Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Trinitatis, 22. Mai 2005
Predigt über Jesaja 6, 1-8 (9-13), verfasst von Hans Joachim Schliep
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Liebe Gemeinde!

Anstatt den Predigttext für das Trinitatisfest 2005 vorzulesen, werde ich ihn nacherzählen*: Jesaja 6, die Berufung des Propheten.

* Siehe z. T. Nico ter Linden: Es wird erzählt... Bd. IV, S. 21-23.

„Weinberg des Herrn “ wird Israel, das Volk Gottes, genannt. Aber es steht schlecht um diesen Weinberg. Assyriens König liegt auf der Lauer, um ins Land einzufallen und alle Reben abzureißen. Israels König liegt im Sterben: Usija ist vom Aussatz befallen - ein Fürst, nach langer Regierung ebenso unrein wie sein Volk. Das Volk aber wiegt sich in Sicherheit: „Wir haben ja schließlich den Tempel. In dem wohnt doch Gott - oder?“ Wie selbstverständlich wird Gott verrechnet ins eigene Leben: als großer Rückversicherer für jedes Risiko. Der bringt alles wieder ins Reine, so daß man seine schmutzigen Geschäfte weitermachen kann wie bisher. Ein „liebes Gottchen“ für „fromme“ Leute, die im Grunde nur ihre Ruhe haben wollen. Den Tempel, in dem sie diesen kleinen Gott eingefangen zu haben glauben, rennen sie die Türen ein. In Stadt und L and jedoch tobt das Unrecht, und die Feindesmacht rückt auf die Grenzen zu.

Da, im Jahr 735 vor Christus, wird Jesaja, ganz allein im Tempel, in einer Vision zum Propheten berufen: In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf ein em Thron, und sein Saum füllte den Tempel . Ein König steht an der Grenze, ein König stirbt - doch hoch darüber thront noch ein König, der Heilige Israels. Für den ist der Tempel viel zu klein. Das Gotteshaus kann lediglich den Saum se i nes Gewandes fassen. Ist er denn kein lieber, kein naher Gott, kein Gott zum Anfassen? Dieser Herr bleibt verborgen. Auch die feurigen Engelsgestalten rund um seinen Thron können seine Herrlichkeit nicht aushalten. Nur zwei ihrer sechs Flügel haben sie zum Fliegen, mit zweien bedecken sie ihr Gesicht, mit zweien verhüllen sie ihre Scham. Engelsgestalten? Die Serafim könnten, von Namen und Gestalt her, auch Schlangen sein oder Blitze.

Der Heilige Israels auf einem Thron, feurige Wesen drumherum: Ist das ein Bild, mit dem Gott sich darstellt? Ein Bild, in dem die Hierarchie der Macht sich abbildet: Ganz oben der „Herr der Himmel“ auf dem höchsten Thron und dann die Mächtigen der Erde, Könige oder Kanzler, Präsidenten oder Vorsitzende, auf den etwas niedrigeren Chefsesseln? Jahrtausendelang wurde es in der christlichen Tradition so dargestellt. Doch dieses Bild ist falsch, grundfalsch. Gott gibt hier kein Bild von sich selbst. Jesaja malt dieses Bild. Mensch, der er nun einmal ist, kann er sich anders nicht vorstellen, was ihm da widerfährt, was ihn verängstigt und verzückt, anzieht und abstößt, erschüttert und begeistert, was ihn unbedingt trifft und betrifft.

Jesaja wird ergriffen vom Ungreifbaren schlechthin. Das ist mehr als Staunen über Sonnenlicht und Sternenhimmel, mehr als Freude über strahlende Kinderaugen, mehr als für mich Mozart’s erhebende Jupiter-Symphonie: ein Wundern, das über alle Wunder geht. Etwas Unvergleichliches, in dem sich das Sein selbst zu erkennen gibt. Im Grunde kann sich niemand von diesem Bild ein Bild machen - und wer solch ein Bild in seiner Bibel hat, sollte es herausreißen. Angesichts des Widerfahrnisses, das Jesaja da zuteil wird, ist jedes Heiligenbild, jede Heiligenverehrung bloß lächerlich, bleibt jede religiöse „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ ein dumpfes Gefühl, jede philosophische Idee - und sei sie ganz aufs Metaphysische gerichtet - ein blasser Gedanke. Unendliches gibt sich kund über alles Endliche hinaus und in alles Endliche hinein. Unvergleichlich!

Vielleicht könnte man an Blaise Pascal, den Mathematiker und Physiker, denken. In einer Nacht im Jahr 1654 schrieb er auf einen Zettel: „FEUER. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und der Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden. Freude. Friede. Gott Jesu Christi... Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude.“ Vielleicht. Denn Jesaja nimmt noch Überwältigenderes wahr: das Unfaßbare und Unverfügbare überhaupt, das ganz und gar Erhabene, die Heiligkeit Gottes. Die Engelsgestalten - ein Bild, ein Bild! - rufen es : Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!

Ja, heilig ist er, dreimal heilig: kadosch, kadosch, kadosch... „Schwere“ heißt das auch und „Glanz“, im Himmel, auf der Erde, jetzt und ewig. Eine Domäne, die kein Sterblicher betreten kann. Eine andere Dimension - über Raum und Zeit hinaus. Das Licht selbst. Und doch kann man diese Dimension wahrnehmen auf der Erde, ist sie in der Tiefe von alledem. Das Unnennbare hat einen Namen. Der wird, erhaben wie er ist, noch einmal umschrieben: der ‚Heilige Israels‘. Ihm allein gilt das dreimal „Heilig“ so einzigartig und mächtig, daß die Schwellen beben...und das Haus sich erfüllt mit Rauch . Die Bibel erzählt gerne vom Rauch. Rauchschwaden offenbaren den Sterblichen, daß der Ewige erschienen ist, zugleich entziehen sie seine Erscheinung ihrem Blick. Angemessener noch, scheint mir , setzt Marc Chagall die lichtvolle Gegenwart des Unsichtbaren ins Bild: das Göttliche ist weiß.

Was kann Jesaja nun noch sagen? Da sprach ich: „Weh mir , ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ Just als ihm das Erhabene schlechthin begegnet, verschwindet Jesaja nicht in die Sphäre der Erhabenheit. Jetzt, angesichts des Unvergleichlichen, spürt er seine Erdenschwere erst recht, die Unreinheit seiner Lippen, sein Eingebundensein, seine Gleichheit mit seinem Volk. Wer dem Heiligen begegnet, wird nicht ausgesondert, sondern hineingestellt in die Menschheit. Ja, an ihm vollzieht sich stellvertretend, was auch sie nötig hat:

Eine der Engelsgestalten nimmt eine glühende Kohle vom Altar, der in der Gegenwart des Heiligen offenbar zu einem Feuerofen geworden ist, berührt damit Jesajas Mund und brennt alles Unreine, Unheilige weg. Zur Welt Gottes gehört eben auch das Feuer. Feuer vernichtet und läutert zugleich. Ein einziger göttlicher Funke hat den sterblichen Jesaja berührt - und er ist gereinigt, frei gemacht. Nun kann Gott durch ihn sprechen . Wo alle anderen Propheten Widerspruch anmelden, sie seien zu jung, zu unerfahren, zu wenig beredt - durchs göttliche Feuer befreit, ist Jesaja bereit, Gottes Bote zu sein: Und ich hörte die Stimme des Herrn , wie er sprach: „Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?“ Ich aber sprach: „Hier bin ich, sende mich!“

Jesaja kann kein Vorbild sein. Ich kann mich nicht hinstellen und sagen: „Hier bin ich, sende mich!“ Wie gerne hätte ich die Zauberformel, mit der ich Me n schen zu Gott bekehren könnte! Aber die Menschen heute suchen Gott jenseits überlebter Formen und Formeln. Nicht wenige wenden sich von der Kirche ab, weil wir zu berechenbar und geheimnislos von Gott sprechen. Wer aufhört, von SEINEM Geheimnis zu sprechen, erreicht weder IHN noch einen Menschen. Wie sprechen von dem, vor dem ich eigentlich nur schweigen kann? Mir muß es schon Berufung genug sein, wenigstens nicht nicht von Gott sprechen zu können.

Und er sprach: „Geh hin und sprich zu diesem Volk: ‚Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht.‘“ Wie bitte: Jesaja wird gesandt, damit er kein Gehör findet?! Soll der Weinberg niemals wieder Frucht tragen? Vorerst erfährt Jesaja nur, daß es nicht Gott ist, der sich rächt, sondern die Ungerechtigkeit rächt sich. Ein Volk, das sich vom Geber aller Gaben loslöst, macht sich selbst für Gott unerreichbar; der Segen wird zum Fluch. Jesaja muß das wi s sen bei jedem Wort, das er im Namen Gottes spricht. Denn Menschen, die nichts mehr glauben, glauben doch am Ende alles . Auch in der menschlichen Seele gibt es kein Vakuum. Irgendetwas nimmt immer von ihr Besitz. Fragt sich nur, was.

Doch Jesaja beharrt auf einer Antwort. Einmal muß das Unheil doch ein Ende haben: „ Herr , wie lange?“ Die Antwort ist bitter: „ Bis die Städte wüst werden, ohne Ein wohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt.“ Das steht unmittelbar bevor. Jesaja soll es seinem Volk klar machen. Damit es die Schuld nicht abschiebt auf dunkle Mächte oder ein anonymes Geschick, sondern ein Bewußtsein von sich selbst zurückgewinnt, indem es sich zu se i nem Unrecht bekennt. Dann, erst dann kann aus einem gefällten Baum etwas wachsen: Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein. Mit diesem Bild schließt die Berufung des Jesaja: Wie am Rande eines Baumstumpfes ein kleiner Zweig wieder wächst und grünt.

Dieses Bild vor Augen, liebe Gemeinde, muß ich an Deutschland vor 60 Jahren denken: Erst der Untergang brachte die Befreiung, erst in der Niederlage konnte ein neuer Same keimen. Soweit darf es nie wieder kommen, daß nur ein Stumpf übrig bleibt. Nirgendwo, in keinem Land darf das Recht des Stärkeren, dessen Propagandisten wieder ihr Schandmaul erheben, die Stärke des Rechts ersetzen. Doch immer wieder wird der Name des Menschen unvorstellbar tief entehrt und entleert. Was ist uns noch heilig? Gibt es überhaupt noch etwas, vor dem wir Halt machen würden? Die Kernenergie wurde entfesselt, das Leben im frühesten Stadium wird manipuliert. Wird erst ein neu erwachendes Gespür für das Unverfügbare schlechthin der menschlichen Verfügungsmacht eine heilsame Grenze setzen? Worin sonst als im Erschaudern vor Gottes Heiligkeit könnte ein neuer Respekt vor allem Lebendigen Kraft und Maß finden? Die Heiligkeit Gottes „heiligt“ zugleich alles, was sich ihm verdankt. Bei Gott behält es seine unverzerrten, unentfremdeten, unvergänglichen Konturen. Darum schreibt der Schweizer Dichter Kurt Marti unter dem Titel Der Name:

vielleicht / daß heisenberg / wirklich die weltformel fand / das wird sich noch weisen

aber wann aber wann / wird die heiligung / jenes namens erscheinen / der mehr ist / als welten und formeln?

vielleicht / daß die Herren der Erde / wirklich nicht nur das unrecht erstreben / das wird sich noch weisen

aber wann aber wann / wird die heiligung / jenes namens erscheinen / der die erde verwandelt / in eine Sonne des Rechts?

vielleicht / daß die Christen / wirklich das licht sind der welt / das wird sich noch weisen

aber wann aber wann / wird die heiligung / jenes namens erscheinen / der finsternis sprengt / mit explosionen des lichts?

Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Mindestens von dem, der das mitsingen, ins Innerste aufnehmen und im Äußersten glauben kann, ist Freiheit von den Preisungszwängen zu erwarten, die wir Menschen uns als Möchte-gern-Herren-der-Welt auferlegen. Gott sei Dank für seine Ungreifbarkeit. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

(Die Predigt verdankt sich Ideen und Formulierungen von Nico ter Linden, Volker Drehsen und Friedrich Schorlemmer.)

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
0511 – 52 75 99
e-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

 

 

 


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