Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 29. Februar 2004
Predigt zu Luthers 1. Invokavit-Predigt, verfaßt von Paul Kluge

(zum Überblick)


Vorbemerkung

Eine Predigt Luthers als Grundlage für eine neue Predigt – geht das, darf das? Wird Luthers Wort damit nicht dem der Bibel gleichgestellt und bekommt kanonischen Rang? Vor einiger Zeit hörte ich ein theologisches Referat, in dem der Referent zwar fleißíg Luther, aber nicht ein einziges mal die Bibel zitierte. Luther als Dauer-Papst?

Andererseits: Luthers Predigthörerinnen und –hörer waren Menschen, wie Sie und ich und all die anderen es heute sind. Und wie sie es zu biblischen Zeiten wohl auch waren: Gut und böse, übermütig und ängstlich, von der Gesellschaft ebenso beeinflußt wie vom je eigenen Lebenslauf. Warum also nicht eine Predigt Luthers als Anregung für eine neue!

An der Invokavit-Predigt Luthers fällt mir auf, dass sie in ihrem ersten Teil den Aufbau des Heidelberger Katechismus vorausnimmt: Von des Menschen Elend – Von der Erlösung – Von der Dankbarkeit. Letztere besteht nach dem Heidelberger wie in Luthers Invokavit-Predigt u. a. in „guten Werken.“ Dazu gehört nach Luther auch Rücksicht auf die von Paulus im Römerbrief so genannten „Schwachen,“ eine Rücksicht, die zu Konflikten mit Vertretern der „reinen Lehre“ führen kann. Seelsorge kontra Dogmatik. Der Konflikt ist nicht neu – und wird nicht alt. Wieviel Freiheiten dürfen wir, können wir uns um der Menschen Willen nehmen – und wer oder was darf überhaupt ein zwingendes „Muss“ sagen? Verwenden doch selbst die Gebote ein „Du sollst“ bzw. „Du wirst“...

Frei nehmen und sein lassen
Predigt zu Luthers Invokavit-Predigt

Nach seiner Kur ging der Pastor durch den Ort, um sich seiner Gemeinde zu zeigen. Die Menschen sollten sehen, dass er nach vier Wochen wieder da war. Noch nie hatte er die Gemeinde so lange allein gelassen, war höchstens mal für eine Woche weggefahren und hatte den größten Teil seines Urlaubs verfallen lassen. Doch dann hatte sein Arzt ihn vor die Entscheidung gestellt, entweder eine Kur zu machen oder in Kürze nicht mehr arbeitsfähig zu sein. „Wer sich selbst kaputt macht, kann keinem mehr nützen,“ hatte der Arzt ihm gesagt.

Schlechten Gewissens war er schließlich gefahren, zusammen mit seiner Frau. Auch sie engagierte sich – neben ihrem Beruf als Lehrerin – stark in der Gemeinde. „Sie beide opfern sich auf für unsere Gemeinde,“ hatte ein Ältester bei ihrer Silberhochzeit gelobt, und beide hatten sich über dieses Lob sehr gefreut. Doch jetzt, nach der Kur, verstanden sie es eher als Warnung.

In den ersten Tagen der Kur war es beiden schlecht gegangen: Da war niemand, um den sie sich kümmern, nichts, was sie organisieren mußten. Der Tagesablauf war vorstrukturiert, sie wurden versorgt. Doch es fiel ihnen schwer, das anzunehmen. Und sie fühlten sich allein. Seit die Kinder aus dem Haus waren, war die Gemeinde, waren deren Menschen ihr gemeinsames Thema gewesen. Worüber konnten sie nun miteinander reden?

Allmählich hatten sie sich eingestanden, dass die Kur ihnen gut tat, hatten die Anwendungen, die Versorgung als Wohltaten zu akzeptieren gelernt. Hatten in gleichem Maße ihr schlechtes Gewissen verloren, für das eigene Wohlergehen die Gemeinde allein gelassen zu haben.

Nun waren sie also zurück, gestärkt an Leib und Seele, auch in ihrem Verhältnis zueinander, und er spazierte durch den Ort, um sich seiner Gemeinde zu zeigen. Die Menschen auf der Straße grüßte freundlich, und wo er eine Gardine sich bewegen sah, winkte er einen Gruß zum Fenster.

Hinter ihm klingelte ein Fahrrad, er drehte sich um – einer der Gemeindeältesten stieg vom Rad. „Haben Sie schon gesehen, was wir gemacht haben?“ fragte der mit Stolz in der Stimme und der Erwartung von Dank und Anerkennung. „Ich weiß nicht, was denn?“ fragte der Pastor, während sie sich die Hände schüttelten. Er schätzte diesen Ältesten wegen seiner Einsatzbereitschaft, die gelegentlich allerdings auch etwas sehr forsch sein konnte. „Wir haben endlich die Gedenktafel aus der Kirche entfernt. Haben ja lange genug darüber geredet und nun auch gehandelt. Das freut Sie doch, Herr Pastor?“ Seine Stimme klang nicht mehr ganz so selbstsicher, denn der Pastor sah ihn schweigend an, bis er schließlich fragte: „Und wie reagiert die Gemeinde?“

Da gäbe es, erfuhr der Pastor, viel Zustimmung. Der Krieg sei schließlich über fünfzig Jahre her, auf jedem Friedhof wäre längst jedes Grab eingeebnet und der Stein entfernt worden. „Das Presbyterium war voll dafür,“ sagte der Älteste, „bis auf einen, Sie wissen schon, wer. Doch nun muss ich weiter, die Kleine vom Kindergarten holen. Wir sehen uns Sonntag!“ Und weg war er.

Der Pastor ging noch etwas weiter, nahm dann aber den Weg zur Kirche. Was das Presbyterium in seiner Abwesenheit mit der Tafel gemacht hatte, überlegte er, war vollkommen richtig. Aber war es auch gut? Oft hatten sie die Frage diskutiert, auch im Gemeindeblatt aufgerufen, mit zu diskutieren. Nur wenige hatten sich gegen die Entfernung der Tafel ausgesprochen. Diese wenigen aber hatten den Pastor bewogen, die Tafel noch hängen zu lassen. Keinem der Befürworter des Vorhabens war sie ein Ärgernis, lediglich ein Relikt aus vergangenen Zeiten und ohne künstlerischen Wert. Den Gegnern des Plans aber war das Entfernen der Tafel mit Sicherheit ein Anlass sich zu empören, und sie würden ihre Empörung lautstark äußern. So richtig er das Handeln des Presbyteriums auch fand: Es war wohl nicht gut gewesen. Man hätte den Andersdenkenden Zeit lassen sollen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, vielleicht sogar den Schützenverein in seinem Vorhaben unterstützen, das heruntergekommene „Kriegerdenkmal“ zu restaurieren – das ging sogar bis 1870/71 zurück, enthielt aber auch die Namen der im letzten – hoffentlich letzten – Krieg Umgekommenen. So hätte man die jetzt gewiß entstandenen Verletzungen vermieden, zumindest verringert.

Er war an der Kirche angekommen, die Tür war offen, die Küsterin saugte zertretene Blumen aus dem Kokosläufer. „Gab es eine Hochzeit?“ fragte der Pastor. Die Küsterin erschrak heftig, erholte sich rasch, begrüßte ihn und beantwortete seine Frage sehr detailliert. Doch er hörte kaum zu, sondern sah auf die frisch geweißte Stelle, wo einmal die Tafel hing. Die frische Farbe würde noch lange an die Tafel erinnern und bei einigen Gemeindegliedern Schmerzen verursachen. Auch bei ihm, wie er überrascht feststellte. Zwar hatte er immer und grundsätzlich das Entfernen der Tafel befürwortet, doch nun fehlte sie ihm wie ein vertrautes Bild an der Wand.

„Sieht schlimm aus,“ sagte die Küsterin, zeigte mit ihrem spitzen Kinn Richtung Farbfleck und berichtete von Leuten, die die Kirche „nie mehr“ betreten wollten, sogar mit Austritt gedroht hatten. „Muß man die Leute denn so vor den Kopf stoßen?“ – „Das Presbyterium ist in seinen Entscheidungen frei,“ antwortete der Pastor salomonisch und bekam zu hören, dass Freiheit immer auch die Freiheit der Andersdenkenden sei. Das habe sie, erzählte die Küsterin, früher einmal bei den „Falken“ gelernt, und das gelte ja wohl erst recht in der Gemeinde. „Und Sie haben einmal über Starke und Schwache gepredigt, und dass die Starken auf die Schwachen Rücksicht nehmen und Geduld mit ihnen haben sollen.“

Der Pastor kam wieder auf die Hochzeit zu sprechen, dann verabschiedete er sich. Auf dem Weg nach Hause überlegte er, ob er am kommenden Sonntag über diesen Abschnitt aus dem Römerbrief predigen solle, entschied sich aber dagegen. Damit würde er den vorhandenen Konflikt wohl eher verstärken, und das wollte er vermeiden. Dann kam ihm eine Idee: Mit der Einladung zur nächsten Presbyteriumssitzung wollte er die erste Invokavit-Predigt Luthers verschicken. Luther ging darin auf die Abschaffung der Messe ein, die die Wittenberger während einer längeren Abwesenheit Luthers durchgesetzt hatten. Luther, ein klarer Gegner der Messe und erklärter Feind des Messopfers, erwies sich darin als seelsorgerlicher Anwalt derer, denen diese Gottesdienstform lieb war. Das Presbyterium kannte solche dezenten Hinweise von seinem Pastor, darum würden sie den Text wohl verstehen.

Der Gedanke gefiel ihm, und beschwingt schritt er heimwärts. Seine Frau empfing ihn mit zwei Kinokarten für den Abend; sie hatten sich vorgenommen, wenigstens einmal in der Woche sich etwas Schönes zu gönnen. „Freiheit von den Zwängen,“ hatte der Pastor das genannt, in Erinnerung an ein Buch, über das er als Student einmal eine Seminararbeit geschrieben hatte. Von wem es war und was darin stand, wußte er nicht mehr, aber der Titel war ihm in der Kur wieder eingefallen. Von dieser Freiheit wollten er und seine Frau nun Gebrauch machen, und sei es mit Kinobesuchen. Amen

Gebet : Guter Gott, oft leiden wir unter einem zwingenden Muß, das uns treibt und nicht zur Ruhe, nicht zu uns selbst, nicht zu dir kommen läßt und das uns kaputt macht. Manchmal sehen wir nicht, dass wir selbst uns zwingen und unter Druck setzen, weil wir Freisein schwer aushalten. Oder weil wir uns wichtiger nehmen als wir sind, uns für unentbehrlich halten und gern den Ruhm genießen, uns für etwas oder jemanden aufzuopfern. Wir bitten dich um Mut, uns von solchen Zwängen zu befreien und auch uns selbst Gutes zu tun.

Und manchmal, guter Gott, setzen wir mit Eifer durch, was uns richtig erscheint. In unserem Eifer vergessen wir dann bisweilen jene Menschen, die anders denken, anders empfinden als wir. Da kann es passieren, dass wir diese Menschen kränken und verletzen, und anstatt sie für das Richtige zu gewinnen, bringen wir sie auf Abstand. Wo wir das getan haben, bitten wir diese Menschen und dich um Vergebung. Schenke du uns Geduld mit Menschen, die aus unserer Sicht schwächer als wir selbst sind, dass wir ihnen Gutes tun.

Denn, guter Gott, als Menschen sind wir alle von Tod und Sünde bedroht. Du aber hast uns erlöst, und dafür können wir dir mit unserem Leben danken.

Gesänge : Wenn meine Sünd mich kränken, EG 82; Holz auf Jesu Schulter, EG 97; Das ist mir lieb, EG 292; Hilf, Herr meines Lebens, EG 419

Paul Kluge, Pastor i. R.
Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de

 


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