Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Advent, 5. Dezember 2004
Predigt über
Lukas 21, 25-36, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Eine Woge von Untergangserfahrungen und Untergangsphantasien geht durch die biblischen Erzählungen, eine Woge, der auf der anderen Seite wiederholte Verheißungen der Erlösung gegenüberstehen, Versprechungen, dass Gott alle Tage mit den Auserwählten sein wird, Versprechungen von Gottes Segen und einem neuen Leben. Der eine Albtraum nach dem anderen. Aber auch die eine Hoffnung nach der anderen. Es beginnt mit dem Bericht von der Sintflut, in der die ganze Welt in Wasser ertrinkt, das von unten, von oben und von allen Seiten kommt. Die ganze Menschheit und die ganze Tierwelt gehen zugrunde. Nur Noah und seine Familie und ein Paar von jeder Tierart überleben – weil Gott es so will. Die biblischen Erzähler geben der Bosheit der Menschen die Schuld an der Katastrophe, und sie lassen Gott den einzigen Garant dafür sein, dass das Menschenleben dennoch weitergehen kann. – Heute hören wir im Lukasevangelium wieder von einer Woge von Untergangsphantasien, denen eine Hoffnung auf ein neues und anderes Leben gegen­übersteht. Diesmal aber als das endgültige Kommen des Reiches Gottes und des Menschensohnes in der Wolke. Zuerst wird die Erde von Kriegen, Seuchen, Hungersnot, Erdbeben und kosmischen Störungen verwüstet werden. Die ganze Welt mit Jerusalem als Mittelpunkt wird nach und nach zusammenbrechen, und eines Tages wird das ganze Universum zittern und beben und das, was wir als Himmel und Erde kennen, wird untergehen, damit etwas Neues an die Stelle treten kann. Christus wird kommen, um das Reich Gottes zu errichten anstelle der Weltordnung, die man sonst kennt. – Das alles klingt wie eine grauenvolle Mischung aus Untergangserfahrungen von Kriegen und Naturkatastrophen und Untergangsphantasien, in denen man sich vorstellt, dass nicht nur die Erde und die Stadt und das eigene Leben untergehen, sondern dass das ganze Universum in seinen Grundfesten erschüttert wird und dass danach alles anders geworden ist, ja dass der gesamte Kosmos wie neugeboren ist. Ein neues kosmisches Reich ist entstanden mit Christus und seiner Barmherzigkeit als König und Richter.

Alle diese gewaltigen Ereignisse haben unausweichlich ein Echo in unseren eigenen Erfahrungen und Angstvorstellungen. Auch wir leben in einer Zeit, in der Untergangsvisionen ein etwas zu realistisches Gepräge angenommen haben. Wir gehen umher in einem merkwürdigen schlafwandlerischen Verhältnis zu dem, was uns die Männer der Macht in der Welt vorsetzen. Tagtäglich hören wir vom Krieg im Irak, aber wir können es uns nicht richtig vorstellen, denn wir können nicht wissen, was das bedeutet, und wir sind außerstande, die Folgen zu überschauen. Wir hören von Waffen, die unsere Welt und die ganze Erde zerstören können, aber wir können es nicht im Ernst glauben. Es wäre fast zu spektakulär. Wir hören von Hungerkatastrophen und von Aids und Malaria, die jetzt schon Millionen von Menschen umbringen. Wir hören von Erdbeben, Orkanen und Überschwemmungen. Aber kosmische Beben sind denn doch noch außerhalb unserer Reichweite. Wir sind hilflos und ohnmächtig angesichst selbstverschuldeter und nicht selbstverschuldeter Plagen – wie damals und zu allen Zeiten – und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Die Menschen sind zerstörerisch und selbstzerstörerisch – wie zu allen Zeiten. Wo ist da die Welle der Hoffnung, die der Welle von Untergang und Tod entgegensteht? In den biblischen Erzählungen ist es immer Gott, der will, dass der Mensch trotz allem erlöst werde. Obwohl er sich selbst und alle anderen und alles zerstört hat. In den biblischen Erzählungen gibt es einen Glauben an die Liebe Gottes, die alles überlebt. Und für den Glauben Jesu eine göttliche Liebe, die schließlich alles untergehen lässt, damit etwas Anderes und Besseres entstehen und leben kann. – Dieser Gedanke von der Notwendigkeit des Untergangs als Bedingung neuen Lebens ist genauso alt wie der Bericht von der Sintflut, aber wozu können wir ihn in moderner Zeit gebrauchen, in der wir wahrlich wissen, dass wir selbst imstande sind, den gewissen Untergang der Welt mit unseren atomaren Waffen herbeizuführen? Wo ist die HOFFNUNG auf ein neues Leben, wenn wir doch sehen, wie unsere Albträume der Wirklichkeit immer ähnlicher werden?

Hier in der Adventszeit geht es jeden Sonntag um „ihn, der kommt“, „ihn, der kommt im Namen des Herrn“. Um Christus als den König, der auf einem Esel nach Jerusalem und in unsere Herzen geritten kommt. Um Christus, der auf den Wolken des Himmels als der Richter der Welt mit dem Reich Gottes kommt. Um den Messias als den Erlöser der Welt, der mit der Frohbotschaft zu den Armen kommt. Und schließlich in der Heiligen Nacht um das Kind in Bethlehem, das kommt in Erfüllung uralter Verheißungen von der Errettung der Welt vor Tod und Gericht. Das alles sind Bilder der Hoffnung, die die Antwort auf alle Untergangsahnungen sind. Bilder, die heute genauso lebendig sind wie damals, als sie erzählt und niedergeschrieben wurden, um nie vergessen zu werden. Bilder der Hoffnung, dass das Reich Gottes – das andere Leben, das Leben ohne Vernichtung und Selbstvernichtung – Wirklichkeit geworden ist und es einst endgültig sein wird. Aber was sollen wir mit diesen Bildern einer unsichtbaren Wirklichkeit anfangen, wenn die sichtbare Wirklichkeit mehr und mehr einem Albtraum gleicht? – Wir sollen denken, dass es gut ist, dass wir sie haben. Sie sind mehr als unsere Albträume, sie sind göttliche Offenbarungen, und dann ist alles nicht mehr Finsternis und Furcht und Angst. Es sind Gegenbilder zu unseren düsteren und resignierenden Gedanken.

Denn was ist die Alternative zu dem Gefühl von Schuld und Gericht und Untergang? Wenn wir hin und wieder fühlen, dass wir unser Leben kaputtgemacht und dass andere mitgeholfen haben, es kaputtzumachen, auf dieselbe Art und Weise wir wir selbst? Was ist die Alternative zu dem Unglück, dass alles verschwindet und dass alles verloren geht und dass das Leben verloren ist, weil es verkehrt gelebt worden ist? Wir versuchen, uns damit zu trösten, dass alles möglich ist, und wir versuchen, uns selbt durch diverse Behandlungen wiederherzustellen, aber was ist die eigentliche Alternative zu einem vertanen Leben? Oder zu einem verfehlten Leben? Wie können wir ein verfehltes Leben hinter uns lassen? Wie werde ich zu einem „neuen Menschen“? Wie wird das Leben neu? Die Bilder der Adventszeit sind verschiedene Bilder desselben Lebens. Des Lebens der Liebe. Des Königs, der ohne Waffen zu uns kommt, ohne Gewalt oder andere Arten von Unterdrückung; und der als der Herr des Universums kommt, als Richter der Barmherzigkeit, der uns in eine andere Welt mit hinüberzieht. Eine Welt von göttlicher und menschlicher Liebe, die der Trost und die Antwort ist auf das Gefühl des Verlustes und Untergangs, das unser verwirrtes Leben prägt. – Wir sangen am Anfang des Gottesdienstes von der Sehnsucht danach, dass Christus wiederkommen und dieser bösen Welt ein Ende machen und das Paradies von neuem öffnen möge. Das ist keine Todessehnsucht. Das ist nicht der Todestrieb, der die Menschen zu wahnwitzigen Handlungen und irrsinnigen Kriegen treibt. Es ist die Sehnsucht nach Gott. Und es ist die Sehnsucht nach seiner Erneuerung. Danach, aus einem Leben befreit zu werden, das sich im Kreise dreht und nicht von der Stelle kommt, weil es nicht weiß, was es tun soll. Weil es nicht vermag, was es gern möchte. Weil es sich nicht selbst helfen kann, sondern der Hilfe von anderswo bedarf. Das Kommen des Menschensohnes in der Wolke mit Kraft und großer Herrlichkeit ist das Bild einer Hilfe, die von anderwo kommt, von der göttlichen Liebe und Weisheit, die du nicht selbst hast, sondern die von Gott zu dir kommt.

Denn was helfen Macht und Herrlichkeit aller Welt, die durch böse unmoralische Mittel dieser Welt gewonnen sind, alle Waffen des Egoismus und der Lüge? Was helfen alle möglichen Behandlungen des einen oder anderen Leidens, WENN dies eine fehlt? „Nur eines ist notwendig“, sagte Jesus. Und er war selbst ein Bild dessen, was dieses Eine ist: die Liebe. Oder wie der Dichter Sven Johansen schreibt:
„Aber nur eines ist notwendig,
Nähe...“

Liebe ist ja Nähe. Dass ein Mensch gegenwärtig ist. Dass er den Anderen nicht sich selbst, seinem Untergang überlässt. Im Gegensatz zu der egoistischen Liebe. Sie ist es doch, die zu allen Arten von Ferne und Isolation führt. Und sie ist es, die in pervertierter Form dazu führt, dass immer irgendwo in der Welt Krieg und immer Unfriede zwischen Menschen herrscht. Sie führt uns in die weltweiten Katastrophen, von denen wir so viele erlebt haben, die Weltkriege und all die unfasslich furchtbaren Waffen, die nur darauf warten, von Menschen gebraucht zu werden, die ihren Zerstörungstrieb nicht zügeln können. Wenn es anders wäre, wenn die Liebe die Sinne der Menschen beherrschte, dann würde sich niemand nach Untergang und Katastrophen sehnen. Aber so ist es nicht. So könnte es sein, und so sollte es sein – aber wir haben nur die Bilder eines solchen Lebens, und wir haben nur die Sehnsüchte und Augenblicke der Durchschlagskraft der Bilder. Im Übrigen haben wir nur den Glauben daran, dass ein solches Leben bei Gott ist. Die selbstlose, alles umfassende Liebe – sie ist bei Gott, und sie gilt uns, die wir egoistisch und engstirnig sind. Aber sie gilt uns – und eben damit müssen wir uns trösten. Dass sie war und ist und kommen wird. Zu uns. Das neue Leben, den neuen Menschen – sie vermögen wir nicht selbst zu schaffen. Und das zeigt die Geschichte mit erschreckender Deutlichkeit – aber wir sind nie verlassen. Gott ist mit uns alle Tage bis an das Ende der Welt und darüber hinaus, das hat er selbst gesagt, und deshalb sind wir doch nicht verloren. Solange wir an diese allumfassende Barmherzigkeit glauben, sind wir trotz allem in Gottes Hand.

Da wird man sagen, das genüge nicht! Damit kann man sich nicht zufrieden geben! Man will eine bessere Welt, und man will nicht, dass die Welt in weltweiten Kriegen und furchtbaren Naturkatastrophen untergeht, denn man liebt das Leben hier auf Erden trotz allem. Nein, man will die Erde von ganzem Herzen und mit seiner ganzen Seele und mit all seiner Kraft lieben. Man will alles tun, damit Erde und Menschen, Tiere und Pflanzen überleben und in Frieden miteinander leben. Was sonst sollte die Liebe zum irdischen Leben besagen? Nein, das kann nicht gegen den Willen Gottes sein. Und wäre es denn so, dann müsste man sich von Gott abwenden und tun, was man selbst für richtig hält. Aber die allumfassende Liebe Gottes will ja, dass wir die Erde lieben und alles, was er geschaffen hat. Das ist ja auch sein Wille. Er sieht nur, dass wir nicht das tun, wovon wir selbst sagen, dass wir es tun wollen. Ja, wir mögen es wohl tun oder es wenigstens versuchen, aber nicht mit hinreichender Treue und Hingabe. Nicht wie Jesus es tat. Deshalb ist der endgültige Trost, dass es einen gibt, der es tut: Gott im Himmel.

Wir können selbst nach Kräften in all unserer Unzulänglichkeit lieben. Aber wir brauchen nicht daran zu verzweifeln, dass es in der großen verwirrten Welt so unfasslich wenig hilft – weil es eine göttliche Macht gibt, die größer ist als wir und die Katastrophen, die wir selbst verursachen. Es gibt eine Ewigkeit, der wir nicht wehtun können, die wir auch mit allem erdenklichen menschlichen Zerstörungsdrang nicht auslöschen können. Und aus dieser Ewigkeit kommt alles Leben. Sie hat uns geschaffen, und sie wird uns aufrichten, und wir können sie nicht daran hindern. Untergang und Tod zum Trotz. Ja, das Evangelium ist nicht behaglich, es ist keine milde und rührende Geschichte. Es ist gewaltig und dramatisch. Aber es ist vor allem göttlicher Trost: dass Gott selbst kommt, obwohl die Menschen selbst sich verirrt und einander in die Irre geführt haben. Er kommt – frei in unsere Herzen reitend, wenn wir selbst es wollen. Und er kommt strahlend auf den Wolken des Himmels, wenn alles hoffnungslose Finsternis zu sein und der gewisse Untergang unsere einzige Zukunft zu sein scheinen. Gott ist nicht fern und hart und gleichgültig. Er kommt als die Liebe, die immer gegenwärtig ist und dem Geliebten nie den Rücken zukehrt. Amen.

Pastorin Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
+45 86 12 47 60
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier

 


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