Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005
Predigt über Markus 9, 17-27, verfasst von Hansjörg Biener
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Begrüßung

»Kleine Kinder kleine Sorgen - große Kinder große Sorgen.« Sie kennen das Sprichwort und vielleicht erleben Sie als Eltern auch, wie mit Ihren Kleinen die Sorgen gewachsen sind. Doch die mir das als letzte sagte, meinte damit nicht einen Teenager auf dem Weg ins Leben, sondern war in den Siebzigern und sprach über ihre längst erwachsene Tochter. Das mag uns zeigen, dass wir immer irgendwie Kind bleiben, selbst wenn wir längst eigene Lebenskreise ziehen. Große Sorgen um seinen kleinen Sohn hatte der Vater, um den es im Predigttext dieses Sonntags geht. Ihr Schicksal und, was wir vielleicht für unsere Gegenwart gewinnen können, das wird das Thema des heutigen Gottesdienstes sein.

Predigt

»Einer aus der Menge sagte zu Jesus: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. (...) Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist`s, dass ihn das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so dass die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.« (Markus 9,17.20-27)

Kleine Kinder - kleine Sorgen? Dieser Vater jedenfalls hatte große Sorgen mit seinem Kleinen. Das Krankheitsbild klingt nach Epilepsie. Darum hat man die Geschichte auch die Heilung des epileptischen Knabens genannt. Aber wir sollten mit den modernen Interpretationen zurückhaltend sein, denn es geht hier ebenso sehr um die Krankheit wie um ihre Deutung. Der Vater stellt jedenfalls die Diagnose Besessenheit und hofft, dass Jesus den bösen Geist bannen kann. Welche Eltern würden nicht alles für ein krankes Kind tun, dass es gesund wird. Dieser Vater dringt zu Jesus vor, wie heute Eltern zu bekannten Ärzte oder Ärztinnen fliegen oder auch zu Wunderheilern, »wenn es nur hilft«. Dieser Mann hat sich bis zu Jesus vorgekämpft. »Vielleicht kann der ja Wunder tun.«

Doch der Wundertäter wendet sich zunächst ganz dem Vater zu. Mit einem Gespräch. Das ist überraschend. Müsste Jesus nicht mit einem Blick auf den Knaben erfassen, was los ist? Aber Jesus kommt zu seiner Zeit und auf seine Weise zur Hilfe. Es ist wie heute, wenn ein Kind seelische Probleme hat, und die Psychologen wollen nicht einfach und zuerst das Kind therapieren, sondern wenden sich der ganzen Familie zu. Das kann schmerzhaft sein, aber manchmal ist das der Schlüssel zur Heilung. Wo jemand krank ist, leidet nicht nur der Kranke, sondern das ganze Umfeld, und manchmal, - manchmal -, ist das Umfeld gerade ein Teil des Problems, das die Krankheit ausgelöst hat.

In der biblischen Geschichte merkt Jesus, dass nicht nur das Kind Heilung braucht, sondern auch ein verzweifelter Vater. Kleines Kind und große Sorgen! Wie viele Hoffnungen wird der Vater begraben haben, als er erkennen und anerkennen musste. »Mein Sohn ist krank und nicht wie die andern. Mein Junge ist behindert«, epileptisch, oder, wie der Vater meint, besessen. Und wie viel Sorge und Verantwortung wird sich aufgestaut haben, wie viel »immer auf dem Sprung sein«. »Von Kindheit auf«, sagt der Vater. - Ihm fallen die Male ein, wo er vielleicht nicht aufmerksam genug war oder nicht schnell genug. Zwei Beispiele nennt er: Das Kind aus dem Feuer retten, das Kind aus dem Wasser ziehen. Zwei Beispiele für viele Male. Wo viel gelitten wird, staut sich viel auf. Verzweiflung braucht Worte, braucht Raum, sich zu äußern, sonst frisst sie die Seele auf. Und gerade bei Männern heißt es, dass sie viel Leid in sich hineinfressen und sich eher auf die Lippen beißen, als ein Wort zu verlieren.

Diesem verborgenen Leid spürt Jesus jetzt nach, und es gelingt ihm, den Vater aufzuschließen. Zunächst mit dem Gespräch über die Krankheit. »Wie lange ist`s, dass ihn das widerfährt?« Doch das ist nur die Einleitung. Denn schließlich kommt jeder Satz, der alles herausbrechen lässt: »Alles ist möglich, dem der da glaubt.« Das hat, scheint es, so wenig mit der notvollen Situation des Sohns zu tun zu haben, und ich habe da lange überlegt, worauf das antworten könnte. Vielleicht gab es da eine Botschaft in der Art des Vaters, die Jesus gespürt hat. Ich denke da an die Botschaften, die heute manche Mütter und Väter ihren Söhnen und Töchtern vermitteln und die ich manchmal auch gehört habe. »Alles ist möglich. Man muss nur wollen.« »Man kann, wenn man will.« Als Fazit für ein eigenes Leben kann ich das hinnehmen. Dann will ich annehmen, dass sich da jemand mit großer und bewundernswerter Energie durch Sorgen und Schwierigkeiten seines Lebens durchgebissen hat. Doch als Botschaft an mich nehme ich es nicht mehr hin. Wie hört oder spürt das ein Kind, das »will«, aber nicht »kann«, in der Schule beispielsweise, aber auch allgemein, wenn es Erwartungen der Eltern spürt, die es erfüllen soll und die es nicht erfüllen kann. Die Magenschmerzen vor der Schulaufgabe sind da vielleicht nur der Anfang der psychosomatischen Reaktionen. Vielleicht muss der Vater der biblischen Geschichte lernen und zugeben, dass es mit bloßem Wollen eben nicht immer getan ist. Die ganze Verzweiflung erlittenen Lebens und enttäuschter Hoffnungen bricht aus ihm heraus. Fünf Worte sind es nur, aber so erlitten, dass sie bis heute von Menschen nachgesprochen werden: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Ich glaube doch, dass Du helfen kannst, Jesus, aber wo, wo kann ich das sehen?«

Wo sich jemand so weit öffnet, ist die Masse fehl am Platz. Als die Menge zusammenströmt, weil es etwas zu gaffen gibt, heilt Jesus den Knaben und gibt der Menge keine Chance mehr zu Neugier. Auch wir werden aus dem Geschehen ausgeschlossen, die Neugier, wie Jesus denn nun den Knaben heilte, wird gerade nicht befriedigt. Jesus kommt zu seiner Zeit und hilft auf seine Weise.

Wie kann diese Geschichte zu unserer werden? Ich möchte das versuchen, indem wir die Geschichte in einer kleinen Aktion jedenfalls ansatzweise nacherleben. Denn nur wenn wir den biblischen Geschichten nachgehen und nachgehen wollen, können sie für uns lebendig werden. Anknüpfungspunkte haben wir bestimmt.

Da ist die Not, die der Vater spannungsvoll in sich trägt. Sie ist sichtbar, zum Teil, weil jeder den kranken Jungen sieht. Zum Teil ist die Not aber auch tief in der Seele vergraben. Manche Menschen, die ich kenne, können die Not dieses Vaters gut nachempfinden, weil auch sie ein Sorgenkind zuhause haben. Bei anderen Menschen nagt ein anderer Kummer in der Seele. Als Symbol dieser Nöte lasse ich jetzt Zettel mit Fragezeichen durchgehen. Sie mögen uns erinnern, dass wir alle Lebensfragen haben, an denen wir arbeiten, nach deren Antworten wir suchen und deren unbeantwortete Teile immer wieder auch beiseite gelegt werden müssen, damit wir den Alltag bestehen können. Ich will nur einige solcher Grundnöte andeuten: frühe Verlusterfahrungen, Sorgen um die eigene Zukunft und die Arbeitsstelle, die Frage »warum bin ich so, wie ich bin?«, ein Beruf, der nicht mehr zu uns passt, eine Partnerschaft, echte Lebensfehler, die wir gemacht haben.

Doch wie kann so ein Kummer mit Jesus zusammenkommen? Jesus ist ja heute nicht mehr so da, wie damals zur Zeit unserer biblischen Geschichte. Wie sollten wir zu Jesus kommen und seine Antwort auf unser Leben bekommen? Die kirchliche Tradition hat diese Frage durchaus gekannt und bedacht. Sie hat darum in der Regel auf das schriftliche Wort der Bibel und mündliche Wort der Predigt von Jesus verwiesen, auch auf Taufe und Abendmahl, wo wir sicher sein sollen, dass hier Gott heilend an uns handelt. Nun, im Gottesdienst sind wir, und Worte Jesu haben wir auch. Ich habe Zettel mit Jesus-Worten in die Taufschale gelegt.

Und man könnte das nun so sehen: wie jener Vater damals zuhause und dann bei Jesus, sind hier wir und da die mögliche Hilfe für unsere Probleme. Ich möchte in diesem Gottesdienst nun eine Pause eintreten lassen. Unser/e Organist/in wird sie uns musikalisch begleiten, und ich möchte Sie einladen, diesen Weg jenes Vaters einmal für sich selber nachzugehen, von einem persönlichen Kummer in der Hand und einer persönlichen Frage hin zu einem Jesus-Wort. Kommen Sie nach vorne, legen Sie Ihre Frage in die Taufschale und nehmen Sie sich aus der Schale einen Zettel mit einem Jesus-Wort als Trost- und Leitwort.

(-> Material zur Predigt)

(musikalische Pause)

Hier wir und da die mögliche Hilfe für unsere Probleme, das ist eine spannende Geschichte und vielleicht wird einem da die biblische Geschichte sogar näher als lieb. Denn egal, wie wir uns entscheiden, lernen wir etwas über uns selber. Da ist die spannende Frage, die man so oder so beantwortet: »Machst du das jetzt mit?«. Und da gibt es dann zwei Möglichkeiten: sich innerlich zu gestehen, »Ja, ich habe einen Kummer, der über meine Grenzen hinausweist.«, und der Entschluss, zu gehen und die Erwartung zu haben, dass Jesus zu mir selber spricht. Und dann nimmt man das Blatt und schaut darauf. Mit Skepsis, mit Spannung, mit Sorge, ob das vielleicht zu sehr in die Mitte unserer Sorgen spricht oder wir hinterher so schlau sind wie vorher. Oder die andere Möglichkeit: Die Skepsis ist zu groß oder das Nichts-mehr-erwarten. Man bleibt sitzen, aber die Frage bleibt, ob wir nicht eine Antwort verpasst haben. Darum werde ich die Zettel nicht sofort wegräumen. Wer mag, kann auch beim Herausgehen nachher noch einen holen.

Lassen Sie mich nun noch einen Moment auf die Bibelworte eingehen, die Sie in Händen halten. Vielleicht haben Sie ganz spontan eine Verbindung zu Ihrem Leben herstellen können, wie damals der Vater zum Jesus-Wort damals. Vielleicht ist Ihnen das Wort auch fremd geblieben. Dann möchte ich Sie erinnern, an den Kontrast in der biblischen Geschichte: die gewünschte Heilung auf der einen Seite - und auf der anderen Seite das Gespräch und jenes anspruchsvolle Wort »Alles ist möglich dem, der da glaubt.« Für Außenstehende ist zunächst einmal ohne Zusammenhang, doch nicht für den Vater, der ganz spontan auf das Jesus-Wort reagiert. Bei ihm löst sich Spannung. Verzweiflung bekommt einen Ausdruck, und Heilung kommt zum Wirken. Das erhoffte Wunder für den Sohn folgt dann auch noch. Aber auf diesen ersten Schritt vor dem erhofften Wunder will ich hinweisen: Jesu Antwort auf die Not ist zunächst einmal gar nicht wunderhaft, sondern ein Wort zum Abarbeiten. Es ist ein Wort zum Achten auf die eigenen Reaktionen und Gefühle, und vielleicht auch ein Wort der Wegweisung.

[Lassen Sie mich das nur als Beispiel an dem Jesus-Worte deutlich machen, das mir beim Aussuchen der Verse zugefallen ist und das ich heute nicht mit hingelegt habe. »Ich bin die Tür, wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden.« Ein Wort, das in mir viele Assoziationen freigesetzt hat und noch freisetzt. Das Bild von den Türen ist uns ja geläufig. Ich habe mich gefragt, an welche Türen ich klopfe, privat, beruflich, in meinen Träumen und Plänen, weil ich vermute, dass hinter diesen Türen erfüllteres Leben ist als davor. Und ich bin auch auf Erinnerungen gestoßen, wo Türen verschlossen blieben und mich das verletzt hat. Ich stehe aktuell vor einer beruflichen Veränderung: Vielleicht ist das die Tür, die sich öffnet, und ich soll den Mut haben, hindurchzugehen, weil mich dieser Schritt meiner Seligkeit näher bringt, also dem Sinn meines ganz persönlichen Lebens. Und dann bliebe auch zu fragen, wie all das, was ich da an Assoziationen in mir finde, mit Jesus in Verbindung zu bringen ist. Gewiss werde ich dem noch für mich persönlich nachgehen, mir scheint es aber, dass er durchaus mit dem Türrahmen zu vergleichen ist, der nötig ist, damit es Türen gibt, durch die man hindurchgehen kann.]

Dr. Hansjörg Biener
Neulichtenhofstr. 7
DE-90461 Nürnberg
www.biener-media.de


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