Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Palmsonntag, 4. April 2004
Predigt zu Luthers 6. Invokavit-Predigt, verfaßt von Ulrich Braun

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Sir Peter - in memoriam

Indem die Zeilen über Martin Luthers sechste Predigt aus der Invokavit-Reihe entstehen, ist Peter Ustinov gestorben. Mit der Rolle Kaiser Neros in dem Film „Quo Vadis“ hatte der Engländer mit russischen und deutschen Vorfahren Weltruhm erlangt. Im vergangenen Jahr kehrte er mit der letzten Glanzrolle seines Lebens augenzwinkernd zu den Quellen dieses Weltruhms zurück. Er hat ein weiteres Mal geholfen, Rom in Brand zu stecken. Dieses Mal nicht im Wahnsinn des perfiden Nero, sondern als altersweiser Kurfürst Friedrich in dem Film „Luther“, in dem er ebenso klug wie beherzt seine schützende Hand über den Reformator hält.

Martin Luther und Friedrich der Weise haben sich vermutlich nie persönlich getroffen. Vielleicht verbot politische Klugheit ein öffentliches Treffen, vielleicht hat sich einfach nie die Gelegenheit dazu ergeben. Der Film aber erfindet solch ein Treffen, in das Sir Peter mit seinem genialen Spiel mehr Wahrheit legt, als Geschichtsschreibung sie je zu überliefern vermag.

Spät abends, Friedrich ist allein in einem beinahe dunklen Zimmer, tritt Martin Luther an dessen Schreibtisch. Er kommt ganz ohne Ankündigung, wird von niemandem eingelassen, muss nicht warten. Er tritt einfach aus der Dunkelheit heraus vor seinen Landesherrn – was als Zeichen dafür genügen soll, dass wir es hier mit einem Augenblick außerhalb der messbaren Zeit und also außerhalb verbürgter Geschichtstatsachen zu tun zu haben.

Die Begrüßung des Kurfürsten ist vielsagend sparsam. Die Begegnung sei ja längst überfällig gewesen, lässt Sir Peter seinen Luther wissen. Und Luther bringt als Geschenk seine deutsche Übersetzung der Bibel von der Wartburg mit.

Mit dem Hinweis, sie würden ihm „sein Mönchlein“ dort nur umbringen, hatte der Kurfürst ein Jahr zuvor dem Theologieprofessor von der Reise zum Wormser Reichstag abgeraten. Dann hatte er ihm, auf eigenes Drängen, freies Geleit erwirkt. Nachdem Luther vor dem Kaiser und den päpstlichen Gesandten nicht widerrufen hatte und nun – weil in Acht und Bann – in ständiger Gefahr für Leib und Leben schwebte, ließ ihn Friedrich kurzerhand entführen.

Auf der Rückreise von Worms nach Wittenberg lässt er Luther in der Nähe Eisenachs auflauern. Der Überfall dient seinem eigenem Schutz. Er wird auf die Wartburg gebracht, wo er sich als Junker Jörg sogleich an die Übersetzung der Bibel ins Deutsche macht. In gewisser Weise verdanken wir also dem weisen Landesfürsten die Bibelübersetzung; denn wir dürfen wohl, von der Gefahr für Leib und Leben einmal ganz abgesehen, annehmen, dass die Tagesgeschäfte dem Luther kaum je den Freiraum gewährt hätten, wie es der Zwangsaufenthalt auf der Wartburg zweifellos tat.

Diese Bibelübersetzung also überbringt Luther bei der nächtlichen Begegnung. Und soviel ist ja dann an der Szene doch historisch, dass die deutsche Bibel tatsächlich dem Kurfürsten zugeeignet ist.

Sir Peter und sein Luther tauschen ein paar Sätze aus – Dinge, über die man an Orten außerhalb der Zeit so plaudert. Ob er denn, fragt Sir Peter dann, seinen Anflug von Ungeduld mit einem Lächeln entschuldigend, ob er also sein Geschenk nun haben könne. Luther reicht ihm die Bibel, und Peter Ustinov beginnt darin zu lesen.

Immer hat Peter Ustinov in seinen Rollen Figuren zum Leben erweckt, ob nun als Nero oder als belgischer Detektiv Hercule Poirot aus der Feder von Agatha Christie. Nie aber hat er eine Figur derart mit der Gegenwart und der eigenen Person verschmelzen lassen, wie er es mit Friedrich dem Weisen tat. Indem er die Bibel aufschlägt, lässt er Altersweisheit sich mit kindlicher Neugierde und Ungeduld mischen. Und er zelebriert, indem er den Buchdeckel aufschlägt, den Beginn einer neuen Epoche. Die Menschen wollen selber lesen, wollen selber wissen und verstehen, wollen selber in die Hand nehmen, was ihr Leben bestimmt.

Die Invokavit-Predigten Luthers vom März 1522 sind kein schlechtes Exempel, um auch dem Kurfürsten und seinem genialen Darsteller ein Denkmal zu setzen. Kaum je ist Luther seinem Fürsten so nah gewesen wie in dieser Phase. Der Kurfürst hatte ihm den Weg nach Worms geebnet – bekanntlich trotz eigener allergrößter Bedenken. Auf dem Rückweg hatte er ihn zum eigenen Schutz aus dem Verkehr gezogen. Während der Wartburgzeit überschlugen sich in Wittenberg die Ereignisse.

Im November und Dezember 1521 hatte Karlstadt, zunächst Luthers Lehrer und bis hierher sein Weggefährte, die Messe abgeschafft, hatte in Straßenkleidung Gottesdienst gehalten und gepredigt und hatte das Abendmahl in beiderlei Gestalt ausgeteilt. War das auch durchaus in Luthers Sinn, beschlich den bald erstes Unwohlsein. Auch die Nachrichten vom Exodus der Mönche aus den Klöstern und davon, dass Priester und Mönche in großer Zahl heirateten, hörte Luther mit zunehmend gemischten Gefühlen.

Im Frühjahr erreichten die Ereignisse in Wittenberg tumultartige Ausmaße. Dort, wo noch Messen gefeiert wurden, traten Studenten und militante Anhänger der Reformation gewissermaßen als Rollkommandos auf. Messen wurden gestört, Priester und Gläubige misshandelt, Bilder verbrannt. Solche Zustände üben bekanntermaßen eine gewisse Anziehungskraft auf den Mob aus. Schlimmer noch: sie bringen den Mob allererst hervor.

Friedrich der Weise sieht sich nun genötigt, ein Ultimatum zu setzen. Wenn die tumulthaften Ausbrüche nicht umgehend ein Ende fänden, würde er ihnen mit Gewalt ein Ende setzen. Das ist für Luther das Signal, seinen Aufenthalt auf der Wartburg abzubrechen. Zwar setzt er sich damit wiederum über einen Rat Friedrichs hinweg. Zugleich ist er aber seinem Fürsten so nah wie kaum je zuvor. Wie Friedrich spürt auch Luther, dass es mit der Reformation längst um mehr geht, als um Messordnungen. Ob und wie die Wittenberger Messen feiern, ist gewiss wichtig. Wie sie aber in all den Veränderungen miteinander umgehen, und ob dabei den Weg der Gewalt einschlagen, entscheidet über die Zukunft der Reformation und über die politische Zukunft in Europa. Deshalb müssen, so schwer es manchmal fallen mag, nun Klugheit und Umsicht walten, nicht kindische Rechthaberei.

Die Reformen brauchen ein menschenfreundliches Tempo. Es soll ja nicht einfach die Welt auf den Kopf, sondern sie soll vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Luther hätte sich diese Formulierung Ernst Blochs wohl gefallen lassen. Und so eilt er nach Wittenberg, um die Gewalt zu beenden. Er tut es mit dem Mittel, dass ihm zu Gebote steht: mit der Macht des Wortes.

Am Sonntag Invokavit beginnt er. Von da an predigt er eine Woche lang jeden Tag in der Stadtkirche zu Wittenberg. Welch eine Anstrengung für sich und für die Zuhörer. Aber Luther ist es sich, der Sache der Reformation und nicht zuletzt seinem Landesfürsten schuldig. Wenn die Welt vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden soll, dann darf die Reformation jetzt nicht ins Stolpern kommen.

Jetzt ist schon Freitag in Wittenberg. Die Woche mit täglichen Predigten neigt sich dem Ende zu. Über alle Grundthemen der Reformation hat Luther gesprochen. Über das, was unbedingt wichtig und was nebensächlich ist, über den Glauben und die Nächstenliebe, die Nachsicht, die Menschenkinder miteinander üben sollen – und immer wieder und als Grundton über die Freiheit.

Am Donnerstag hat Martin Luther über das Abendmahl zu sprechen begonnen. Jetzt, am Freitag, fährt er damit fort. Der Anlass des Streites ist für uns schon in einige Ferne gerückt. Karlstadt hatte begonnen, das Abendmahl in beiderlei Gestalt, also Brot und Wein auszuteilen. Eine Wandlung fand nicht mehr statt. Die Gottesdienstbesucher sollten den Kelch, vor allem aber das Brot selbst in die Hand nehmen. Das war für viele ungeheuerlich. Das Heiligste hatte bislang nur der Priester berühren dürfen. Dem Gläubigen wurde die Oblate üblicherweise direkt in den Mund gelegt.

Gegen die neuen Abendmahlsbräuche Karlstadts hatte Luther an sich nichts einzuwenden. Sehr wohl aber gegen die Zwangsmaßnahmen, die Karlstadt und die seinen gegen die anzuwenden bereit waren, die den neuen Sitten so schnell nicht folgen mochten. Vor allem aber stößt er sich an deren Gesetzlichkeit und Hartherzigkeit.

Nicht nur, dass es den Rollkommandos der Reformation an christlicher Geduld und Nächstenliebe gebricht. Nicht nur, dass sie es an Zutrauen zur Macht des Wortes fehlen lassen, und glauben, Gewalt anwenden zu dürfen. Vor allem verdunkeln sie mit ihrem Vorgehen ganz und gar, worum es in der geistlichen Religion Jesu geht.

Indem ein bestimmtes äußeres Verfahren beim Abendmahl für verbindlich erklärt und seine Einhaltung notfalls mit Zwangsmitteln durchgesetzt wird, öffnen sich damit Tür und Tor für jedwedes Missverständnis. Es wird scheinen, als hingen Rechtmäßigkeit und Wirkung des Abendmahls von der peinlichen Beachtung der neuen Richtlinien ab. a) es darf möglichst kein Priester mehr sein, der austeilt, b) er muss, um dies zu unterstreichen, Straßenkleidung tragen, c) die Gläubigen müssen, und zwar unbedingt, das Brot in beide Hände nehmen.

Das ist eine zu leichte Sache, meint Luther, eine strenge Zeremonialordnung gegen eine andere zu vertauschen. Glaubt ihr denn im Ernst, man könnte auf diese Weise den rechten Glauben messen? Meint ihr wirklich, ihr werdet der Freiheit der Kinder Gottes aufhelfen, indem ihr sie in neue Zwänge steckt?

Wenn es daran hinge, das Brot wirklich anzufassen und wirklich aufzuessen, hatte Martin Luther am Donnerstag gewettert, dann könnte jede Sau ein guter Christ sein. Einen hinreichend großen Rüssel hätte sie dazu.

Am Freitag zügelt Luther seine Bildsprache. Er will seine Hörer ja nicht als Säue beschimpfen. Jetzt reicht ihm die Maus für sein Bild, um zu sagen, dass es am Essen allein nicht hängen kann. Genauso wenig daran, aus dem Anfassen ein Gesetz zu machen. Denn je mehr ihr euch in äußeren Gebärden verliert, desto weniger werdet ihr verstehen, was es mit dem Reich Gottes und der Freiheit seiner Kinder ist.

Ihr müsst die Zeremonialordnungen begrenzen, damit ihr dem Glauben Raum verschafft, predigt Luther seinen Hörerinnen und Hörern. Soweit will er ihnen ja Recht geben in ihrem Bemühen. Aber, fährt er fort, hütet euch davor, neue Zeremonialordnungen zu errichten. Sie werden doch auch dereinst von der Zeit zerfressen wie Kleider von den Motten. In der Zwischenzeit aber verdunkeln sie das Licht, in dem die Kinder Gottes leben sollen.

Für dieses Licht der Liebe und der Freiheit kann es keine festen Bilder geben, eben auch keine zeremonialen Ordnungen. Statt solcher Ordnungen bedarf es vielmehr der Spielräume für die Nächstenliebe. Sie ist nämlich das Kennzeichen der Freiheit der Gotteskinder.

Peter Ustinov hat im Interview erzählt, er sei nicht auf eine sehr konfessionelle Weise religiös – was ja auch unmittelbar einleuchtet; denn Konfession heißt immer auch, sich an äußeren Gebärden erkennbar zu machen. Das war Sir Peters Sache nicht. Und das ist es auch, wovor Martin Luther in seinen Invokavit-Predigten so inständig warnt: wirklich evangelisch sein darf nicht heißen, sich auf Teufel-komm-raus von allem anderen zu unterscheiden – der Einfachheit halber mit Hilfe äußerer Gebärden.

Das macht es nicht leicht, nun wirklich zu sagen, was am Ende evangelisch sein soll. Selbst Martin Luther hat seine Predigtreihe zu dem Thema auf eine ganze Woche angelegt. Er hat mit Menschen und mit Engelszungen seinen Freunden in die Gewissen geredet. Ja, es sei wahr, hat er ihnen gesagt: die Bilder können uns den Blick verstellen für die Freiheit der Gotteskinder. Ja, es sei gut, hat er ihnen gesagt: wir sollen als Kinder Gottes das Mahl unseres Herrn mit allen Sinnen schmecken. Ja, wir sollen selber in die Hand nehmen, lesen und verstehen, was es mit dem Wort Gottes an uns ist. Aber tausendmal nein: wir dürfen nicht dem falschen Wahn verfallen, wir könnten den wahren Glauben messen; denn was wir vermessen können, sind doch immer nur die äußeren Gebärden. Und wir dürfen einander um des Himmels willen nicht die Geschwisterschaft aufkündigen; denn in nichts anderem vermag die Freiheit der Gotteskinder sichtbar zu werden als in der Liebe zum Nächsten.

Ganz ohne Bilder für die Freiheit müssen wir also nicht bleiben. Eines hat Sir Peter geschaffen in jener nächtlichen Szene am Rande der Zeit. Er ist schon alt und sichtbar eingeschränkt in seinen Bewegungen. Aber er braucht auch keine äußeren Gebärden. Er nimmt einfach die Bibel in die Hand, will selber lesen und verstehen, was es mit der Macht des Wortes ist. Er spielt – ganz ohne äußere Gebärden – einfach nur mit einem Lächeln, das er kurz um seinen Mund sich kräuseln lässt, und das mühelos die Zeiten überspringt. Ja, ich glaube, das könnte für mich so ein Bild für die Freiheit der Kinder Gottes sein: die alterskluge Kinderfreude von Sir Peter, dem Weisen.

Amen

Ulrich Braun
Pastor an der Kloster- und Wallfahrtskirche in Göttingen-Nikolausberg
em@il: ulrich.braun@nikolausberg.de

 


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