Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 29. Februar 2004
Predigt zu Luthers 1. Invokavit-Predigt, verfaßt von Hinrich Buß

(zum Überblick)


Vorbemerkungen:
1. Ich habe um der Verständlichkeit willen, die bei einer Predigt immer zu beherzigen ist, den Text der von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling besorgten Ausgabe "Martin Luther, Ausgewählte Schriften", Bd.I, S.271ff., Insel-Verlag, Frankfurt 1983, zugrunde gelegt.
2. Leitmotiv soll laut Vorgabe das Thema "Freiheit" sein. Neben den Invokavit-Predigten habe ich deshalb auch Luthers Schrift aus dem Jahr 1520 "Von der Freiheit eines Christenmenschen" herangezogen, in welcher das Thema durch reflektiert wird und präzise formuliert ist.
3. Da jede Predigt gegenwartsbezogen sein soll, ziehe ich die von Luther gelegte Spur bis in unsere Tage aus. Um einen Eindruck von den historischen Ereignissen am Beginn des Jahres 1522 in Wittenberg zu vermitteln, schildere ich am Anfang in wenigen Strichen die damalige Situation.

Liebe Gemeinde,
am Beginn des Jahres 1522 brachen dramatische Ereignisse auf die Kirche der Reformation herein. Martin Luther war nach wie vor auf der Wartburg, versteckt als Junker Jörg. Viele meinten, er sei längst tot. In Wittenberg hatten andere die Reformation in die Hand genommen, "Schwarmgeister", wie Luther sie nannte, vorneweg Karlstadt, im Gefolge Zwilling und weitere auf Erneuerung bedachte Akteure. Die römische Messe wurde abgeschafft, nun das mochte hingehen. Das Abendmahl wurde in beiderlei Gestalt gereicht, in Brot und Wein, auch das war konsequent. Doch die Gläubigen wurden gezwungen, die Hostie in die Hand zu nehmen, was bis dahin als Todsünde galt und was viele deshalb nur mit Zittern und Zagen taten. Heiligenbilder wurden gestürmt und zerstört. Das war Vandalismus. Luther hielt es nicht länger auf seiner Burg. Sein "Ausbrechen aus dem Gefängnis auf der Wartburg..ist..die mutigste Tat seiner Laufbahn, tollkühn, nahezu wahnwitzig", so sein Biograph Richard Friedenthal. Er "wünschte keine Gewaltanwendung. Die Gewalt seiner Worte genügte. Eine Woche lang sprach er von der Kanzel, und die Stadt wurde ruhig." Wann haben Predigten je eine solche Wirkung gehabt?

1.
Die erste Predigt, am Sonntag Invokavit, dem 9. März 1522 gehalten, beginnt mit dem Satz: "Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen." Dies ist kein theoretischer Satz, einfach dahin gesagt. Luther weiß sehr wohl, daß er vogelfrei ist, jedermann kann ihn erschlagen, ohne dafür bestraft zu werden. Er hält sich für extrem gefährdet, und er schlägt dies gleichzeitig in den Wind. Er habe sich dem Kurfürsten zuliebe ein Jahr lang auf der Wartburg verstecken lassen. Jetzt sei es genug, er brauche keinen Schutz mehr. "Ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höheren Schutz denn des Kurfürsten." Er meint sogar, er wolle Friedrich "mehr schützen, denn Ihr mich schützen könnt". Er fühlt sich unter der Obhut Gottes sicher und zugleich frei. Er versteht sich als jemanden, den Gott nun wieder als sein Werkzeug gebrauchen will.

Was in Wittenberg geschehen ist, stellt eine Schmach für das Evangelium dar: "Denn es ist so gehandelt, daß wir's weder vor Gott noch vor der Welt verantworten können", so der von der Kanzel donnerde Luther. Es darf keinen Rückfall in frühere religiöse Zwänge geben. Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens ist vor allem anderen hoch zu halten. Den Tod fürchtet er nicht, wohl aber die Frage, ob er vor Gott bestehen kann. Dies zumal mit der von ihm ingang gesetzten Reformation der Kirche, die nun andere in Zwang und Gewalt verkehrt haben.
Jeder muß "die Hauptstücke, die einen Christen angehen, genau wissen und gerüstet sein." Daß wir nämlich "Kinder des Zorns" sind und daß wir, weil Gott seinen Sohn gesandt hat, "von Sünde frei" sind und "Kinder Gottes": "In diesen zwei Stücken spüre ich noch keinen Fehler oder Mangel, sondern sie sind euch auf reinste gepredigt..Ja, ich sehe gut und darf es sagen, daß ihr gelehrter seid, als ich es bin". Ob der Doktor Martinus hier nicht übertreibt? Er zieht alle Register, ja er möchte die lieben Wittenberger wieder auf seine Seite bringen. Zugleich spürt man seine Freude und seinen Stolz, daß das "liebe Evangelium" so schnell durch die deutschen Lande gelaufen ist, daß es viele Menschen gepackt und in seiner Stadt erst recht Fuß gefaßt hat, wenn auch kurzzeitig ins Gegenteil verkehrt

2.
Mit der ersten Predigt spricht er sofort das Thema "Freiheit" an. Er nimmt auf, was er bereits zwei Jahre zuvor in einer eigenen Schrift mit dem Titel "Von der Freiheit eines Christenmenschen" entfaltet hat. In ihr setzt er eine These gleich vorneweg, um Klarheit zu schaffen und seine Botschaft zuzuspitzen: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan." Es folgt alsbald die zweite These, wie Kundige wissen, doch sie sei einen Augenblick zurückgestellt. Der Christ - ein freier Mensch. In Sachen des Glaubens und des Gewissens niemandem untertan, nicht Kurfürst, nicht Kaiser, nicht Papst, nicht Kirche, nicht irgendeiner anderen Autorität - wie er es selbst auf dem Reichstag zu Worms 1521 demonstriert hat. Das klingt wie Freiherr und Freifrau, es klingt nach Adel, und in der Tat ist jeder Christenmensch geadelt. Obwohl er aus krummem Holz geschnitzt ist, geht er den Gang des Aufrechten, aufgerichtet von Gott. Der Ruf der Freiheit ist fortan mit der Reformation verbunden.

Wie steht es heute damit? Der hohe Ton der Freiheit ist ungebrochen. In Umfragen kann man sich bestätigen lassen: Auf Platz eins aller Wertschätzungen rangiert der Wunsch nach persönlicher Freiheit. Wir brauchen nicht einmal eine Befragung, wir wissen es von uns selbst: Keiner und keine läßt sich heute mehr etwas vormachen oder vorschreiben. Was ich denke oder glaube, bestimme ich. Hier steht eine andere große Gestalt, deren 200jährigen Todestag wir in diesem Jahr begehen, Pate: Immanuel Kant. Von ihm stammt die Definition: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Und er fügt gleich hinzu: "Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!" Mündigkeit ist mithin das Erbe der Reformation und der Aufklärung. Jeder und jede hat die Möglichkeit in Freiheit zu glauben und als mündiger Mensch zu denken. Sogar Kinder sind längst auf dem Weg der Autonomie. Die heutigen Menschen sind dabei sie selbst zu werden, mit sich identisch. Doch ob sie dabei immer ihren Verstand gebrauchen, ist zweifelhaft. Und ob sie dabei tatsächlich frei werden, ist fraglich.

Früh morgens jedenfalls will es noch nicht recht gelingen. "Ich muß erst zu mir selbst kommen", sagt schläfrig der heranwachsende Sohn. Er braucht dafür den Morgen und auch noch den Abend, mitunter die ganze Woche, das Jahr, bei Lichte besehen das ganze Leben. Kommen wir irgendwann bei uns selbst an? Das ist die entscheidende Frage. Wann bin ich bei mir selbst? Wann bin ich bei Verstand? Oder bin ich nie bei Trost? Diesen Widerspruch kriegt man so leicht nicht weg. Wenn sich alle um sich selbst drehen, wer sorgt dann für die anderen?

"Ich und mein Magnum" hieß eine langjährige Eiscreme-Werbung. Da schiebt sich jemand ein süsses Stück Eiscreme in den rot gefärbten Mund, tut sich offensichtlich Gutes, und die anderen, die es sehen, möchten es ihm nachtun. Die Reklame war sehr erfolgreich. Am besten Magnum, was ins Deutsche übersetzt bedeutet: "Das Grosse". Ja, ich bin mir selbst der Größte. Die Eisverkäufer wissen es und füttern dass Ich.

Nur wie will ich es schaffen, mir selbst unendlich wichtig zu sein und doch kein Egoist zu werden? Die Antwort ist klar - es geht nicht. Hier liegt die ständige Selbsttäuschung des Ich bei der Selbstverwirklichung. Ich tue mir nicht nur Gutes, ich werde auch von mir selbst geknechtet und nicht zu knapp. Ich habe meine Launen und Macken. Mitunter merke ich es sogar und ärgere mich darüber. Warum bist du wieder in die Falle getappt? Dies bedeutet, mit Paulus gesprochen und danach mit Luther: Ich muß zuallererst nicht zu mir, sondern von mir befreit werden. Von meiner Selbstbezogenheit. Von meiner Sorge um mich. "Zur Freiheit hat uns Christus befreit", schreibt Paulus im Galaterbrief 5,1. Und einige Kapitel vorher schärft er ein: "Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus in mir" (2,20). Es ist gut, daß er in mir Gestalt gewinnt, daß er mich durchflutet und erleuchtet. Dann geht mir ein Licht auf.

Wir alle sind bedürftig, der Nahrung, der frischen Luft, der Freundschaft, der Liebe. Viele empfinden es freilich als Mangel auf andere angewiesen zu sein. Sie möchten sich alles erarbeiten oder besser noch kaufen können. Das ist einfacher, macht aber auch einsamer. Vor allem aber: Das Wichtigste im Leben kann man nicht erwerben. Gott kann man erst recht nicht kaufen, nicht mit gutem Geld und auch nicht mit guten Taten.

Anders herum gesagt und mit Kierkegaard gesprochen: "Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit." Hier wird eine Wahrheit auf den Punkt gebracht: Ich werde erst ein kompletter Mensch, wenn Gott Teil meiner selbst wird, das bessere Teil. Wenn ich meine Macken, meine Unausstehlichkeiten, meine Unvollkommenheit - oder auf den Punkt gebracht - meine Sünde sehe und merke: "Nobody is perfect", und ich erst recht nicht, ich kann ein Satansbraten sein, sodaß ich nicht mehr weiß, welcher Teufel in mich gefahren ist.

Wenn ich dies alles zur Kenntnis nehme, dann bin ich bei mir selbst. Dies alles ist nicht nur ein Schönheitsfehler, gewissermaßen ein Kratzer im Lack. Es sitzt tiefer, eben da, wo ich selbst bin oder sein möchte oder mich suche. Oft genug bin ich gar nicht bei mir selbst, sondern im Gegenteil außer mir, vor Ärger, vor Wut. Ich könnte mich in den Hintern beißen, aber auch das geht nicht. Wann endlich bin ich bei mir angekommen?
Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit. Erst mit Gott wird ein Schuh daraus, aus dem ausgelatschten Menschen. Dies ist - salopp gesagt - die reformatorische Erkenntnis. Wer Freiheit erreichen will, muß sehr tief in sich ansetzen. Er oder sie muß frei werden von der ewigen Sorge um sich selbst, von der Pirouette um die eigene Person. Hierbei helfen auch die Guttaten nicht, mit Luther gesprochen: "Mein guten Werk die galten nicht, es war mit ihnen verdorben...". Sie mögen gut gemeint sein, aber das ist bekanntlich das Gegenteil von gut. Befreiung geschieht dadurch, daß Gott für uns eintritt, daß er sagt: "Ich bin dir gut", daß er uns gerecht spricht.

"Zur Freiheit hat euch Christus befreit! Darum steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!" - so noch einmal der Anfang des 5. Kapitels aus dem Galaterbrief. Schluß mit dem knechtischen Geist, her mit dem Geist der Befreiung. 'Ein Christenmensch ist ein freier Herr, eine freie Frau aller Dinge und niemandem untertan.' Dies ist der erste, der grundlegende, der von Sorge um sich selbst befreiende Satz.

3.
Es folgt notwendig der zweite, ebenfalls in der Freiheitsschrift stehend: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Das klingt wie das genaue Gegenteil und ist doch die logische Folge. Aus der Befreiuung des einzelnen folgt die Zuwendung zum andern. Doch zwei Jahre später bei den Vorgängen in Wittenberg scheint diese Einsicht nicht angekommen zu sein. Luther findet in der 1. Invokavit-Predigt deutliche Worte. Wir "müssen auch die Liebe haben. Hierin, liebe Freunde, hat's da nicht gefehlt? Ich spüre in keinem die Liebe und merke sehr gut, daß ihr Gott nicht dankbar gewesen seid für seinen reichen Schatz...Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sondern Nachfolger und Ausübende, und das im Glauben durch die Liebe." - "Und macht mir nicht ein 'muß sein' aus dem 'frei sein', wie ihr getan habt, auf daß ihr nicht für diejenigen, so ihr durch eure lieblose Freiheit verleitet habt, Rechenschaft mußt geben."

Solches Handeln bringt Menschen in Gewissensnöte. Vor dem Reichtstag in Worms hat Luther in seiner Rede vorgetragen: "Die Gesetze des Papstes und die Menschenlehren haben die Gewissen der Gläubigen elend in Fesseln geschlagen, mißhandelt und zu Tode gefoltert." Die Gewissensfreiheit - sie ist für Luther das allerhöchste menschliche Gut. Sie darf man nicht belasten, nicht beschränken, nicht verspielen.

Inzwischen gilt es in deutschen Landen als gut protestantisch, frei zu sein von Gott, vom Nächsten und von der Kirche. "Man kann gut Christ sein, auch ohne in die Kirche zu gehen", lautet ein viel gesprochener Satz, gewissermaßen als Bekennntis des modernen Menschen, der sich von allem befreit hat. Es gilt nach wie vor: Keiner soll als Christ, d. h. als von Christus Befreiter geknechtet werden - da sei Gott vor. Der feine Unterschied ist nur: Ein Christenmensch macht sich freiwillig zum Diener Gottes und zum hilfreichen Geist des Nächsten. Paulus spricht von dem Glauben, der in der Liebe tätig ist. Wer von seiner Befreiung durchdrungen ist, möchte auch, daß andere daran teilhaben.

Am Ende seiner Freiheitsschrift hat Luther diesen Zusammenhang so ausgedrückt: Aus dem allen ergibt sich, "daß ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in dem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und in göttlicher Liebe."

Da ist viel Bewegung in der gewonnenen Freiheit. Jemand, der nicht aus seiner Haut kann, fährt aus derselben, zu Gott und zum Nächsten. Man muß schon aus der Haut fahren, um sein altes Ich zu überwinden und das neue Ich zu erreichen.
Das ist, sagt der Reformator, "die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde."
Die alle andere Freiheit übertrifft. Ein Juwel, das in unsere Herzen, Mund und Hände gelegt ist, und sie zugleich himmelhoch überragt.

Amen

Landessuperintendent i. R. Dr. Hinrich Buß
Ludwig-Beck-Str. 4
37075 Göttingen
Tel. 0551-5316683

 


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