1. Johannes 2,9 / 1. Korinther 12, 26

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1. Johannes 2,9 / 1. Korinther 12, 26

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost


21./22. Sonntag nach Trinitatis,
20./27. Oktober 2002
Predigt zum Anschlag in Helsinki
über 1. Johannes 2,9 / 1. Korinther 12, 26, verfaßt von Esko
Ryökäs (Finnland)

1 Johannes 2: 9: „Wer sagt, er sei im Licht, und haßt seinen
Bruder, der ist noch in der Finsternis.“
1 Korinther 12:26: „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder
mit.“

1. Nahe der finnischen Hauptstadt, in einem großen Einkaufszentrum,
in „Myyrmanni“ ist am Freitag den 11.10.2002 eine Bombe explodiert.
Ein Student hat einige Kilo Sprengstoff ins Einkaufszentrum gebracht und
es explodierte in der regsten Geschäftszeit neben den Kassen des
großen Einkaufszentrums. Sieben Menschen sind ums Leben gekommen,
über 80 wurden verletzt. Die materiellen Schäden waren groß.
Am nächsten Tag wurde in der naheliegenden Kirche eine Andacht organisiert.
Der Gottesdienst dauerte eine halbe Stunde. Abschließend las der
Bischof „Gott segnet euch“. In der Zeitung wurde berichtet:
Sogar die Stimme eines erfahrenen Pfarrers ist umgeschlagen. Der Schmerz
war so groß. Man konnte es auch im Fernsehen sehen.

2. Was ist Leben? Was bedeutet geborgenes Leben? Manchmal zerbricht das
alltägliche Leben sehr tragisch. Alles läuft lange Zeit ganz
gewöhnlich, und dann passiert plötzlich etwas, was entgegenläuft.
Es kann ein überraschender Befund sein, den der Arzt mitteilt, oder
ein Krankheitsfall, es kann ein Verkehrsunfall in dem gewöhnlichen
Spitzenverkehr auf der Autobahn oder ein Zusammenstoß von Zügen
oder Flugzeugen sein. Etwas verändert sich plötzlich und unwiderruflich.
Der Alltag verschwindet, und es beginnt ein neuer Zustand von großem
Schmerz.

3. Wenn einen die Krise befällt, will man sie zuerst verleugnen.
Das kann nicht wahr sein, so etwas kann nicht geschehen. Das normale Leben
soll fortgesetzt werden. Sicherlich träume ich nur. Mit diesem Trugbild
kann man einige Stunden, sogar einige Tage leben. Aber dann kommen die
Anschuldigungen: Das kann nicht meine Schuld sein, jemand Anderer hat
es mit Absicht gegen mich getan. Es kann zu einer großen Hetzkampagne
kommen, wozu man die letzten Kräfte sammelt. Man muss den Schuldigen
finde, und der Schuldige bin nicht ich, sondern jemand anderes. In dieser
wie auch in anderen Krisen und in den krisenhaften Erfahrungen gibt es
immer die Gefahr, dass sie hängen bleibt. Sie kapselt sich ein, sie
wird zu einem Teil der Persönlichkeit und sie prägt dann alles,
was man später macht. Bleibt man in dieser Phase, reift man sich
nicht heran. Man bleibt verbittert für das ganze Leben. Der Alltag
ist verschwunden und an Stelle ist der Zustand des Schmerzes getreten.
Die Freude geht verloren.

4. Es ist leicht den Schmerz mit Hass zu ersetzen. Der Schmerz ist ein
wichtiges Gefühl, er ist eine Notwendigkeit und schützt das
Leben. Damit gibt es die Möglichkeit, etwas neues zulernen. Er ist
ein Anfang von etwas Neuem. Aber wenn der Schmerz sich in einen ständigen
Hass verwandelt, sind wir vor einer ganz anderen Situation. Der Hass baut
nichts auf, der Hass beraubt, unterdrückt und zerdrückt. Der
Hass hört keinem zu, der Hass stellt sich gegen und über andere
Menschen. Der Hass kapselt die Trauer ein und verhindert das Wachstum
und die Entwicklung. Der Hass ist eine Kraft, die sich gegen das Leben
stellt.

5. In letzten Jahren ist uns mehrmals unbegreifliches Leiden entgegengekommen.
Die sieben Toten und 80 Verletzten in der Umgebung von Helsinki vertreten
nur einen Teil von denen, deren Leben unerwartet und unwiderruflich veränderte.
Die Zerstörung ist in vielen Orten gewaltig gewesen und so auch die
Trauer und der Schmerz. Das Leiden hat Namen bekommen: New York, Bali,
Helsinki, Jerusalem, Jugoslawien, Nord-Irland, ….

6. Die Ereignisse haben ihren Hintergrund, aber der ist oft versteckt.
Es ist so schwer zu wissen, ob der Mensch neben dir zufrieden mit seinem
Leben ist, oder trägt er in sich eine Kraft, die das ganze Leben
zerstören kann. Von einem anderen Menschen ist es schwer zu sehen,
ob er den Hass oder die Bitterkeit in seinem Inneren trägt. Wenn
man die Herzensschmerzen eines anderen sehen konnte, konnte man vielleicht
auch zu zuhören und seine Last zu tragen versuchen. Wenn man den
Schmerz eines anderen schon im voraus ahnen konnte, konnte manche grausame
Tat verhindert werden. Aber wenn das Unwiderrufliche schon geschehen ist,
bleiben wir inmitten des Schmerzes. Hier konkretisiert sich in einer reellen
Weise die Feststellung von Paulus: „Und wenn ein Glied leidet, so
leiden alle Glieder mit.“ (1. Kor. 12: 26)

7. Der Friedensnobelpreis dieses Jahres wurde dem früheren Präsidenten
von USA Jimmy Carter für seine langwierige Tätigkeit für
Frieden vergeben. Er hat entscheidend zu dem Zustandekommen des Friedensvertrages
zwischen Israel und Ägypten beigetragen und war auch später
Vermittler in vielen Krisensituationen. Er hat mit seiner Tätigkeit
bewiesen, das es für den Schmerz und Hass eine Alternative gibt.
Es ist möglich den Frieden aufzubauen. Aber der Weg des Friedensstifters
ist nicht leicht. Es ist leichter zu hassen, als den Frieden zu stiften.
So kann man leichter den anderen Menschen hinwegzugehen, man braucht sie
nicht zu zuhören. Man fühlt sich nur das Recht zu haben. Aber
wenn man den Frieden und die Eintracht stiften will, muss man den anderen
zuhören, man muss bereit sein, seine Gedanken zu folgen und neben
ihm zu stehen. Der Frieden ist eine anspruchsvolle Lösung.

8. Als die Andacht wegen der Bombe in dem Einkaufszentrum von Myyrmanni
organisiert wurde, gehörte dazu auch das Gebet „Vater unser“.
In der Zeitung schrieb man, dass die Andacht fast handgreiflich zu fühlen
war. Aber eine Sache war schwierig: Es wird gebeten: „Vergib uns
unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. In der
Zeitung wurde später berichtet, dass es nicht leicht war, an diesem
Gebet teilzunehmen. Es fiel schwer in einem Gottesdienst für alle
Verstorbenen, Verkrüppelten und Verletzten um die Vergebung zu beten.
Wenn man die Vergebung für sich bittet, muss man auch dem Täter
vergeben.

9. Das Vergessen des Schmerzens und die Vergebung ist nicht nur schwer,
es ist oft unmöglich. Den Schmerz kann man nicht wegwischen, nicht
durch Tastendruck verschwinden lassen. Man kann nicht grenzenlos vergeben,
sei es denn, dass sie gefordert wird. Der Schmerz wird noch durch den
Text vom Johannesbrief vermehrt: „Wer sagt, er sei im Licht, und
haßt seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis.“ (1 Joh
2: 9) Die Liebe Gottes scheint manchmal zu fordern, dass ich meinen Feind
lieben muss, dass den lieben muss, der mich hasst, dass ich den liebe,
der mich ständig Schwierigkeiten vorbereitet. Wenn die Liebe Gottes
dieses von mir fordert, so fordert sie zu viel. Ich kann es nicht.

10. Zu unserem Glück wird nicht unmögliches gefordert. In
der tiefsten Dunkelheit, wenn man das traurigste Kapitel lebt, und die
ganze Hoffnung verloren geht, mitten in dieser Traurigkeit gelingt es
einem den Gedanken zu hören, der im Psalm ausgedrückt wird:
„Ob ich schon wandern muss im finsteren Tal, fürchte ich kein
Unglück; denn du bist bei mir.“ (Ps 23: 4) Der Gott geht mit
einem, der im finsteren Tal wandert. In all unserem Schmerz sind wir nicht
allein gelassen. Der Schmerz wird uns nicht weggenommen, aber wir sind
damit nicht allein. Gott kennt unser Leben. Er kennt unseren Alltag und
die karge Wirklichkeit. Kein Schmerz und Leiden ist Ihm unbekannt. Gott
kennt den Weg, den wir gehen.

11. Diese Konkretheit der Taten Gottes stellt sich in der Gemeinde heraus:
Der eine ist dort das Gehör, die andere die Hand, die eine der Sprecher,
der andere Zuhörer. Nahe an dem Anderen kann man erfahren, dass alle
ein Leib Christi sind. „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle
Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder
mit.“ Den Schmerz kann man teilen, im Schmerz braucht man nicht allein
zu bleiben, man braucht ihn nicht im seinem Inneren stecken, man braucht
ihn nicht in Hass umzuwandeln.

12. Gott ist bei uns, und er ist bei uns auf besondere Weise in anderen
Menschen, in der Gemeinde. Die Erkenntnis davon, dass man niemals allein
ist, kann uns die Kraft geben, unsere Feinde zu lieben. Sie kann uns die
Kraft geben, Frieden zu stiften und zu vergeben. In jedem Fall erklärt
sie uns, dass das Leben nicht in unseren schwachen, zerbrechlichen Händen
ist. Eine Explosion, ein Unglück oder Unfall reicht dazu aus, die
Kraft aus unseren Händen zu nehmen. Unser Leben ist nicht in unseren
Händen. Gott hat versprochen, uns im Leben zu tragen und auch über
seine Grenze hinaus.

13. „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen
Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sonder
ewiges Leben hat.“ (Johannes 3, 16). Dieses ist keine Forderung,
sondern ein Versprechen. Gott lässt uns mit unseren Schmerzen nicht
allein. Der Schmerz verschwindet sich nicht, aber er hat einen Zuhörer
und Verteilenden.

Vater unser im Himmel,
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem
Bösen.
AMEN.

Universitätslektor Dr. Esko Ryökäs
Universität zu Joensuu, Finnland
ryokas@joyx.joensuu.fi

 

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