Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Trinitatis, 22. Mai 2005
Predigt über Jesaja 6, 1-13, verfasst von Friedrich Schleinzer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Berufung des Jesaja

„In dem Jahr als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum hüllte den Tempel“.

Nun geht es um konkrete Menschen, Situationen und genaue Zeit- und Ortsangaben.
Wir können uns nicht in das allgemeine, unverbindliche Unbekannte und Unpersönliche flüchten. Es geht in unserem Tun immer um konkrete Menschen, ihr Schicksal, ihr Leid, aber auch ihre Freuden - sie haben Namen. Ihnen stößt heute, zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort etwas zu. Sie erzählen dann, wann und wie etwas geschehen ist und ihr Leben vielleicht entscheidend verändert hat. (Ich denke an den schweren Unfall eines Bekannten, der nun gelähmt im Rollstuhl sitzt und sein Bewusstsein nur zum Teil wieder erlangt hat. Keine Berufungsgeschichte – eine Unglücksgeschichte). Für Jesaja war seine Berufung 739 v. Chr. im Todesjahr des Königs Usija wichtig. In diese Zeit fällt das erzählte Erlebnis:

Über die Berufungsgeschichte des Jesaja zu reden ist für uns vorerst eine „verworrene Vision“, die im Himmel und zugleich auf Erden stattfindet, und zwar so intensiv, dass der Tempel bzw. die Tempelschwelle bebt.

Wir sind geneigt gleich Zuflucht zu nehmen bei dem überzeugenden Satz von Jesaja: „Hier bin ich, sende mich“ (Vers 8). Wir kennen diesen erhabenen Satz aus kirchlichen Sendungsfeiern und haben ihn vielleicht selbst im festen Glauben feierlich gesprochen.

Wie oft aber haben wir solche oder ähnliche Sätze leichtfertig und wenig überlegt gesagt. Wir haben vielleicht eine feste Zusage in der Gemeinde gegeben, die uns später reut. So ähnlich ergeht es mir, wo ich nach der Zusage zur Predigt bedauere, es getan zu haben. So schwierig gestaltet sich jetzt meine Sendung, diese Worte auszulegen.

Der Zeitpunkt der Berufung des Jesaja war eine epochale Zäsur. Gott, der das Heil der Menschen im Auge hat, musste feststellen, dass Israel sich immer mehr von seinem Gott und seinen Weisungen, die ein Gelingen des Lebens zum Inhalt haben, entfernte. Die prophetischen Warnungen der Zeitgenossen Jesaja (740-700 v. Chr.) - Hoseja (760-722 v. Chr.), Micha (742-687 v. Chr.) und seines Vorgängers Amos (ca. 760 v. Chr.) - fruchteten nicht, obwohl Gott sein Volk mit Liebesbeweisen überschüttet hatte, die u.a. in einer friedlich glücklichen ca. 50-jährigen Regierungszeit des Königs Usijas für jeden erfahrbar war.

Heute wie damals glauben wir oft, wenn es uns gut geht, dass dies unsere eigene Leistung ist und wir vergessen oft, dass wir sie Jemandem zu verdanken haben. Denn unsere eigene Geschichte fängt nicht bei einem Nullpunkt an, sondern wir sind in einen Plan, in eine Geschichte hineingestellt. Es gab Menschen, die uns liebten, die das Fundament dafür legten, dass es uns heute gut geht (denken wir an die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großer persönlicher Entbehrung Wiederaufbau geleistet haben, so dass es bei uns Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit gibt). Viele erkannten ihre eigene Schuld und die eigene Ohnmacht gegenüber einer tödlichen Ideologie. Das Netz des Terrors hatte alle gefangen und der Friede wurde als Befreiung bzw. Erlösung erlebt und die meisten haben Gott dafür gedankt.

Heute, wo wir mehr als früher unser persönliches Wohlergehen im Auge haben, dürfen wir nicht vergessen, dass es uns auch deshalb gut geht, weil Nächste, Ferne und Nahe es uns ermöglichen. Das fängt in der Familie an, setzt sich in der Schule und am Arbeitsplatz fort und funktioniert, weil die sozial-caritativen oder öffentlichen Dienste von engagierten und kompetenten Menschen getragen werden. Wir vergessen also gerne, dass wir Gott in diesem Nächsten begegnen. Würden wir nur ansatzweise danach leben, wären die Probleme zwar nicht aus der Welt geschaffen, doch ein Ansatzpunkt einer Lösung gefunden. „Du sollst dich nicht rächen, noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volkes, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“ (Lev 19,18). Diese goldene Regel ist gehalten durch den Herrn. Liebst du den Herrn, dann kannst du das Gebot erfüllen, weil er dir die Kraft gibt und weil er dir im Nächsten begegnet und Begegnung ist Annahme des Nächsten. Auch andere Völker, Kulturen und Religionen kennen eine solche Regel.

Die Theophonie, von der berichtet wird, verleiht dem berufenen Jesaja die Autorität und stärkt ihm das Rückgrat, denn er erfährt Vergebung, um Vernichtung zu predigen. Allein sein Wissen, dass er als Teil des Volkes ebenfalls schuldbeladen ist, genügt, dass er entsühnt wird. Zugeben, dass man schuldig ist - das ist ein schweres Einbekenntnis, ein manchmal Unmögliches. Schuld wird psychologisch weggeredet, zugedeckt, auf andere verteilt, auf jeden Fall von sich weg geschoben. Jesaja wusste darum. Das Wort Verzeihung im Sinn der Vergebungsbitte finden wir in der Bußliturgie. Wir kennen das Wort „Bist du in Unfrieden mit deinem Bruder/deiner Schwester, dann bitte zuerst um deren Verzeihung und dann wird dir der Herr ebenso vergeben“. So heißt es in der Vater-unser-Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 6,12).

Gott überfordert keinen Menschen. Er frägt nach, er will Ja sagen zu uns, zu unserer persönlichen Freiheit, die uns mit unserem Menschsein geschenkt ist. Unser Ja zu Gott ist bindend und zugleich befreiend, lässt selbst Übermenschliches entstehen, weil es mit der Kraft Gottes im Heiligen Geist getan werden kann (denken wir an Menschen, denen wir nachsagen, dass sie Übermenschliches geleistet haben, ihre Spuren in unserem persönlichen Leben oder in der Geschichte unseres Landes hinterlassen haben).

Jesaja sprach sein Ja: „Hier bin ich, sende mich!“ (Jes 6,8), ohne zu wissen, welche Aufgabe er zu erfüllen hatte. Doch in seinem Ja ist Glaube, Hoffnung und Liebe zu dem einen Gott geronnen und im Wissen, dass er mit Gott Mauern überspringen kann wagt er es (vgl. Psalm 18,30). Es liegt oft an unserem Kleinglauben, dass wir das Ja nicht oder nur zögernd überzeugt sagen können.

Die Botschaft, die Jesaja zu verkünden hat, ist keine Lug- und Trugverkündigung. Doch weil die Menschen für die Botschaft Gottes oft kein Sensorium mehr haben, verfehlt die Botschaft die rettende und heilschaffende Wirkung. Der Mensch verrennt sich weiter in sein Unglück, weil er die frohmachende Botschaft des Lebens verkennt (wer die Zeichen der Zeit zu lesen im Stande ist, der wird genügend Beispiele finden, wo genauso gehandelt wird). Gegen eine solche Gefahr der Selbstverirrung beten wir im Vater unser: „Und führe uns nicht in Versuchung“ (Mt 6,13). Damit ist gemeint, Gott möge uns aus jeglicher Verirrung herausführen und uns nicht noch tiefer in Schuld verstricken lassen.

Das Bedauerliche ist, dass Menschen aus der Geschichte kaum lernen. Wenn Solidarität und Gemeinschaftssinn abhanden kommen, dann ist jeder, der sich meinen Wünschen entgegen stellt, ein persönlicher Gegner. Die „Ellbogengesellschaft“ ist damit geboren. Ein Teil erfreut sich an der Konsumgesellschaft, ein anderer, immer größer werdender Teil der Menschen erlebt Entbehrung und Not – auch in unserem Land. In der Spaß- und Eventgesellschaft wird kommerzielles Glück vorgegaukelt, das von Menschen bestimmt wird, ohne auf Lebenswerte zu achten. Ein Glück ohne Gottesbezug kann ins Unglück führen. Die Geschichte ist voll von solchem Glücksleid, von persönlichem Leid und Völkerleid.

Dieses Ins-Unglück-rennen ist in der Berufungsgeschichte des Jesaja vorgezeichnet. Leider lehrt uns auch die eigene Geschichte, wenn wir an das Ende des Zweiten Weltkrieges denken, dass das Ende wirklich erst mit der totalen Zerstörung kam. Aber wir müssen gar nicht so weit zurückblicken, wenn wir an die vielen Ehescheidungen denken, die oft erst in der fast völligen Selbstzerstörung wieder einen Weg finden - leider meist auf getrennten Wegen.

Sie können mir jetzt vorwerfen, dass ich in meinen Ausführungen so negativ geworden bin. Zum Schluss so pessimistisch und mit negativen Beispielen endend – was man bei einer Predigt nie tun soll – geht es mir wie Jesaja. Das Ergebnis von Jesajas Tun bleibt offen und es muss ihm klar sein, dass er an seinem Auftrag nicht irre werden darf, auch wenn sein „Erfolg“ in nichts anderem als in zunehmender Verhärtung der Herzen besteht. Nicht umsonst wird ein optimistischer, versöhnlicher Schlussvers, der die Drohung mildern und abwehren will - und nach namhaften Exegeten nicht an diese Stelle gehört - dazugedichtet. Nicht das absolute Ende von Israel, sondern der Wurzelstock, der das Gericht überlebende Rest, wird zum Samen. Der Baum ist noch nicht ganz vernichtet, der triebkräftige Wurzelstumpf kann wieder ausschlagen und grünende Zweige treiben. Amen.

Univ.-Prof. Dr. Friedrich Schleinzer, OCist.
Fachbereich Praktische Theologie
Universitätsplatz 1
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Tel.: 0662/8044-2753
E-Mail c/o Paula.Mairer@sbg.ac.at

 

 


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