1. Samuel 2,1-10

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1. Samuel 2,1-10

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Ostersonntag
23.4.2000
1. Samuel 2,1-10


Klaus Schwarzwäller


Bemerkungen zum
Predigttext

Liebe Gemeinde!

Die unfruchtbare Hanna hat auf ihr Gebet hin doch
noch einen Sohn bekommen. Dieses Glück führt sie zum Tempel, wo sie
Gott anbetet und ihm dankt. Sie tut es mit den Worten eines Psalms. Dieser
Psalm aber greift weit über den Anlaß hinaus. Es ist, als hätte
er mit ihm nur beiläufig zu tun; es geht in ihm um viel viel mehr,
nämlich um Gottes Handeln überhaupt. Und Gottes Handeln hat eine
Linie:

Gott tut das Unerwartete. Er tut Wunder.

„Wunder“ – das bloße Wort
klingt uns zwiespältig. Denn niemand, der nicht irgendwann ein Wunder
gewünscht, ja herbeigesehnt hätte. Doch kaum jemand, der mit einem
Wunder rechnet. „Wunder“? Allenfalls gibt’s Zufälle oder
Unerklärliches oder auch Tricks. Wer an Wunder glaubt, gilt als
einfältig. Obgleich… – Insgesamt liegt Wunderglaube uns fern. Um so
größer dann die Sensation, wenn etwas geschieht, das wie ein Wunder
aussieht oder nur ein Wunder sein kann. Das gibt dann Schlagzeilen; heimliche
Wünsche keimen auf – auch Enttäuschung breitet sich aus:
„Das passiert mir ja doch nie!“ Wenn es denn
tatsächlich ein Wunder war.

Ich stelle mir Hanna unter uns Heutigen vor, wie
sie das Wunder preist, daß sie doch noch ein Kind empfangen und
gebären konnte: Und wie wir mit etwas verlegenen Gesichtern zuhören,
etwas betreten sind wegen ihrer unmittelbaren Frömmigkeit oder aber ihr
rundheraus erklären, daß das, was sie für ein Wunder halte, in
Wahrheit nur die Folge sei einer Korrektur im Hormonhaushalt oder eines
verborgenen psychosomatischen Vorgangs. Kurz, wir wären vermutlich
überzeugt und würden es Hanna wissen lassen, daß es hier ganz
natürliche Ursachen gibt und daß man für dieses Geschehen nicht
eigens den lieben Gott zu bemühen brauche. Und überhaupt, daß
das heute längst zu einer rein medizinischen Angelegenheit geworden sei.

Und ich stelle mir uns Heutige vor Hanna vor, der
Hanna, die diesen Psalm betete: Wie sie sich mit der Hand vor die Stirn
schlägt: „Wie können Leute so stumpf und vernagelt sein! Ist
euch denn jeder Sinn für das abhanden gekommen, was nicht auf der Ebene
von Technik und Berechnung liegt?“ Und wie sie uns, wenn wir protestieren:
„Ja, Moment mal…“, zurückweist, ja regelrecht abbürstet:

„Haltet die Klappe! Ihr wißt doch gar
nicht, was Leben ist. Ihr kennt die Welt doch gar nicht. Ihr habt doch keine
Ahnung von dem, was tatsächlich spielt, was die Wirklichkeit ausmacht.
– Laßt mich ausreden! – Ihr meint, ihr wüßtet
Bescheid, ihr wärt den Sachen auf der Spur, wenn ihr Zusammenhänge
von Ursachen und Wirkungen zeigen oder selber herstellen könnt und
für alles eine einleuchtende Erklärung habt. Wie dumm ihr seid! Ihr
habt nicht nur keine Ahnung, ihr seid auch noch platt und zum Erbarmen
oberflächlich! Kriegt ihr überhaupt etwas mit?“ Ich stelle mir
vor, wie sie über unser Kopfschütteln oder unseren Protest hinweg
fortführe:

„Ist euch nie etwas aufgefallen? Ihr habt
doch das Sprichwort: ‚Erstens kommt es anders, zweitens als man
denkt‘ – ist euch denn nie die Frage gekommen, wieso eigentlich? Ach
so: Zufall oder ungenügende Technik oder zuwenig genaues Wissen. Daß
ihr euch damit nicht vor euch selber blöde vorkommt! Denn wenn ihr
Berechnung und Technik und genaues Wissen hattet und habt und alles lief, wie
geplant: Habt ihr nie mitbekommen, daß auch dann immer wieder anderes
herauskam, als ihr wolltet oder dachtet oder überhaupt vermutetet? Und
dann rettet ihr euch mit Phrasen wie: ‚Das ist halt so‘ oder:
‚Das konnte man nicht wissen‘ und dergleichen. Als ob es nur darum
ginge, daß man noch besser planen und noch mehr Detailkenntnis haben
müßte. Ja merkt ihr denn gar nicht, daß ihr damit lediglich
unendliche Geschichten konstruiert und in Wirklichkeit auf der Stelle
tretet?“ Und ich stelle mir vor, wie sie uns einen kleinen Augenblick uns
selbst überließe, unserem Befremden, unserem Ärger oder auch
unserer Neugier, ehe sie dann richtig in Fahrt käme:

„Ich will euch mal was sagen! Unseren Planten
hat Gott geschaffen, und wenn er ihn nicht wollte, wäre er erst gar nicht
entstanden oder hätten wir auf ihm keine Lebensmöglichkeit. So. Nun
will er ihn und will uns und daß wir leben. Daß wir leben als seine
Geschöpfe, als Menschen. Und damit wir leben und damit wir Menschen
bleiben, zieht Gott immer wieder seine Linien quer durch alles, was wir planen
und tun:

Gott tut das Unerwartete. Er tut Wunder.

Seht hier meinen Sohn: Ich habe ihn ausgetragen
und geboren. Wißt ihr, was das ist? Heute, bei euch, wäre ich vom
Labor zur Klinik und von der Leihmuttervermittlungsagentur zum
Klonungsspezialisten hin und her gelaufen, wäre Versuchskaninchen und
Zellenlieferantin geworden. Und am Ende wäre dann vielleicht ein Kind
dabei herausgekommen als ein technisches Produkt mit geplantem Geschlecht und
im voraus festgelegter Haarfarbe – begreift ihr’s? Merkt ihr’s?
Wenn Gott keine Wunder tut, dann sinken wir ab in die Armut bloßer
technischer Vorgänge, in die Knechtschaft von Industrie und Produktion, in
die Brutalität des Marktes.

Nun aber hat Gott das Unerwartete getan, hat ein
Wunder gewirkt. Denn ihm gehöre ich und die Erde und alles, was sie
ausmacht, und er verfügt über alles und richtet es nach seinem
Wohlgefallen. Ihr tut mir leid! Ihr richtet euch nach Berechnung und Plan und
Wissenschaft und Machbarkeit und seid damit euch selbst ausgeliefert und dem
Belieben von Deppen, die aber Macht haben. Ich jedoch vertraue Gott und
gründe in ihm und preise ihn: Er hat die Erde bereitet und ist heilig, er
und er allein, und er hat mein Leben umgewendet. Mit euch möchte ich nicht
tauschen!“

Ich stelle mir vor, wie sie dann den Psalm
vornehmen und ihn uns Zeile um Zeile ausbreiten würde: Wie Gottes Wunder
Mut und Kraft gibt, zu stehen, ja den Mund aufzutun vor feindlich gesonnenen
Menschen. Wie Gottes Wunder mit Freude erfüllt – auch mit der Freude,
die daraus erwächst zu wissen, zu spüren: Ich habe einen Grund, und
der trägt. Wie Gott im Leben rundherum sich als heilvoll und
zuverlässig erweist, auch wenn er immer wieder alle unsere Geduld
herausfordert. Wie man sicher sein kann: Worte und Taten und insbesondere
böse Worte und Untaten aller Menschen werden von Gott gewogen. Wir
mögen sie vergessen und uns von ihnen distanzieren: Wir werden, bald oder
einst, vor Gott zu ihnen stehen müssen.

Wie sie dann insbesondere ausmalen würde:
Gott tut das Unerwartete. Er tut Wunder. Und das nicht im Sinne von Sensation,
Mirakel oder Ereignissen, wo wir kopfschüttelnd sagen:
„Donnerwetter!“ oder: „Das gibt’s doch nicht!“ Sondern
so, daß er immer wieder die Zusammenhänge umpflügt, die
Strukturen aufbricht und Menschen in unerwartete Positionen bringt:
Mächtigen gehen die Machtmittel kaputt, Schwache erweisen sich als
machtvoll; Satte und Reiche müssen ums Elementare kämpfen, zu kurz
Gekommenen wird Genugtuung und Ausgleich zuteil; vom Leben und von der Biologie
Benachteiligte finden Erfüllung und Ehre, Vitale und Strotzende trifft es
unversehens, und sie siechen; Menschen, die in den Staub getreten wurden,
finden sich über Nacht mit Rang und Würde bekleidet oder in
verantwortlicher Position. Kurzum, was eingelebt ist, wirbelt Gott auf und
kehrt immer wieder die Verhältnisse um.

Ich stelle mir uns dabei vor, wie wir irgendwann
nicht mehr an uns halten können und ihr Bedenken entgegenhalten, ihr mit
Nachdruck widersprechen, ihr unsere gegenteiligen Erfahrungen einwenden. Wie
wir dabei fürchten – und in einem Winkel des Herzens zugleich hoffen
– , ihre großen Worte möchten darüber schrumpfen, sich
womöglich als bloße Worte erweisen. Und ich sehe in manchem
Auge ein Leuchten: „Jetzt haben wir sie in die Enge getrieben!“
Läßt sie sich in die Enge treiben?

Keineswegs. Sie zieht diese Linie vielmehr weiter
aus – zieht sie aus ins Ungeheuerliche: „Der Herr tötet und
macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf.“ Bereits
das kommt unerwartet: daß Gott es ist, der da tötet, daß er es
ist, der wieder und wieder ins Totenreich hinabschleudert, daß, kurzum,
er nicht der liebe Gott ist, sondern der heilige Herr, der über uns, der
über seine Kreaturen, der über die ganze Schöpfung verfügt,
und zwar nicht nach unseren Normen oder Erwartungen, sondern nach seinem
Wohlgefallen, und das mag für uns auch hart und bitter sein. Ja, auch das
gehört hinein in sein ständiges Umpflügen der Gegebenheiten: Er
tötet, er schleudert in die Hölle. Und auch das in sein
ständiges Aufwirbeln des Bestehenden: Er entnimmt dem Tode, er errettet
aus ihm, verleiht Leben, schenkt neues Leben, läßt aus den
Höllen entrinnen, öffnet im Todesreich Tore. Beides! Also da, wo
unser Vermögen und unser Weltbild enden und wo wir nur mehr unsicheres
Licht oder aber letztes Grauen erkennen, auch da sind wir in der Hand Gottes,
ist er am Werk, pflügt er um, wirbelt er auf und tut das Unerwartete, tut
Wunder.

Die Todesgrenze ist unsere Grenze, aber
nicht die Gottes. Gott umgreift sie.

Darum sind unsere bitteren und bedrückenden
Erfahrungen kein Einwand, daß immer und immer wieder Gute, Fromme, Edle,
Warmherzige und Redliche scheitern, ausgegrenzt oder ums Leben gebracht werden,
daß statt dessen Bosheit, Gottlosigkeit und Zynismus triumphieren. Hanna
weiß, und dafür steht sie mit ihrem Psalm: Zu seiner Zeit wird Gott
die Dinge zurechtrücken, wird er denen, die ihm vertrauen, sich als treu
erweisen, wird er die, die sich um ihn und seinen Willen den Teufel scheren, an
ihrer eigenen Teufelei ersticken lassen und sie zu Boden schleudern.

So weit Hanna mit ihrem Psalm. Und wir – ?

Wir feiern heute, daß Hannas Psalm von Gott
abschließend und buchstäblich wunderbar bestätigt und in Kraft
gesetzt worden ist:

»Der Höchste im Himmel…wird Macht
geben seinem Könige und erhöhen das Haupt seines Gesalbten.«

Denn Jesus Christus – „Christus“
meint „Gesalbter“, hebräisch „Messias“, und das ist
der Ehrentitel des Königs; also: Jesus Christus ist nicht im Tod
geblieben. Er ist vom Tode auferstanden. Alle, die an ihm ihren Mut
kühlten und ihre Macht bewiesen und ihn gemeinsam am Kreuz von Golgatha
beseitigten, wurden in der Osternacht vorgeführt. Gott hat unsere Welt so
tief umgepflügt und die Weltordnung so gründlich aufgewirbelt,
daß auch das Gewisseste zerborsten ist: der Tod. Jesus Christus hat die
Macht empfangen, den Tod zu überwinden: Aus dem alles abschneidenden Ende
wurde er zum Eingang ins Leben, in bleibendes, erfülltes Leben. Und Gott
hat das Haupt seines Gesalbten erhöht: Mit Ostern wurde der verspottete
und geschundene Prediger aus Nazareth als Gottessohn und als Herr über
alle Kreatur offenbar. Das kriegt niemand nicht mehr wegradiert. (Auch nicht
unter Ostereiern begraben.)

Wir feiern mit Ostern, daß wir allen Grund
haben, „fröhlich“ zu sein „in dem Herrn“; daß
Gott unser „Fels“ ist; daß er die, die oben sind, fallen
läßt und die Elenden und Schwachen und Verachteten erhöht;
daß er aus dem Tod ins Leben zurückführt; daß er
„behütet die Füße seiner Heiligen“ – selbst
durch den Tod hindurch. Wir feiern die Bestätigung und Gewißheit:

Gott tut das Unerwartete. Er tut Wunder. Denn:
„Erschienen ist der herrlich Tag, dran niemand gnug sich freuen mag:
Christ, unser Herr, heut triumphiert, sein Feind er all gefangen
führt.“

AMEN.

Bemerkungen zur
Predigt:

Der vorgegebene Predigttext gibt zu Bedenken
Anlaß. Einmal inhaltlicher Art: Ein Bezug auf Ostern besteht nicht. Man
kann nur vermuten – ich habe derzeit nicht die Mittel zur Hand,
möglicherweise zugrundeliegende alte Traditionen festzustellen – ,
daß Vers 6 eine gewisse Assoziation mit Ostern wachrief. Das aber kann
kein Grund für eine Textauswahl sein, und das umso weniger, als es an
Texten mit unmittelbarem Osterbezug nicht mangelt. Rätselhaft ist,
daß man den einzigen Vers in diesem Textzusammenhang, der sich zwanglos
auf Ostern deuten läßt, ausschied: Vers 10. Immerhin jedoch mag der
Rekurs auf einen alttestamentlichen Text Anlaß sein, sich den weiteren
Zusammenhang von Ostern in den Sinn zu rufen.

Zum anderen Bedenken im Blick auf die Textgestalt.
Aus der Liturgie sind wir gewohnt, daß Psalmen zersägt und die
Bruchstücke zu erbaulichen Kollagen verklebt werden. Dabei wird
sorgfältig alles getilgt, was anstößig klingt, also mit Salz
gewürzt ist und nicht lau. Damit aber wird die Fülle der Bibel und
mit dieser das Leben ausgesperrt und jene geläufige wohltemperierte
Mittellage erzeugt, die der Bibel, insbesondere den Psalmen, fremd ist. Die im
Vorschlag vorgenommene Verstümmelung des Lobgesangs der Hanna findet durch
den Text keine Legitimation, reduziert seine Fülle und bringt ihn um die
Krönung durch die beiden letzten Verse.

Und Bedenken schließlich im Blick auf den
Umgang mit der Bibel. In diesem Zersägen und Herausbrechen und
Zuammenstückeln und willkürlichen Eingrenzen werfen sich die Urheber
faktisch zu Herren der Schrift auf, die immerhin der Kanon der Kirche ist. Sie
machen die Schrift ad hoc herangetragenen Vorstellungen und Zielen dienstbar.
Diese mögen wohl begründet und unmittelbar verständlich sein;
mit einem derartigen, objektiv willkürlichen Verfahren bemeistert man sich
der Schrift. Von den Reformatoren sollten wir exakt das Gegenteil gelernt und
es darum eingeübt haben, die Schrift gerade auch dort ausreden zu lassen,
wo uns das – warum auch immer – stört.

Kurz, die Schrift wird in diesem Umgang mit dem
Text nicht ernst genommen. Das ist inakzeptabel; hiergegen ist Verwahrung
einzulegen. Ich folge dem Vorschlag in der Weise, daß ich für die
vorstehende Predigt den ganzen Lobgesang der Hanna als Text nehme.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net

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