Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Judika, 13. März 2005
Predigt über Genesis 22, 1-19, verfasst von Wolfgang Vögele
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„Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich.
Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.
Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.
Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und die beiden gingen miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.
Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete.
Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt.
Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht. Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, will ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; und durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba, und Abraham blieb daselbst.“

Liebe Gemeinde,

diese Geschichte von Isaaks Opferung verstört und irritiert und führt an Abgründe heran: Isaak soll seinen Sohn opfern. Die Geschichte einer Versuchung, einer Probe, eines Tests. Gott führt in Versuchung und stellt auf die Probe. Das ist sehr viel ernsthafter und gefährlicher und beunruhigender als die Schokolade in violetter Verpackung, die im Supermarkt als die „zarteste Versuchung seit Eva“ verkauft wird. Abraham ist nicht der einzige, dem in einer biblischen Erzählung eine Versuchung auferlegt wird. In der Bibel werden mehrere Versuchungsgeschichten erzählt: Im Evangelium ist es der Diabolos, der teuflische Durcheinanderbringer, der Jesus von Nazareth auf eine dreifache Probe stellt. Im Hiobbuch ist es der Satan, der von Gott die Erlaubnis erhält, Plagen, Krankheit und Armut über den schuldlosen Hiob zu bringen. Das Ungeheuerliche an der Abrahamsgeschichte ist die Tatsache, dass Gott selbst es ist, der die Probe einleitet und auf den Weg bringt.

Versuchungen haben etwas Unheimliches. Am Anfang einer Predigt über eine Versuchung kann darum nur ein Gebetsruf stehen, dem wir uns im Vaterunser Woche für Woche, Tag für Tag anvertrauen:
Und führe uns nicht in Versuchung!

Dieser Satz überwindet den himmelweiten Unterschied zwischen Gott und Mensch in einer Bitte. Gott erscheint darin als derjenige, auf dessen Güte und Barmherzigkeit und Gnade die Menschen ihr Vertrauen setzen. Die Menschen erscheinen darin als Wesen, die Erfahrungen von Leiden, Krankheit und Tod machen. Die Menschen wissen, dass sie solchen Erfahrungen nicht entkommen können, aber sie bitten Gott als einen, der Macht und Gewalt hat, in das Leben von Menschen barmherzig und gnädig einzugreifen. Der Gebetsruf setzt voraus, dass Gott entsprechend seinen Verheißungen und Zusagen handelt.

Führe uns nicht in Versuchung! Diese Bitte richtet sich an den Gott, von dem die Bibel erzählt, dass er Abraham auf die Probe gestellt hat.

In dieser Predigt will ich das Gespräch mit Abraham suchen. Ich will einen Brief durch den jahrtausendelangen Abstand hindurch formulieren.

Sehr geehrter Urvater, lieber Abraham!

Gestattest Du, dass wir uns aus einer christlichen Gemeinde 2000 Jahre nach Christi Geburt an Dich wenden. Wir lesen regelmäßig in der Bibel Deine Geschichten. Schon den Kindern im Kindergottesdienst bringen wir sie bei. Wir hören Deine Geschichten staunend, mit Ehrfurcht und Dankbart, aber gelegentlich auch mit Furcht und Erschrecken.

Das gilt insbesondere für die Geschichte, als Dich Gott versuchen wollte. Gott forderte Dich auf, Deinen Sohn Isaak auf dem Berg Morija zu opfern. Wir hören diese Geschichte immer mit einer gewissen Abscheu, einem Widerwillen. Für uns unterscheidet sie sich von allen anderen Geschichten, die Du mit Gott erlebst. Obwohl wir wissen, dass die jüdischen Ausleger gesagt haben: Du musst nicht nur eine Probe bestehen, sondern insgesamt zehn. Die anderen Proben übersehen wir heute gerne: die Hungersnot in Kanaan, den Konflikt zwischen Sara und Hagar, den Streit mit Deinem Sohn Israel, die Entführung Saras durch den ägyptischen Pharao.

Aber nun zur Geschichte auf dem Berg Morija. So wie wir Deine Geschichte hören, wissen wir als Leser und Hörer schon zu Anfang mehr, als Du gewusst haben kannst. Uns wird gesagt, dass es sich um eine Versuchung handelt, ein Experiment. Das kann man als eine Beruhigung verstehen: Im Gegensatz zu Dir damals können wir Leser uns von vornherein sicher sein: Zum Schlimmsten wird es nicht kommen. Aber es schwingt in dieser Bemerkung auch ein furchtbarer Verdacht mit: Gott könnte einer sein, der mit den Menschen spielt, seine Spielchen treibt.

Wie siehst Du das, lieber Abraham? Du hast ja die Aufforderung Gottes angenommen und Dich darauf eingelassen. Du hast mitgemacht, was Gott Dir gesagt hat. Beim Hören Deiner Geschichte können wir wie in einem Film sehen, was Du getan hast. Du bist losgegangen und hast Isaak mitgenommen. Du hast mit Deinem Sohn gesprochen. Ihr beide habt den Berg Morija gesehen. Wir sehen, wie Ihr das Brennholz zum Feuer schichtet. Wir sehen Euch, wie Ihr geht und sprecht und handelt. Aber wir können nicht in Euer Inneres hineinsehen. Die Bibel verrät uns das nicht. Wir wüssten gern: Lieber Abraham, was ist in Deinem Inneren vorgegangen, als Du den Berg bestiegen hast? Was hast Du gedacht, als Gott Dich aufgefordert hat, Deinen Sohn zu opfern? Hast Du Gott verflucht? Hast Du Dich selbst verflucht? Sind Dir die Tränen gekommen? Lieber Abraham, wir haben Fragen über Fragen, wenn wir Deine Geschichte heute hören: Hast Du nicht erwogen, Dich der Bitte Gottes zu verweigern? Hast Du gegrübelt, als Du auf den Berg gestiegen bist mit Deinem Sohn? Worüber hast du mit Deinem Sohn gesprochen? Hast Du ihn vielleicht auf das Opfer, auf seine Opferung vorbereitet? Hast Du Dich selbst gefragt: Soll ich tun, was Gott mir gesagt hat? Soll ich wirklich meinen Sohn opfern, also umbringen und töten? Soll ich nicht doch lieber aufbegehren? Soll ich mich weigern? Wenn ich mich weigere, wird Gott mich dann zwingen, ihm meinen Sohn zu überlassen?

Ähnliches würden wir gerne Deinen Sohn Isaak fragen: Hat Dein Sohn an Gott gezweifelt? Hat er sich vielleicht überlegt, ob er vor Dir flüchten sollte? Das wäre vermutlich für ihn ganz leicht gewesen. Und welche Gedanken haben sich die Knechte gemacht, die Dich und Deinen Sohn begleitet haben? Haben Sie sich über das merkwürdige Ziel gewundert, das Du ihnen vorgegeben hast?

Über die Antworten auf all diese Fragen schweigt die Geschichte, die die Bibel über Dich erzählt. Ein jüdischer Ausleger hat dazu später bemerkt: Das Schweigen bedeutet nicht Windstille in Abrahams Herz. Aber, lieber Abraham, welche Stürme haben in Dir getobt!

Auf Deinem Sohn, der Dir so spät geboren wurde, lag die Verheißung: Gott will Dich und Deine Nachkommen zum gesegneten Volk machen. Du musstest denken: Wenn mein Sohn sein Leben verliert, dann ist auch die Verheißung an ihr Ende gekommen. Welchem Gott hast Du mehr geglaubt? Dem Gott, der Dich gesegnet hat? Oder dem Gott, der Dich zum Opfer Isaaks aufforderte? Es fällt uns heute schwer nachzuvollziehen, dass Du Dich nicht hast irremachen lassen. Du hast dem Gott der Verheißung die Treue gehalten. Warum? Das fragen wir bis heute, lieber Abraham, was das war: der Mut der Verzweiflung oder unüberwindlicher Glaube an Gott? Rationales Kalkül, mit dem wir unser Leben so gern konstruieren und planen, kann es nicht gewesen sein. Denn es tritt Dir ein Gott gegenüber, der gleichzeitig Verheißung und Versuchung ist. Du hast Dich, lieber Abraham, gegen den Augenschein, gegen die Vernunft und vielleicht gegen Deine Gefühle, für den Gott der Verheißung entschieden.

Obwohl Du ja ein Wunder erlebt hast. Dein Sohn wurde nicht geopfert. Dieses Phänomen macht uns „Normalgläubige“ ratlos. Spätere Ausleger der Geschichte haben gesagt: Isaak lebt. Das Wunder ist geschehen, weil es geschehen musste. Der Gott der Bibel ist kein Gott, der Menschenopfer verlangt. Die Bibel sagt das wiederholt und entschieden: Menschenopfer werden strikt und unter allen Umständen abgelehnt.

Lieber Abraham, manche von uns heute sagen: Es gibt keinen Gott, weil die Tatsachen gegen ihn sprechen: die Erdbeben und die Tsunamis, Naturkatastrophen, der Tod Unschuldiger, sinnloses Leiden und Morden. Entweder ist ein solcher Gott unendlich grausam – oder es gibt ihn gar nicht. Menschen heute sagen: Wir können uns keinen Gott vorstellen, der solche Katastrophen zulässt.

Und an Deine Geschichte anknüpfend müsste man sagen: Wir können uns auch keinen Gott vorstellen, der Menschen in Versuchungen führt und der Menschen auf Proben stellt.

Gegen unsere Skepsis zeigt uns dagegen Deine Geschichte: Du hast Dich auf einen bestimmten Gott verlassen. Denn Gott begegnet Dir in Deinem Leben in allen Widersprüchen und in allen Doppeldeutigkeiten. Du hast Dich allein auf Gottes Verheißung verlassen. Der Gott der Verheißung war Dir wichtiger als der Gott der Versuchung. Man könnte nun meinen, dass das einfach blinder Gehorsam von Dir war. Aber damit würden wir es uns zu einfach machen. Wir glauben vielmehr: Es ist etwas in Deinem Inneren vorgegangen, auf dem Weg vom Lager zum Berg Morija. Du hast das eingesehen, Du hast Dich bewusst entschieden: für den Gott, der Dir Segen verheißen hat. Diesem Gott hast Du geglaubt und vertraut.

Manche von uns, lieber Abraham, erinnert Deine Geschichte an ein Musikstück des Komponisten Arnold Schönberg. Das Stück heißt: „Ein Überlebender aus Warschau“. Schönberg beschreibt eine Szene aus den deutschen Konzentrationslagern in Polen. Ein Aufseher lässt jüdische Häftlinge zum Appell antreten. Sie müssen abzählen, und sie sollen später in zwei Gruppen geteilt werden. Die einen kommen in die Gaskammer, die anderen müssen weiter Fronarbeit leisten. Die Häftlinge zählen ab: eins, zwei, drei, vier und so weiter. Sie zählten, schreibt Schönberg, „so schnell, dass es schließlich wie das Stampfen wilder Rosse klang…“. Aber dann fingen die todgeweihten jüdischen Häftlinge an, das „Schema Jisrael“ zu singen: „ Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (Dtn 6,4f.) Am gottlosen Ort des Konzentrationslagers, wo sich niemand die Anwesenheit Gottes vorstellen konnte, sangen die todgeweihten Häftlinge vom Gott ihrer Bibel. Und sie sangen gegen allen Augenschein. Sie sangen von einem Gott, der zu allen seinen Verheißungen steht, obwohl sie das anders erfuhren. Sie sangen von ihrem Gott, der auch Dein Gott ist, Abraham, obwohl ihre ganze todgeweihte Wirklichkeit dagegen sprach. Der Gott der biblischen Verheißung war ihnen wichtiger als die tödliche Wirklichkeit.

Lieber Abraham, wenn wir Deinen Glauben von Dir so einfach übernehmen könnten! Dein Vertrauen in Gott, Deine Unbeirrbarkeit und Deine Gewissheit.

Wir leben in unserer friedlichen Gemeindewelt: Kein Gott fordert von uns das Opfer eines Kindes. Wir hören auf Deine Geschichte, lieber Abraham. Wir schöpfen daraus Vertrauen und Zuversicht. Wir blicken mit Trauer, Respekt und Achtung auf die Häftlinge, die lieber vom Gott Israels sangen als sich von ihren Schergen demütigen zu lassen.

Wir beten weiterhin, wie es uns einer Deiner Nachkommen aus Deinem Volk gelehrt hat. Für Jesus von Nazareth war das das entscheidende Gebet: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Lieber Abraham, sei ganz herzlich gegrüßt von Deinen Brüdern und Schwestern, von Deinen Söhnen und Töchtern im 21. Jahrhundert. Amen.

Evangelische Akademie zu Berlin
PD Dr. Wolfgang Vögele
Akademiedirektor
Mail: voegele@eaberlin.de
Web: www.eaberlin.de


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