihnen und ihrer Not.
Ob da nicht einer oder eine einmal hinzuschauen wagt und nicht gleich
den Kopf wegdreht.
Doch die 10 Ausgestossenen aus unserer Geschichte lassen es nicht dabei,
still zu leiden und zu warten, dass einer sie sehe. Sie machen auf sich
aufmerksam. Sie rufen, sie schreien aus voller Kehle:
Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser.
Ob's die Verzweiflung ist, die da aus ihnen ruft?
So vieles schon ausprobiert - und doch nicht gesund geworden!
Warum nun nicht diesen einen als letzten Strohhalm? Wer weiß, vielleicht
kann dieser ja helfen?
Oder ob sie wirklich spüren und ahnen: Da ist eine Kraft in jenem
Rabbi, die kann ein Leben auf den Kopf stellen und so auch das ihre;
die kann ihr Leben jenseits der Gemeinschaft neu machen und heil.
Wie dem auch sei, der, der da angerufen wird, fragt nicht nach ihren
Gründen.
Er bleibt stehen und sieht.
Und als Jesus sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den
Priestern!
Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein".
Keine Spontanheilung ist es, die hier stattfindet. Kein Budenzauber,
der die Menge erschrecken lässt.
Die Kranken werden vielmehr schlicht auf einen Weg geschickt: Geht hin
und zeigt euch den Priestern.
Jesus hält sich dabei an das übliche Verfahren. Die Priester
waren es, die zu beurteilen hatten, ob da einer rein war, sozusagen wieder
gesellschaftsfähig. Die Priester waren so etwas wie das Eingangstor
zurück in die Gemeinschaft. Kam von dort die Antwort "du bist
rein", dann war der Weg frei: der Weg zurück - zurück
zur Familie, zurück zur Arbeit, zurück ins Leben.
Jene Zehn nun machen sich auf diesen Weg, auf den sie geschickt werden.
Ich finde, das ist schon außerordentlich und nicht selbstverständlich.
Denn wohlgemerkt: Der Ausgang des Ganzen ist ja noch unsicher. Da war
keine vorschnelle Versprechung. Da war kein Heilungswunder. Das einzige,
was Jesus zu ihnen sagt, ist schlicht eine Aufforderung: “Geht!
Zeigt euch!” Das Wunder geschieht erst dann, auf dem Weg und ganz
nebenbei. Unauffällig und unspektakulär, so dass man es im
Grunde gar nicht beweisen kann. Dass man gar nicht Jesus direkt dafür
verantwortlich machen kann und die Heilung selbst mehrdeutig bleibt.
Ein Wunder? Waren sie nicht vielleicht in Wahrheit schon längst
wieder dabei, gesund zu werden? Sicher ist nur: by the way - nebenbei
auf dem Weg, da wird es sichtbar und spürbar für alle.
Auf dem Weg und nebenbei. Vielleicht ist das ja etwas, was auch wir
heute uns merken müssen: Um heil zu werden an Körper und Seele,
dazu muss man einen Weg gehen. Das fällt nicht vom Himmel. Selbst
in der unmittelbaren Gegenwart dessen, der in Gottes Auftrag unsere Welt
heil machen will. Selbst in seiner Nähe fällt die Heilung nicht
vom Himmel. Und manchmal ist der Weg vielleicht sehr lange und mühsam.
Und selbst dann ist es nicht zu erzwingen, sondern geschieht. Plötzlich
und unvermutet. By the way.
Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.
"Noch einmal davongekommen!".
Endlich wieder die Kinder in den Arm nehmen können, endlich wieder
eine zärtliche Berührung zwischen Mann und Frau.
Endlich wieder unter den Menschen, unter den Gesunden, endlich wieder
unter denen, die Zukunft haben, denen die Zukunft gehört.
Und so stürzen sie zurück, wie es scheint. Jedenfalls 9 von
ihnen. Wie ausgehungert stürzen sie zurück. Stürzen wieder
mitten hinein in das Leben, von dem sie solange ausgesondert und ausgemustert
waren. Stürzen hinein in ihre Familien, in ihre Arbeit, in ihre
alten Lebensmuster und in ihre alten Lebenspläne.
Nachvollziehbar ist das. Es ist im Grunde schlicht normal. Damals und
heute auch. Wer wieder gesund ist, aus dem Krankenhaus oder dem Reha-Zentrum
entlassen, für den heißt es: So schnell wie möglich wieder
Anschluss bekommen und auf den Zug des Lebens wieder aufzuspringen. Der
hält ja nicht einfach an, weil ich krank bin. Der bleibt ja nicht
einfach im Bahnhof liegen, weil da ein Platz leer geblieben ist.
Und deshalb: Dranbleiben, aufholen!
Der Arbeitsplatz - wie schnell ist man da ins Hintertreffen geraten!
Das Leben - nur nichts verpassen!
Deshalb: Heraus dem Krankenhaus und zurück in den Alltag. Auf dass
da wieder Normalität einkehre.
Denn nichts ist schlimmer in einer Welt, in der Leistung fast alles ist,
als dass da an einem oder einer der Nimbus klebt: "Der/die ist nicht
mehr belastbar".
Also: Verwunderlich ist das nicht, dass 9 von den 10 Männern sofort
in ihren Alltag zurückkehren, dass sie versuchen all das hinter
sich zu lassen, was sie an ihre Krankheit erinnert. Denn da ist ja auch
dieses schreckliche Gefühl, diese Erinnerung: “Mein Körper
wendet sich gegen mich, er versagt mir den Dienst, lässt mich mit
all dem, was da ist an Plänen und Zielen im Stich”.
Zurück in den Alltag: Nur ja nicht einmal mehr den Anschein des
Krankseins mehr um sich haben.
Nein: “Wir sind gesund, wir sind wieder da, mit uns müsst
ihr wieder rechnen.” Und das gilt es dann auch zu beweisen in der
Tretmühle des Alltags. Kennen Sie das nicht auch? Da war einer schwer
krank, und kaum ist er zurück an seiner Arbeitsstelle, da versucht
er mit aller Kraft es allen und jedem zu beweisen: “Schau an, ich
bin wieder da, ich kann's noch. Ich bin noch was wert.”
Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war,
kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme.
Einer schert aus. Einer geht nicht sofort zurück in den Alltag.
Einer von den 10 hält inne. Geht zurück zum Ort seiner Krankheit.
Geht zurück zu dem Ort der Not, an dem aber doch auch die Heilung
begann und an dem vielleicht noch andere liegen und warten. Das ist fast
so, als bliebe da für einen Moment die Zeit stehen. Als machte da
einer einen Einschnitt und fragte: "Was nun?".
Das alles lässt sich ja nicht einfach abschütteln und verdrängen.
Die Zeit der Krankheit, die Ausgeschlossenheit, das Gefühl: “Ich
bin nicht unverwundbar. Mein Körper hat Grenzen. Grenzen der Belastung”.
Und dazu die Erfahrung: “Wenn ich krank bin, dann kräht kein
Hahn mehr nach mir.”
"Was nun?" - Da geraten Lebensziele und -pläne ins Wanken.
Da kehrt einer nicht sofort zurück in die Tretmühle des Alltags,
in die Welt der hoffnungslos Gesunden und ihrer oft so unbarmherzigen
Ideale vom "mehr": Mehr leisten, mehr Erfolg, mehr Geld, mehr
Spaß. Da nimmt einer eine Auszeit, auf dass er es überhaupt
begreife, es überhaupt schmecke und spüre: “Ich bin gesund!”
Das gibt es eben auch in unserer Geschichte, dass da einer erkennt: “Ich
kann neu ins Leben gehen.”
Mit einer veränderten Perspektive. Nicht mehr nur mit dem Leistungsblick
der hoffnungslos Gesunden.
Dass einer merkt: “Ich kann mir neue Ziele setzen, kleiner vielleicht,
aber eben mit mehr Freiraum und weniger Druck”. Dass einer oder
eine nun ein bisschen mehr in der Gegenwart als für die Zukunft
lebt.
Und er pries Gott mit lauter Stimme.
Mit lauter Stimme. Am Anfang war ein Rufen und ein Schreien: Jesus lieber
Meister, erbarme dich unser. Und jetzt ist das Lob mit lauter Stimme
so etwas wie die Entsprechung, wie die Antwort auf das Flehen in der
Not. Da nimmt einer seine Gesundheit nicht heimlich still und leise
mit sich nach Hause, so wie man ein Pfund Butter, das man gekauft hat,
einsteckt, sondern ruft es heraus: “Gesund bin ich - Gott sei
Dank!”
Da spricht es einer aus, dass da vorher ein Flehen war und ein lautes
Bitten und manche Verzweiflung.
Und da fängt einer nicht damit an, den Gott, den er vorher angerufen
hat in der Not, hinterher herauszuerklären aus der Geschichte seiner
Heilung. Auch wenn es dafür Gründe geben mag. Auch wenn da
nichts zu sehen war von einem wundersamen Eingreifen Jesu oder von Engeln
und göttlichen Gewalten.
Dennoch wird hier nichts herauserklärt und herumgedeutet.
Da nimmt vielmehr einer sich selbst beim Wort.
Da war am Anfang ein Flehen und ist am Ende ein Lobpreis. Mit lauter
Stimme.
Und dazwischen ein Mensch, der heil geworden ist.
Gott sei Dank!
Amen.
Pastor Andreas Brummer
Lüneburger Damm 4 b
30625 Hannover
Andreas.Brummer@evlka.de
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