Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 29. Februar 2004
Predigt zu Luthers 1. Invokavit-Predigt, verfaßt von Andreas Pawlas

(zum Überblick)


Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen. (1. Kor. 6, 12) (1)

Liebe Gemeinde!

In der evangelischen Christenheit hat der Sonntag Invokavit und die Predigtarbeit an diesem Sonntag einen besondern Klang. Warum? Weil es doch am Sonntag Invokavit war, diesem ersten Sonntag der Passionszeit, dass es unser Vater im Glauben, Martin Luther, angesichts der Unruhen in Wittenberg nicht mehr auf der Wartburg aushielt und er nach Wittenberg zurückkehren musste.

Und was tat er? Nein, es war nicht so wie in dem schönen Lutherfilm, dass er mit eiserner Faust dazwischen fuhr, sondern er - predigte . Er predigte an der Stadtkirche zu Wittenberg. Und das an jedem Tag, eine ganze Woche lang. Und tatsächlich, danach hatte man verstanden.

Ja, aber was denn? Und vor allem, ist das, was man damals verstanden hatte, etwas, das sich lohnt, auch heute , am heutigen ersten Sonntag der Passionszeit zu verstehen? Aber vielleicht ist es hilfreich, zunächst einmal das abzugrenzen und auszuschließen, was sich nicht lohnt. Und bestimmt lohnt es sich heute und hier im evangelischen Norddeutschland nicht , sich sehr weit darein zu vertiefen, ob man nun freitags oder überhaupt in der Fastenzeit Fleisch oder nur Fisch essen sollte. Denn diese Fragestellung ist hier im evangelischen Norddeutschland so gut wie beseitigt. Damals allerdings musste Luther dazu massiv Stellung beziehen, denn zu seiner Zeit war das streng kirchlich und staatlich geboten, und die Nichtbefolgung wurde nicht nur kirchlich und staatlich massiv mit empfindlichen Strafen verfolgt, sondern belastete auch die Seelen der damaligen Zeitgenossen schwer.

Wenn nun diese Zeiten auch im evangelischen Norddeutschland definitiv vorbei sind, so spiegelt sich in dieser ganzen Problematik bei Luther wie bei Paulus im Kern die übergeordnete Frage, wie Christen sich in Bezug auf weltliche Ordnungen bzw. kirchliche Ordnungen zu verhalten haben. Und hier ist beiden auch für die Gegenwart nur zuzustimmen, dass der Glaube an Jesus Christus im Prinzip von allen weltlichen Ordnungen frei macht. Ja, es stimmt: als Christ darf ich mir gewiss sein, dass ich im Grunde bereits in Gottes ewige Welt gehöre und nicht mehr in diese vergängliche Welt.

Aber nun führt hier Luther genauso wie Paulus gute Gründe an, sich dennoch an gewisse Ordnungen und Regeln zu halten, denn wenn mir auch alles erlaubt ist, so dient doch nicht alles zum Guten - was durchaus im Gegensatz steht zu unserer heutigen Zeit, wo allein dieses „ Alles ist mir erlaubt “ zum Lebensgefühl der gegenwärtigen Epoche zu gehören scheint.

Übrigens, für den heutigen ersten Sonntag der Passionszeit hieße völlige Freiheit und Beliebigkeit, dass es dann auch jedem frei stünde, mit der Vorbereitungszeit auf Ostern zu beginnen oder auch nicht , oder auch zu Ostern Weihnachten und zu Weihnachten Ostern zu feiern, oder auch alle Tage des Jahres frei und gleich zu begehen. Und genauso stünde dann - wenn so alles frei und alles beliebig ist -, auch zur Diskussion, wozu es dann überhaupt noch sonntäglichen Gottesdienst , wozu es noch Abendmahl , wozu es noch Taufe geben sollte.

Natürlich ist dabei nüchtern die Frage einzuwerfen, ob wir als Christenmenschen - selbst wenn wir im Grunde bereits in Gottes ewige Welt gehören und nicht mehr in diese vergängliche Welt - wirklich so gebaut sind, um völlig strukturlos leben zu können. Aber hochfliegende Debatten solcher Art führt hier Luther nicht, sondern er sieht Grenzen der Freiheit eines Christenmenschen vor allem durch die Nächstenliebe gegeben.

Aber genau aus dem Grund der Nächstenliebe müsste man im Vergleich zu Luthers Zeiten in der Gegenwart zu ganz eigenen Folgerungen kommen. Denn wenn es heute durch die vielfachen Auflösungen aller traditionellen Bräuche wenig Orientierung zur Strukturierung von Zeit und Lebenszeit gibt, wäre es z.B. erst einmal aus Liebe zum orientierungslosen Nächsten wichtig, zu erinnern, welchen Sinn denn die damaligen kirchlichen Gebote hatten, in der Passionszeit zu fasten und sich vieler Genüsse zu enthalten. Und sinnvoll wäre es doch schon, zur Vorbereitung auf das große Osterfest Energien und Mühen einzufordern . Denn wir kennen das doch, dass man sich sorgfältig vorbereiten muss, wenn ein Fest schön werden soll. Und dementsprechend ist es doch unseren Mitbürgern selbstverständlich, viel Zeit, Energie und Mühe etwa allein zur Vorbreitung von z.B. Sportfesten aufbringen. Darum müsste es doch für jeden einsehbar sein, dass zur Vorbereitung auf das Osterfest entsprechend Zeit, Energie und Mühe gehört.

So zu argumentieren ist bestimmt nicht schlecht, allerdings recht weltlich . Jedoch finden sich hier auch gute geistliche Gründe: Denn es kann doch selbst für einen Christen, der eigentlich gut genug begriffen hat, wie ihm Christus Erlösung und Befreiung geschenkt hat, trotzdem sinnvoll sein, dieses Erlösungswerk immer und immer wieder zu bedenken, und zwar mit Leib und Seele ! Also, nicht nur durch immer neues Nachsinnen und Nachdenken über dieses ungeheuerliche Geschehen, sondern auch durch ein Mithineinnehmen des Leibes , und das heißt ja durch Fasten im Sinne von Preisgeben können, von Loslassen können zur Ehre Gottes. Wir wissen, dass viele Christenmenschen heute eine solche „ leibhaftige “ Erinnerung einfach brauchen. Deshalb knüpft man ja in so manchen Kirchengemeinden bewusst an mittelalterliche Traditionen an, indem man versucht, sich an die alten Fastengebote oder ähnliche Lebensregeln zu halten. Dass die Aktion „ Sieben Wochen ohne “ einen solchen Erfolg hat, zeigt, wie viele Menschen sich nur so die Passionszeit vorstellen können.

Natürlich hätte hier einerseits derjenige recht, der sagt: „Ich als Christ bin so frei, dass ich mich nicht derartig auf das Osterfest vorbereiten muss.“ Andererseits fürchte ich, dass er sich durch mangelnde Vorbereitung um wichtige Möglichkeiten bringen würde, das Osterfest richtig zu fühlen . Berichte von Teilnehmern der Aktion „Sieben Wochen ohne“, die dann auch tatsächlich einmal sieben Woche ohne das tägliche Glas Wein, ohne den täglichen Fleischgenuss, ohne den abendlichen Fernsehkrimi oder ohne die tägliche Praline ausgekommen sind, zeigen, wie ganz neu und schön dann das große Fest begangen werden kann. Es gibt also wirklich in Hinblick auf den Nächsten und sogar auch auf mich selbst, gute weltliche und geistliche Gründe, nicht alles frei und beliebig zu halten.

Übrigens, was manche Teilnehmer der Aktion „Sieben Wochen ohne“ angeht, so berichten sie auch noch etwas anderes : Sie berichten davon, wenn man diese sieben Wochen erfolgreich und stolz absolviert, wie sehr man sich denen überlegen fühlt, die nicht die Willenskraft aufbringen, diese sieben Wochen Verzicht zu üben. „Diese Waschlappen !“ „Diese willenlosen Laumänner !“ so etwas kreist dann vielen im Kopf, die dann auf die anderen herabsehen.

Aber halt! Genau hier kommt Kritik von Luther an den sogenannten Starken im Glauben, die die sogenannten Schwachen im Glauben nicht in Schutz nehmen. Und wirklich muss ich solche Kritik an mir gelten lassen, obwohl ich eigentlich nur in aller Freiheit bewusst mit Leib und Seele umgehen wollte. Unversehens bin ich da, ohne dass ich es merke, in etwas hineingerutscht, das dann mich und meine Seele tückisch gefangen genommen hat und offenkundig nicht zum Guten dient. Damit stellt mich unser Apostelwort ziemlich bloß . Und wenn ich es zu Ende denke, stellt es mich schonungslos unter das Gericht Gottes.

Aber was soll ich denn jetzt machen. Soll ich jetzt etwa mit aller Ordnung meines Lebens aufhören? Oder soll ich mir so , wie es zunächst vom Apostel her klingt, alle Freiheit nehmen und mir keinerlei Ess- und Trinkregeln mehr geben? Oder falle ich dann in eine Beliebigkeit, die niemals so vom Apostel gemeint war? Nein, um Grenzen der Freiheit abzustecken, muss es doch möglich sein zu prüfen, was dem Guten dient und ob mich etwas gefangen nehmen will. Außerdem kann es doch auch nicht so schwer sein, an meinem Nächsten zu merken, wenn ich meine Freiheit missbrauche. Er wird doch schon schreien , wenn ich ihm auf die Füße trete. Und dann merke ich sofort: hier gibt es Probleme.

Allerdings, wenn ich nur Hässliches über ihn denke, wenn ich meine Seele also durch geheime Verachtung oder gar Hass gefangen nehmen lasse, dann merkt er das doch nicht und ich auch nicht – oder? Hier keine Täuschung! Denn ich glaube dagegen schon , dass ein Mensch verspürt, ob ich ihn verachte oder ihn schätze. Wie leicht verraten wir uns durch unsere Gesichtszüge oder durch unsere ganze Körpersprache. Vor allem aber merkt unser Gott , wenn wir unseren Nächsten verachten und damit auch seinen Schöpfer, Gott selbst . Und das dient damit garantiert nicht dem Guten.

Und außerdem: wenn ich rücksichtslos zu meinen Nächsten bin, lebe ich bestimmt nicht aus der Gewissheit, bereits in Gottes ewige Welt zu gehören. Denn zum Reich Gottes gehört nicht nur Wahrhaftigkeit und Freude, sondern auch Barmherzigkeit und Liebe . Es ist ja gerade Gottes Barmherzigkeit und Liebe , durch die auch ich zu Gott gehören darf und durch die ich frei geworden bin. Und genau durch Gottes Barmherzigkeit und Liebe ist mir alles erlaubt. Wie sollte ich darum, wenn in mir nicht Barmherzigkeit und Liebe ist, wirklich frei sein?

Oder sollte ich etwa allein daran merken können, wie mich Barmherzigkeit und Liebe bestimmt, dass ich frei geworden bin? Vielleicht merke ich dann eher mit Erschrecken, wie begrenzt mein Glaube ist – und wie begrenzt darum meine Freiheit. Vielleicht versuche ich dann mit Macht , mir alle Güte und Nächstenliebe einzureden – um dann ehrlicherweise zu entdecken, dass das mit meinen eigenen Kräften nicht glaubwürdig gelingen will.

Und dann geht mir vielleicht auf, wie wichtig es ist, mit meinem kleinen Glauben und meinen großen Zweifeln immer wieder aufs Neue auf den Weg Jesu zu schauen, der auf seinem Weg an das Kreuz auf alle weltliche Freiheiten verzichtete, um Freiheit von Gott her zu gewinnen. Und dann geht mir vielleicht weiter auf, dass ich ihn nur bitten kann, mir in meiner Schwachheit barmherzig zu sein, und mir genügend Barmherzigkeit und Liebe für meinen Nächsten zu schenken.

Aber genau, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass Gott mir diese Bitten erfüllt, ja, bereits erfüllt hat , dann werde ich frei . So frei, dass ich darüber froh und dankbar sein kann, und das von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Pastor Dr. Andreas Pawlas
Ev.-luth. Kirchengemeinde Barmstedt
Erlenweg 2
25365 Kl. Offenseth-Sparrieshoop
Andreas.Pawlas@t-online.de


(1) Dieser Text ist der Predigt vorangestellt, da vermutlich auch Luther seiner Predigt ein Bibelwort vorangestellt haben dürfte. Vgl. die Anmerkungen Alands zu Martin Luther: Acht Sermone gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit, S. 56. Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther, S. 2515 (vgl. Luther-W Bd. 4, S. 345) (c) Vandenhoeck und Ruprecht, Berlin 2002

 

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