Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2004
Predigt über Römer 14,7-13 und Matthäus 5,43-48
verfaßt von Poul Henning Bartholin (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(dänische Perikopenordnung)

Es gibt zur Zeit einen interessanten Gegensatz. Auf der einen Seite versuchen wir in verschiedenen Bereichen, alle Unterschiede auszugleichen, andererseits sind wir bedacht auf den oder das, was - wie man sagt - "einen Unterschied macht".

Zur Zeit geht es z.B. sehr darum, politisch korrekt zu sein auf religiösem Gebiet. Hier heißt es wiederholt und doch verkehrt, daß es in Wirklichkeit keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Religionen gebe. Ob man nun Hindu, Buddhist, Moslem oder Christ sei, mache in Wirklichkeit keinen Unterschied, sagt man.

Während man in diesem und anderen Bereichen die Unterschiede verwässert, hebt man Einzelpersonen hervor, die "einen Unterschied machen". Zu einem Kriterium dafür, ob ein Mensch eine besondere Persönlichkeit besitzt, wird die Frage, ob er einen Unterschied macht.

Es ist wahr: Es gibt grundlegende Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Religionen. Im Glauben, Beten, dem Abhängigkeitsgefühl von einer äußeren Macht gibt es gemeinsame Züge. Es ist auch wahr, daß Judentum, Christentum und Islam eine gemeinsame Wurzel haben, einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Damit ist aber nicht gesagt, daß es keine entscheidenden Unterschiede gäbe.

Und innerhalb der christlichen Kirche gibt es auch Unterschiede, die sich nicht ausgleichen lassen und nicht ausgeglichen werden dürfen. Es gibt Bereiche, wo wir einig sind, und Bereiche, wo wir nicht einig sind und uns nicht einigen können. Das muß das Kriterium sein für einen wahren Glauben, daß man seinen eigenen Glauben für wahr hält und zugleich anderen sagt, daß ihr Glaube nicht auch wahr sein kann. Christlicher Glaube und buddhistischer Glaube können nicht zugleich wahr sein. Toleranz kann auch nicht heißen, daß alle Religionen wahr sind. Toleranz heißt Stellung beziehen und zugleich dem, der eine andere Auffassung hat, das Recht zugestehen, seine Auffassung zu haben.

Es ist auch wahr, daß sich Menschen ähneln. Aber es gibt auch Unterschiede, und diese Unterschiede bedeuten, daß wir unterscheiden können.

Es gibt einen Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, es gibt einen Unterschied zwischen Licht und Finsternis, Recht und Unrecht.

Der Ausdruck: Es "macht einen Unterschied", bedeutet, eine Trennungslinie zu ziehen. Indem wir diese Trennungslinie ziehen, geschieht etwas Neues. Eine Distanz ist entstanden. Zwei oder mehrere Dinge können in bezug auf einander gemessen werden. Bedeutung und Gewicht lassen sich gegeneinander abwägen. Etwas Neues ist entstanden.

Das Christentum ist nicht wie alle anderen Religionen. Es ist nicht egal oder gleichgültig, ob man das eine glaubt oder das andere. Der Unterschied zwischen Christentum und anderen Religionen zeigt sich in der Formulierung Jesu von heute.

Der Unterschied zeigt sich in der Forderung nach Vollkommenheit, die Jesus heute formuliert. Er zeigt sich auch in der Formulierung des Paulus in dem Brief an die Gemeinde in Rom: Leben wir, so leben wir dem Herren, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.

Gerade in der Forderung nach Vollkommenheit liegt der Unterschied zwischen den anderen Religionen und dem Christentum. Es wird etwas von uns verlangt. Da ist immer ein: Du sollst, das an uns gerichtet ist. Was sollst du? Was will die Forderung? Ja, du sollst leben! Du sollst den heutigen Tag nehmen, wie er ist, als den ersten Tag vom Rest deines Lebens. Du sollst leben. Du sollst leben mit dem Wissen, das Paulus dir gibt, daß du nicht dir selbst lebst. Du lebst nicht dir selbst, sondern du lebst, weil dein Leben von Gott durch Christus geschenkt ist. Dein Leben lebst du dem Herren, und der Herr zeigt dir, daß du lieben sollst. Ja, du sollst nicht nur den lieben, der dich liebt. Was wäre denn auch leichter. Du sollst dich nicht daran berauschen, daß da jemand ist, der dich liebt und dich bewundert. Was ist leichter als den zu lieben. Du sollst deinen Feind lieben. Du sollst das Leben lieben, daß Gabe ist, das Außerordentliche, und das Leben, das unerschwinglich ist.

Unerreichbar, weil du die Forderung nie erfüllen kannst. Unerreichbar ist es, weil sich das Leben in vieler Gestalt in einer grundlegend unangemessenen Weise zeigen kann. Plötzlich greift der Tod in das Leben ein, in einer überrrumpelnden, ungerechten, undenkbaren Weise. Unerschwinglich ist es, wenn du mit einem kleinen Kind in deinen Armen da stehst. Schön, wunderbar ist es, aber wie bewältigst du es, wie kannst du der Forderung gerecht werden, das Leben auch zu bewahren? Du sollst!

Daß sich der Glaube darum sorgt, daß das Leben ein Geschenk ist, wunderbar, überströmend und unüberbietbar - und zugleich eine Forderung, das ist das Besondere am Christentum. Dir wird kein Weg gewiesen, wie du der Schwierigkeit ausweichen kannst, du erhält kein leichtes Rezept, wie du dein Leben so einrichtest, daß du alle die anderen auf Abstand hältst, die das Leben nicht bewältigen. Der Unterschied zu anderen Religionen und Formen von Glauben besteht darin, daß der christliche Glaube von dem ausgeht, was ist, was du bist, und daran festhält, daß du dort und nirgends sonst die frohe Botschaft empfängst. Hier begegnet dir die Forderung nach Vollkommenheit, und hier ist der Ort, wo du die Vollkommenheit empfängst, die du dir nicht selbst zu verdanken hast, sondern ihm, der sie dir aus Gnade schenkt: Jesus Christus.

Der Unterschied ist der, daß von dir verlangt wird, daß du vollkommen wirst. Aber wer kann das? Ja, du hast es wohl einmal geglaubt, daß du es werden könntest. Aber wer ist vollkommen, wer kann den Feind lieben? Wer kann dieses Unmögliche und Unüberbietbare leisten? Wer ist ein Kind Gottes, wenn dies die Forderung ist?

Man macht heute oft aus dem Christentum eine Anzahl von Lebensregeln, eine Moral oder kluge Ratschläge. Das Christentum wird verstanden und bezeichnet als eine Reihe von Werten, die Grundlage der Kultur und des guten Lebens sind. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit über das Christentum. Christentum, Christenglaube und Kultur sind nicht ein und dasselbe. Der christliche Glaube ist eine Forderung. Und wir werden daran festgehalten, daß die Forderung den Unterschied macht. Das Unmögliche wird gefordert: den Feind zu lieben.

Wieder müssen wir fragen: Warum wird das Unmögliche gefordert? Warum nicht nur das Erreichbare? Weil das Mögliche und Erreichbare gleichgültig und banal ist.

Heute suchen wir im Übrigen auch in anderen Bereichen das Extreme. Wir suchen nach Herausforderungen. Wechseln wir den Arbeitsplatz, begründen wir das damit, daß wir nach neuen Herausforderungen suchen. Wir suchen Herausforderungen in der Freizeit. Extreme werden gesucht und gepflegt im Marathonlauf, beim Bergsteigen, Triathlon, Überlebenstouren. Die jungen Leute suchen das Extreme in Rauschmitteln und anderen gefährlichen Stoffen. Warum? U.a. weil das Erreichbare und Mögliche gleichgültig ist.

Wir suchen in allen Bereichen das, was nicht leicht machbar ist, was Überwindung kostet. Im religiösen Bereich aber suchen wir nicht das Unerreichbare, sondern das Mögliche, die Bestätigung und das Mitläufertum.

Vielleicht deshalb ist das Christentum so provozierend, weil es uns nicht bestätigt, sondern uns eine Forderung stellt und etwas befiehlt. Etwas, was wir mit aller Kraft und allem Fleiß sollen: Du sollst vollkommen sein!

Ja, das ist es ja, was wir suchen, aber wir suchen es in unserer eigenen Weise. Das Vollkommene ist ein Ideal, ein Ziel, das wir uns selber stellen. Wir malen ein Bild der perfekten Familie, beeinflußt durch das Bild der Medien vom Familienleben. Wir zeichnen ein Bild der spannenden und herausfordernden beruflichen Karriere, wo alles schnell geht, wo alles schick ist und herausfordernd, viel Arbeit, viel Reisen und immer viel Geld. Wir zeichnen das vollkommene Bild der Gesellschaft ohne Probleme, ohne Fremde, ohne zu viel ausländischen und internationalen Einfluß.

Das hat nur den Haken, daß wir diesem vollkommenen Bild, das wir für unser Leben zeichnen, selbst nicht entsprechen. Die Forderungen lassen sich nicht erfüllen. Die Verhältnisse sind nicht so, und die ethischen und moralischen Ideale und Werte kommen immer wieder unter die Räder. Du kannst also nicht vollkommen sein.

Dann gibt es nur diese beiden Möglichkeiten: Man fühlt sich entweder als Opfer und klagt und sucht das Extreme im politischen Spektrum, oder man verzweifelt, und dort in der Verzweiflung suchst du vielleicht die physische Herausforderung.

Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Zuhören. Du könntest z.B. auf Paulus hören, hören, was er im Brief an die Gemeinde in Rom sagt, was wir heute gehört haben. Und von hier aus könntest du wieder das Evangelium hören von der Forderung nach Vollkommenheit.

Paulus spricht davon, daß man dem Herrn lebt. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.

Paulus will gerade in einem Zusammenhang in dem Brief an die römische Gemeinde, wo er davon spricht, daß das Zusammenleben mit anderen reguliert werden sollte, betonen, daß das Leben des Menschen nicht auf dem Menschen selbst beruht. Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus. Der Mensch lebt nicht sich selbst. Der Mensch ist nicht Zweck und Ziel seines eigenen Lebens und kann dies auch nicht sein.

Paulus erzählt uns, daß der Mensch in ein Verhältnis zu Gott gestellt ist, der Schöpfer und Erhalter unseres Lebens ist. Sich selbst leben heißt allein, isoliert leben. Das will Paulus nicht. Er denkt an das, was das Ziel des Lebens ist. Das ist, mit dem Menschen zu leben, der mir am nächsten steht in diesem Augenblick, meinem Nächsten. Für ihn oder sie lebe ich. Dort soll ich vollkommen sein. Da erleide ich auch die Niederlage, weil ich entdecke, daß ich nicht vollkommen sein kann.

Das wußte Paulus. Er wußte das aus bitterer Erfahrung. Denn was hatte er nicht selbst in seinem Leben getan? Hatte er nicht die Christen verfolgt, ehe ihm das Evangelium begegnete? Hatte er nicht dabei mitgewirkt, daß sie gefangen, gefoltert und hingerichtet wurden? War er vollkommen? Hatte er die Feinde geliebt? Gewiß nicht!

Paulus wurde durch einige dramatische Ereignisse in seinem Leben klar, daß ein Mensch nicht sich selber lebt, der Mensch lebt nicht für sich selber, der Mensch lebt nicht, um sich selbst zu retten.

Darin kommt die Forderung zur Entfaltung, daß man für einen anderen leben soll. Hier soll sie erfüllt werden. Wenn die Verzweiflung darüber, daß wir die Forderung nicht erfüllen können, sich meldet, werden wir daran erinnert, wie auch Paulus daran erinnert wurde, daß Gott uns in ein Verhältnis zu sich gestellt hat. Das Leben ist getragen von ihm. Von ihm wird gefordert, von ihm wird vergeben, wenn wir die Forderung nicht erfüllen können. Die Gnade reicht dir eine neue Möglichkeit.

Es ist wie im alltäglichen Leben, das wir miteinander leben, wo die Liebe und die Vergebung das Leben sich entfalten lassen.

Gibt es etwas in deinem Leben, das einen Unterschied macht, dann dies, daß du gefordert bist, daß stets eine Forderung da ist an dich, vollkommen zu sein, weil du ein Kind Gottes bist, und daß du es nicht kannst, sondern erkennen mußt, daß du dann aus der Gnade Gottes und der Menschen lebst.

Der Unterschied zu anderen Religionen ist hoffentlich deutlich. Dort kannst du dich selbst erlösen durch Meditation, durch Gesetzestreue usw. Dort kannst du dir das Heil verdienen. Im christlichen Glauben wird festgehalten, daß du gefordert bist und daß du die Forderung nicht erfüllen kannst, weil du sie eigentlich gerne ohne Gott erfüllen willst. Aber das kannst du nicht. Du kannst nicht selbst. Du lebst dem Herrn und du stirbst dem Herrn. Er ist zu dir vor allem anderen gekommen. Er hat dich aus der Verzweiflung, der Angst und dem Tod gerissen, indem er seinen Sohn in den Tod gab und ihm aus dem Grabe wieder auferweckte. Du lebst und stirbst dem Herrn. Du gehörst dem Herrn. Er sieht dich, und er ist dir gnädig. Das macht einen Unterschied. Amen.

Propst Poul Henning Bartholin
Selskovvej 42
DK-3400 Hillerød
Tel.: ++ 45 - 48 24 90 50
e.mail: phb@km.dk

 


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