1. Korinther 7, 29-31

1. Korinther 7, 29-31

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


20. Sonntag
nach Trinitatis, 5. November 2000

Predigt über 1. Korinther 7,
29-31, verfaßt von Ulrich Braun


Man müsste neue Kräfte haben
oder:
Freiheit statt Trübsinn

„Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan
sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die
weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht;
und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als
brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“

Liebe Gemeinde!

Der Sturm zu Wochenbeginn hat es offenbar gemacht. Dass das Wesen
dieser Welt vergeht, liegt, wenn nicht auf der Hand, so jedenfalls in den
Gärten und auf den Straßen sichtbar zu Tage. Überall weht
Herbstlaub umher. Auf den Zweigen ist es leerer geworden. Felix Salten gibt in
seinem Buch „Bambi“ Gelegenheit, einmal in den Gemütszustand
derer hineinzulauschen, die sich als einzelne Blätter noch an den
Ästen haben halten können.

Von der großen Eiche am Wiesenrand fiel das Laub. Es fiel
von allen Bäumen. Ein Ast der Eiche stand hoch über den anderen
Zweigen und langte weit hinaus zur Wiese. An seinem äußersten Ende
saßen zwei Blätter zusammen.
„Es ist nicht mehr wie
früher“, sagte das eine Blatt.
„Nein“, erwiderte das
andere. „Heute nacht sind wieder so viele von uns davon – wir sind
beinahe schon die einzigen hier auf unserem Ast.“
„Man weiß
nicht, wen es trifft“, sagte das erste. „Als es noch warm war und die
Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele
von uns wurden damals schon weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man
weiß nicht, wen es trifft.“
„Jetzt scheint die Sonne nur
selten“, seufzte das zweite Blatt, „und wenn sie scheint, gibt sie
keine Kraft. Man müsste neue Kräfte haben.“

Neue Kräfte müsste man haben, aber ringsum bestimmen
Bilder der Vergänglichkeit die Szene. Alles, was uns umgibt hat seine
Zeit. Sogar wir selbst sind wie Blätter. Früher oder später
welken sie und müssen hinunter. Da erscheint es nur klug, sein Herz besser
nicht an Dinge zu hängen, an Menschen nicht und nicht an Tiere, weil sie
durch die Zeit sinken wie Steine durchs Wasser und jeden mitziehen, der sich
ihnen verbunden hat.

In diesem Sinn scheint Paulus den Korinthern zu raten. Wer
verheiratet ist, der hänge sein Herz nicht an die Partnerschaft. Gebt acht
woran ihr euch freut, es könnte vergänglich sein. Was immer ihr
anfasst und gebraucht, bedenkt, dass es vergeht. – So weit, so
november-trüb. Dass sich diese Welt unterdessen als haltbarer erwiesen hat
als Paulus das in seiner frühen Zeit meinte, ändert daran nicht
wirklich etwas. Im Grunde ist es nichts mit ihr.

Daraus lassen sich schwerlich beschwingte Sätze bilden. Das
Bild eines weltoffenen und lebensfrohen Christentums, das Menschen in Bewegung
und miteinander in Kontakt bringt, drängt sich jedenfalls nicht direkt
auf. Aber die Herbststürme werden doch am Ende die Freiheit der
Christenmenschen nicht gleich mit verweht haben – wie ein Blatt, das vom
Baum fällt und nun dorthin tanzen muss, wohin der Wind es treibt.

Am Sonntag nach dem Reformationsfest soll dazu der Reformator
selbst, Martin Luther befragt werden. Er kann freilich nicht direkt auf das
Problem antworten, das sich heute wohl in anderen Worten formulieren würde
als zu seiner Zeit. Eine Episode aus seinem Leben und eine seiner kleinen
Schriften können aber immerhin zum Nachdenken darüber anregen.

Es ist auch Herbst als Luther die Schrift „Ob man das Sterben
fliehen möge“ fertigstellt, Ende Oktober, Anfang November 1527. Der
Anlass ist zudem düster genug und begann gut zwei Jahre zuvor: Von August
bis November 1525 wütete in Breslau die Pest. Wer konnte, floh vor der
Seuche und verließ die Stadt. So entstand bei den evangelischen Pfarrern
das Problem, ob man vor diesem Sterben fliehen dürfe. Mit dieser Frage
wandten sie sich an Martin Luther in Wittenberg.

Doch seine Antwort ließ auf sich warten. Sie ließ so
lange auf sich warten, dass die Breslauer nachhakten und ihre Anfrage
erneuerten. Bis Luther schließlich seine Antwort formulierte, war die
Pest bereits auch in Wittenberg ausgebrochen. Der größte Teil der
Universität, Professoren und Studenten waren nach Jena übergesiedelt
worden. Kurfürst Johann beschwor Luther, sich ebenfalls in Sicherheit zu
bringen. Der aber blieb – zusammen mit wenigen anderen – in Wittenberg, hielt
Vorlesungen und Predigten und versah seinen Dienst als Seelsorger an den
Bedürftigen, sogar an solchen, die an der Seuche erkrankt waren.

Es war wohl kein Zufall, dass Luther die Breslauer Kollegen hatte
warten lassen. Einen gelehrten Rat vom sicheren Katheder hatte er nicht geben
können. Wie hätte es auch geklungen, im Namen der Nächstenliebe
und des Gottvertrauens zum Bleiben in der Gefahr aufzufordern? Man kann nicht
vom geschützten Platz aus anderen empfehlen, sich tödlicher Gefahr
auszusetzen.

Erst als er selbst mitten drin steckt, kann er seine kleine
Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ verfassen. Darin
ermutigt er, zu bleiben und der Gefahr nicht zu weichen.

Zuerst schreibt er allerdings, dass die, die es nicht mehr
aushalten, sich in Sicherheit bringen sollen. Das sei sogar ein Gebot der
Umsicht und der Klugheit, wenn die Versorgung der Hilfebedürftigen
ansonsten sichergestellt sei.

Die interessante Frage aber ist, welche Kräfte denn
diejenigen brauchen, die bleiben – und woher sie sie bekommen inmitten der
Bilder von Vergänglichkeit und Tod.

Zuerst einmal stellt Luther das fest, was offenkundig ist: Die,
die nicht mehr weg können, weil sie selbst schon krank oder zu schwach
oder sonstwie gehindert sind, brauchen schlicht Hilfe. Ihnen die zu geben. dem
steht die Furcht vor der verheerenden Krankheit entgegen. Diese Furcht ist
ausgesprochen vernünftig, und wer nicht muss, möge sich nicht
mutwillig in Gefahr begeben. Aber diese Furcht kann auch überwunden
werden.

Der Hauptgrund, das zu tun, liegt für Luther darin, weil man
den Teufel damit so schön ärgern kann. Der Schrecken, der von der
Krankheit ausgeht, ist für Luther das Spiel des Teufels. Darauf müsse
ein Christenmensch sich gar nicht einlassen, findet Luther. Im Gegenteil: ihm
– dem Teufel – zum Trotz und Verdruss soll man „einen frischen
Mut fassen… und sagen: Hebe dich von dannen, Teufel, mit deinem Schrecken!
Und weil dich’s verdrießt, so will ich dir zum Trotz nur desto eher
zu meinem kranken Nächsten hingehen, ihm zu helfen, und will dich nicht
ansehen.“
(Ob man vor dem Sterben fliehen möge,
1527, WA 23, 338-379)

Die Vergänglichkeit ist das Spielfeld des Teufels. Der
Fürst dieser Welt, wie Luther ihn anderwärts nennt, versucht da
ernsten Schaden anzurichten. Er tut das – das müssen wir mit einiger
Zerknirschung eingestehen – mit ärgerlichem Erfolg. Aber wie er sich auch
anstellt, das Wörtlein, das ihn fällen kann, heißt Freiheit.
Die entsteht, wo einer diesen Teufel und sein Spiel durchschaut. Dass
nämlich all das, was womit er das Leben sauer machen kann, doch nur
Blätter im Wind sind. Sie welken auf den Zweigen und müssen abfallen.
Das Leben aber wird weitergehen. Anstelle von Trübsinn ensteht Freiheit.

Könnte man das auch in modernere und weniger teufelhaltige
Formen übersetzen? Bestimmt. Doch besser würde man den Gedanken damit
gar nicht machen können. Schöner ist er jedenfalls so. Auch wenn sie
vor 473 Jahren formuliert wurden, machen Luthers Zeilen klar, dass es gerade
die Einsicht in die Vergänglichkeit der Welt ist, aus der die Freiheit
wachsen kann.

Es befreit, etwas von sich abfallen lassen zu können wie
Herbstlaub. Sogar die Ängste vor der Pest und um das eigene Leben, die
eben noch schwer so schwer wogen, können losgelassen werden. Was gerade
noch schwer und nass einen Lebenszweig nach unten bog, kann nun herabfallen und
den Zweig freigeben. Selbst die Pestangst gleitet zu Boden, und der Tanz des
welken Blattes im Wind wird zum Spottlied auf den Teufel und die Lebensangst.

Zweige aber, von denen all das herabfallen kann, werden sich von
neuem aufrichten. In ihrem Innern sammeln sich schon die neuen Kräfte. Die
strömen aus dem Wurzelboden des Lebens selbst – sogar dann, wenn der Wind
solche Blätter von den Zweigen gerissen hat, die dort schmerzlich vermisst
werden.

Als die geflohenen Bewohner damals nach Breslau und Wittenberg
zurückkehrten, fanden sie viele, die vorher in der Stadt gewohnt hatten,
nicht mehr am Leben. Die Seuche zu besiegen, hat noch Jahrhunderte gedauert.
Doch am Ende ist es gelungen. Es ist aus der Freiheit gelungen, die die
Lebensangst besiegen konnte – aus der Freiheit, die aus dem Wurzelboden des
Lebens durch die Zweige strömt und neue Kräfte zuwachsen lässt.
Zum Beispiel die Kraft, selbst bei Gefahr für das eigene Leben eine
Krankheit zu studieren, medizinisch zu bekämpfen und schließlich
– vielleicht erst nach Generationen – zu besiegen.

Kehren wir zum Schluss noch einmal zu unseren Blättern auf
dem Zweig über der Wiese zurück. Auch sie haben eine Ahnung davon,
dass das Leben tiefer reicht:
„Ob es wahr ist“, meinte das erste,
„ob es wohl wahr ist, dass an unserer Stelle andere kommen, wenn wir fort
sind, und dann wieder andere und immer wieder …“
„Es ist sicher
wahr“, flüsterte das zweite, „man kann es gar nicht ausdenken
– es geht über unsere Begriffe.“

Das geht es freilich. Zugleich ensteht aber eine Ahnung für
den Kern der fremden Verse, die Paulus den Korinthern schreibt. Nicht
November-Trübsinn, sondern Freiheitssinn entsteht daraus. Und sei es nur,
weil es den Teufel so schön ärgert.

Wenn Lasten und Ängste von einem abfallen, dann wird er eben
auch frei für das, was dran ist. Wenn sie zu Boden gleiten und ein Wind
sie fasst, dann beginnen sie zu tanzen. Das ist wie ein Spottlied auf den
Teufel.

Amen

Ulrich Braun
Pastor in Meensen, Jühnde und Barlissen,
drei Dörfern im Kirchenkreis Münden.
eMail: Ulrich.F.Braun@t-online.de

Anhang und Materialien

Als Anhang an die Predigt stehen hier Materialien, die mir auf dem
Weg zur Predigt begegnet sind. Dass sie am Ende nur zum Teil oder gar keinen
Eingang in die Predigt gefunden haben, liegt in der Natur der Predigtarbeit.
Dass man den Materialien, die in den Papierkorb wandern, damit nicht immer
gerecht wird, liegt ebenso in der Natur der Sache. Vielleicht helfen sie auf
diesem Wege anderen zu anderen Ideen beim Nachdenken über „das
vergängliche Wesen dieser Welt“ und damit zu anderen Predigten.
Deshalb hier zum Weiterlesen:

I. Dialog zweier Blätter im Herbst

Von der großen Eiche am Wiesenrand fiel das Laub. Es fiel
von allen Bäumen. Ein Ast der Eiche stand hoch über den anderen
Zweigen und langte weit hinaus zur Wiese. An seinem äußersten Ende
saßen zwei Blätter zusammen.
„Es ist nicht mehr wie
früher“, sagte das eine Blatt.
„Nein“, erwiderte das
andere. „Heute nacht sind wieder so viele von uns davon – wir sind
beinahe schon die einzigen hier auf unserem Ast.“
„Man weiß
nicht, wen es trifft“, sagte das erste. „Als es noch warm war und die
Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele
von uns wurden damals schon weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man
weiß nicht, wen es trifft.“
„Jetzt scheint die Sonne nur
selten“, seufzte das zweite Blatt, „und wenn sie scheint, gibt sie
keine Kraft. Man müsste neue Kräfte haben.“
„Ob es wahr
ist“, meinte das erste, „ob es wohl wahr ist, dass an unserer Stelle
andere kommen, wenn wir fort sind, und dann wieder andere und immer wieder
…“
„Es ist sicher wahr“, flüsterte das zweite,
„man kann es gar nicht ausdenken – es geht über unsere
Begriffe.“
„Und man wird auch traurig davon“, fügte das
erste hinzu.
Sie schwiegen eine Zeit. Dann sagte das erste still vor sich
hin: „Warum wir wegmüssen?“
Das zweite fragte: „Was
geschieht mit uns, wenn wir abfallen?“
„Wir sinken
hinunter.“
„Was ist da unten?“
Das erste antwortete:
„Ich weiß es nicht. der eine sagt das, der andere sagt dies –
aber niemand weiß es.“
Das zweite fragte: „Ob man noch
etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten
ist?“
Das erste erwiderte: „Wer kann das sagen? Es ist noch
keines von denen, die hinunter sind, jemals zurück gekommen, um davon zu
erzählen.“
Wieder schwiegen sie. Dann redete das erste Blatt
zärtlich zum anderen: „Gräme dich nicht zu sehr, du zitterst
ja.“
„Lass nur“, antwortete das zweite, „Ich zittere
jetzt so leicht. Man fühlt sich eben nicht mehr so fest an seiner
Stelle.“
„Wir wollen nicht mehr von solchen Dingen
sprechen“, sagte das erste Blatt.
Das andere entgegnete: „Nein,
wir wollen es lassen – aber wovon wollen wir sonst sprechen?“ Es
schwieg und fuhr nach einer kurzen Weile fort: „Wer von uns beiden wohl
zuerst hinunter muss?“
„Damit hat’s noch Zeit“,
beschwichtigte das erste. „Erinnern wir uns lieber, wie schön es war,
wie wunderbar schön! Wenn die Sonne kam und uns so heiß brannte,
dass man zu schwellen glaubte vor Gesundheit. Weißt du noch? Und dann der
Tau in den Morgenstunden – und die linden, herrlichen Nächte!“

„Jetzt sind die Nächte furchtbar“, jammerte das zweite,
„und nehmen kein Ende!“
„Wir dürfen uns nicht
beklagen“, sagte das erste mild, „wir haben länger gelebt als
viele, viele andere.“
„Ich bin wohl sehr verändert?“
erkundigte sich das zweite Blatt schüchtern, aber dringend.

„Keine Spur“, beteuerte das erste, „du glaubst wohl, weil
ich so gelb und hässlich geworden bin. Nein, bei mir ist das etwas
anderes.“
„Ach, geh!“, wehrte das zweite ab.
„Nein,
wahrhaftig“, wiederholte das erste voller Eifer, „glaub mir doch! Du
bist so schön wie am ersten Tage. Hier und da vielleicht ein kleiner
gelber Streifen, kaum zu merken, und er macht dich nur noch schöner. Glaub
mir doch!“
„Ich danke dir,“, flüsterte das zweite Blatt
gerührt. „ich glaube dir nicht – nicht ganz – , aber ich danke
dir, weil du so gut bist – du bist immer so gut zu mir gewesen – ich
begreife es jetzt erst ganz, wie gut du warst.“
„Schweig
doch!“ sagte das erste und verstummte selbst, denn es konnte vor Kummer
nicht mehr reden.
Nun schwiegen sie beide. Die Stunden vergingen. Ein
nasser Wind strich kalt und feindselig durch die Baumwipfel.
„Ach
– jetzt …“, sagte das zweite Blatt, „ich …“ da brach
ihm die Stimme. Es ward sanft von seinem Platz gelöst und schwebte
hernieder. -–Nun war es Winter.

aus: Felix Salten, Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde

II. Zwei Filmszenen zum Stichwort: Denn das Wesen dieser Welt
vergeht

1 Ingmar Bergman, Licht im Winter, Spielfilm, Schweden 1958

Der Pastor eines schwedischen Dörfchens wird von einer Frau
um ein Gespräch gebeten. Nach dem Gottesdienst erscheint sie mit ihrem
Mann. Der Pastor – schwer erkältet und sichtlich angeschlagen –
bittet beide in die Sakristei.

Der Mann ist depressiv und offensichtlich kaum in der Lage dem
Gespräch zu folgen. Seine Frau, die gerade das dritte Kind erwartet,
führt die Unterhaltung. Auf die Frage des Pastors, seit wann ihr Mann in
diesem Zustand sei, erzählt die Frau, alles habe im Frühjahr
begonnen. Damals habe ihr Mann einen Zeitungsartikel gelesen, in dem davon
berichtet wurde, dass die Chinesen seit Generationen zum Hass erzogen
würden, dass es zudem wohl nur eine Frage der Zeit sei, bis auch sie
Atomwaffen besitzen würden. Na, und da sie ja nichts zu verlieren
hätten …

Der Pastor beteuert, er könne die Sorgen verstehen, und, dass
man auf Gott vertrauen müsse. Erstmals reagiert der Mann. Halb erstaunt,
halb erwartungsvoll blickt er den Pastor an. Doch dieser vermag dem Blick nicht
standzuhalten. Er schlägt die Augen nieder und schweigt. Zu sehr ist es
seine eigenen Traurigkeit und Verzweiflung, die sich im Gemütszustand des
Gegenübers spiegelt.

Ein weiteres Vier-Augen-Gespräch mit dem Mann vertieft nur
noch dessen Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens angesichts seiner
möglichen Vernichtung. Wenig später wird er erhängt aufgefunden.

2. Woody Allen zitiert Bergmans Szene in seinem Film „Der
Stadtneurotiker“, USA 1979, und wendet sie ins Absurd-komische

Woody Allen erzählt als Hauptdarsteller aus seinem Leben. Im
Sinne der klassischen Psychoanalyse führen Rückblenden durch
verschiedenen Schlüsselszenen des Lebens. Eine der Rückblenden
führt in die in die Praxis eines Arztes, vielleicht eines Psychiaters. Die
Mutter hat ihren Sohn – klein rothaarig und spätestens an der Brille
als Woody Allen zu erkennen – dorthin gebracht, weil der Junge so
apathisch ist.

„Na, nun sag dem Doktor schon was los ist!“ sagt sie
unaufhörlich ihre Handtasche im Schoß zerknetend. Und zum Arzt:
„Er hat nämlich was gelesen!“

Mit leerem Blick sagt der Junge: „Das Universum
expandiert“ und, dass es eben immer weiter expandiere, bis es einst wieder
in sich zusammenfallen werde. Dann sei alles aus und damit der Sinn und Zweck
von allem, einschließlich der Hausaufgaben, mehr als nur in Frage
gestellt.

„Aber das geht dich doch gar nichts an!“ schimpft die
Mutter und begründet dies damit, dass Brooklyn, wo sie wohnen,
schließlich nicht expandiere. Sichtlich über so viel Pragmatismus im
Umgang mit unübersichtlichen Problemlagen erfreut, pflichtet der Arzt der
Mutter bei. Brooklyn werde auch in Millionen Jahren nicht expandieren,
fügt er an und erklärt es zur Aufgabe des Lebens, sich daran so lange
es eben gehe zu freuen.

III. Zur Beherzigung

von Robert Gernhardt

Man soll nicht hängen
sein Herz an Dinge,
an Tiere
nicht
und nicht an Menschen.
Durch die Zeit sinken sie
wie Steine
durchs Wasser.
Weh dem, der sich ihnen
verbunden.

Das Herz ist ein Falke.
Je freier, je höher

reißt es empor
aus dem Strudel der Zeiten,
was es ergreift,

ob Ding oder Wesen.
Wohl dir, wenn dich eines
mitreißt.

IV. Choral: Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn

Johann Sebastian Bach, Die Johannes-Passion (Nr. 22)

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn,
muss uns die Freiheit
kommen.
Dein Kerker ist der Gnadenthron,
die Freistatt aller Frommen.

Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,
müsst unsre
Knechtschaft ewig sein.

de_DEDeutsch