Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Theologische Meditationen zur Passionszeit
Texte im Anschluß an Briefe, Gedichte und Reflexionen aus Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“
Das große Fragezeichen eines „religionslosen Christentums“, Julia Helmke

(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Brief an Eberhard Bethge am 30.4.1944, in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW, 8. Band, München 1998, 403-409.

Dietrich Bonhoeffer: Das große Fragezeichen eines „religionslosen Christentums“

»Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum, oder auch wer Christus für uns heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte sagen könnte, ist vorüber, ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein.«(1)

Welche kühnen Gedanken sind das! Und dazu: Sie sind von einem Theologen, einem Pfarrer geäußert. Immer wieder ergreift mich, was Dietrich Bonhoeffer am 30.April 1944 von seiner Gefängniszelle in Berlin-Tegel heraus an seinen Freund Eberhard Bethge geschrieben hat.

Unvorstellbar scheint mir, was er prognostiziert. Undenkbar, tausend Fragezeichen aufwerfend für mich, die ich mich als religiös verstehe, als Christin versuche in und mit dieser Welt und in und mit dieser meiner Kirche zu leben. Bonhoeffer, der Christ Dietrich Bonhoeffer, rüttelt an Weltbildern. Zugleich spüre ich in diesen Zeilen eine starke visionäre Kraft. Eine Energie des Erkennens, die schwindelig macht und zugleich sehr klar. Es treibt ihn um, das merkt man seinen Zeilen an. Ihm ist es ernst, lebensernst. Dringend bittet er den Freund, zu Beginn und auch am Ende seines langen Briefes (»ich kann doch noch etwas weiterschreiben«(2)), ihn auf diesen Gedankengängen zu begleiten. Denn noch sei es ein Tasten, noch sei es unfertig – weniger seine grundsätzlich gewordenen Überzeugungen als vielmehr das, was sie bedeuten, was sie an notwendigen Veränderungen, Kehrtwendungen nach sich ziehen könnten.

»Wie sprechen (oder vielleicht kann man eben nicht einmal mehr davon „sprechen“ wie bisher) wir „weltlich“ von „Gott“, wie sind wir „religionslos-weltlich“ Christen, wie sind wir Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige?«“(3)

Die Möglichkeit oder sogar zukünftige Wahrscheinlichkeit eines „religionslosen Christentums“ einmal ausgesprochen, lässt - die Erschütterung bleibt spürbar - kein Stein auf dem anderen im bisherigen Gefüge von Kirche und Welt. In Bonhoeffers Brief folgt so fast lawinenartig eine Frage nach der anderen. Bisherige Selbstverständlichkeiten gelten nicht mehr, selbst Wörter wie „sprechen“ und „Gott“ können nur noch in Anführungszeichen stehen. Nicht zuletzt steht im Raum etwas, das für uns Heutige wieder enorm an Bedeutung gewonnen hat:

»Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet? «(4)

Und hier merke ich ganz besonders, dass ich beim Lesen und Hören dieser Zeilen nur schwer abstrahieren kann von dem, was ich um mich herum wahrnehme: Ein salonfähig sinkendes Vertrauen in die befreiende Botschaft des Evangeliums, verbunden mit der derzeitig viel beschworenen „Wiederkehr des Religiösen“, Säkularisierung goes Sakralisierung, Sehnsucht nach verbindlichen Lebens- und Glaubensformen im Alltag und auf Zeit, sei es Herzensgebet oder das Bedürfnis nach „durchbeteten“ Kirchenräumen.

Hat Dietrich Bonhoeffer sich geirrt? Befand er sich durch Freiheitsentzug, Misshandlungen, seine Erfahrungen im Gefängnis in Zeiten eines Terror-regimes und den eingeschlagenen Weg in den politischen Widerstand in einem auch theologischen Ausnahmezustand, der zu radikalen Ansichten führte, die selbst eigener Reflexion im Abstand nicht standgehalten hätten? Ein Ausrutscher, ein Verwirrung in wirren Zeiten?

Gerade letztere Vermutung verneint die überwiegende Mehrheit von Bonhoeffer-Experten und -Expertinnen, die in den vergangenen Jahren wieder ansteigend und gerade aktuell zu seinem 100. Geburtstag sich mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen geäußert haben. Nein, das, was Bonhoeffer mit dem Brief vom 30.April begann, seine Gedanken über das religionslose Christentum, später auch über die „Arbeitshypothese Gott“(5), die Fragmente einer ‚Tegeler Theologie’, das war eine konsequente Fortführung theologischer Entwürfe und Überlegungen, Diese begannen bereits in den frühen 1930er Jahren und gewannen in der Haft an Schärfe und Radikalität: „Was mich unablässig bewegt (…)“

Es war ein Voranschreiten auf einem Weg, von dem man nicht weiß, wohin er noch weiter geführt hätte.

Dieses Wissen nimmt der Frage nach dem religionslosen Christentum nichts von seiner Brisanz. Vielmehr lässt es vieles offen, wie es Dietrich Bonhoeffer bereits am Ende seines Briefes andeutete: »Wie dieses religionslose Christentum aussieht, welche Gestalt es annimmt, darüber denke ich nun viel nach und ich schreibe Dir bald darüber mehr darüber. Vielleicht wird hier gerade uns in der Mitte zwischen Osten und Westen eine wichtige Aufgabe zufallen.«(6)

Was das für uns heißen kann? Es bleibt spannend, zum Reiben und Abarbeiten. Kaum eine Publikation, die sich nicht damit auseinandersetzt – prominent und nachlesenswert-knapp beispielsweise bei Bischof Wolfgang Huber in seinem EKD-Text zu „Dietrich Bonhoeffer und die Wiederkehr der Religion“(7).

Meine Gedanken gelten an dieser Stelle nicht einer Analyse der religiösen Situation heutzutage. Das können Berufenere als ich besser und haben dies auch getan.

Was mich bewegt hat, woran ich mich erinnert habe, beim Lesen von Bonhoeffers Briefen, das war in den letzten Monaten – und in der Wiederholung vor wenigen Wochen auf der Berlinale – eine Geschichte, eine Geschichte der bewegten Bilder. So möchte ich, mit einem Beispiel, produktiv den Gedanken aufnehmen, wie man weltlich von Gott sprechen kann. Und erweitern in die Richtung, inwieweit man weltlich Gott heute sehen kann. In Filmen, die Fenster sind zu einer anderen Welt und dabei auch zu der eigenen, die Seismographen für gesellschaftliche und kulturelle Befindlichkeiten - und die zuweilen so radikal wie Bonhoeffer mir mit einfachen Worten den Atem nehmen können.

„L’enfant“ heißt dieser Film, den ich meine. Er stammt von dem belgischen Brüderpaar Luc und Jean-Pierre Dardenne, und hat am 12.2. 2006 den kirchlichen europäischen Filmpreis der John Templeton Foundation erhalten.(8)

Kühn erscheint es, dass die internationale protestantische Jury einen Preis vergibt an einen Film, in dem nichts, rein gar nichts religiöses auf der Leinwand sichtbar wird, weder der Name Gott noch Christentum genannt wird, ohne Metaphysik und Innerlichkeit. Und dennoch.

Worum es geht: Bruno und Sonia sind ein Paar, beide Anfang 20 und ohne feste Arbeit. Sonia hat einen gemeinsamen Sohn geboren, Jimmy. Bruno, ohne festes Zuhause, geht auf der Strasse seinen Geschäften als Dieb und Hehler nach. Mit dem Kind kann er nichts anfangen, Verlässlichkeit und Verantwortung sind ihm fremd. Aus einer Laune heraus verkauft er ihr Kind an einen Kinderhändler. Sonia bricht zusammen, und erst langsam versteht Bruno was er ihr angetan hat. Er holt das Kind zurück, muss bitter dafür bezahlen, doch Sonia will nichts mehr von ihm wissen. Als ein jugendliches Mitglied seiner Bande nach einem gemeinsamen Strassenraub gefasst wird, übernimmt er die Verantwortung und kommt ins Gefängnis. In der Schlussszene besucht ihn Sonia. Er bricht ihn Tränen aus, greift nach seiner Hand, sie hält sie fest.

»Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf«.(9)

In der Begründung der Jury der evangelischen Filmarbeit, die den Film bereits im November 2005 ausgezeichnet hat, heißt es dazu:

„Verschlagen und naiv, berechnend und hilflos zugleich wirkt Bruno, dessen emotionale und soziale Entwicklung als realistisches Drama inszeniert wird. Spontane Kamerabewegungen und abrupte Schwenks verstärken der Orientierungslosigkeit und des Getriebenseins (…) In seiner Not braucht Bruno nicht nur persönliche Anerkennung statt Ausgrenzung und Ablehnung, sondern auch Verzeihen, das nicht nur einen Neuanfang mit Sonia ermöglichen würde. Indem der Film unsentimental die Frage stellt, wie die schuldige gewordenen Verlierer der Gesellschaft eine Chance bekommen, wird er zum überzeugenden Dokument einer Haltung, die die Würde jedes Einzelnen im Blick hat.“ (10)

Ein In-der-Welt-Sein ist es, die die beiden Regisseure auszeichnet, sie antreibt und umtreibt: „In unseren westlichen Industrieländern führen 15 % der Menschen ein Leben am Rande der Produktions- und Konsumgesellschaft. Diese Menschen interessieren uns. Ich glaube, diese Menschen sagen uns mehr als andere über unsere heutige Zeit.“(11)

Wichtige Aufgaben für uns hier zwischen Osten und Westen? Sie fallen uns nicht zu, sie sind da. Und Gott – ohne Anführungsstriche – möge uns hierbei helfen zu Sehen, zu Hören, zu Fragen, zu Beten und zu Handeln.

[Julia Helmke, Dr. theol., sie arbeitet im Haus kirchlicher Dienste in Hannover, ist dort zuständig für das Fachgebiet „Kunst und Kultur“ sowie in der Leitung des Arbeitsbereiches „Kirche im Dialog“.

helmke@kirchliche-dienste.de]

(1) A.a.O., 403.

(2) A.a.O., 406.

(3) A.a.O., 405

(4) Ebd.

(5) Im Brief vom 8.7.1944, vgl. Dramm, Sabine, Dietrich Bonhoeffer. Eine Einführung in sein Denken, Gütersloh 2001, 242ff.

(6) A.a.O., 409.

(7)www.ekd.de/print.php?file=/bonhoeffer/theologie.html, ebenso: zeitzeichen Nr. 1/2006, xxx: „Bonhoeffers theologischer Impuls sperrt sich nicht gegen die Erfahrungen, die sich heute mit der Wiederkehr der Religion verbinden. Er kann vielmehr dabei helfen, mit diesen Erfahrungen so umzugehen, dass die christliche Wahrheit nicht von einer neuen religiösen Welle verschlungen wird, sondern ihr gegenüber in ihrer klärenden und orientierenden Kraft wirksam wird. Auch im Umgang mit der Wiederkehr der Religion bewähren sich der Respekt vor der Mündigkeit des Menschen und die Überzeugungen, dass der Glaube ein Lebensakt ist, der den ganzen Menschen ergreift.“

(8) Vgl. http://inter-film.org – siehe dazu auf derselben Seite auch die wunderbare Predigt von Hans Werner Dannowski.

(9) A.a.O., 408.

(10)Vgl. www.gep.de/filmdesmonats/november2005.

(11)Ebd.

 


(zurück zum Seitenanfang)