1. Timotheus 1, 12-17

1. Timotheus 1, 12-17

 

Göttinger
Predigten im Internet,
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 3. S. nach Trinitatis
Datum: 28.6.1998
Text: 1. Timotheus 1, 12-17
Verfasser: Prof. Dr. Michael
Beintker

zur zweiten Predigt für den 28.6.


Predigttext:

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark
gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich
früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir
ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und
der Liebe, die in Christus Jesus ist. Das ist gewißlich wahr und ein Wort,
des Glaubens wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder
selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir
Barmherzigkeit widerfahren, daß Christus Jesus an mir als erstem alle
Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der
allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde!

Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um die Sünder
zu retten. Das ist der Hauptsatz dieses Textes, sein Licht, seine Mitte, in der
sich alle seine anderen Sätze treffen, von der sie herkommen und zu der sie
wieder hinlaufen: Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu
retten! Ohne ihn wären die Sünder, wäre die Welt rettungslos
verloren. Aber mit ihm und durch ihn empfangen sie die Zukunft und das Leben.

Wir können uns das nicht oft genug sagen lassen. Wir
singen es zwar, wenn wir in weihnachtlichem Ergriffensein das „Stille
Nacht, heilige Nacht …“ angestimmt haben: „… durch der Engel
Halleluja / tönt es laut von fern und nah: / Christ, der Retter ist da, /
Christ, der Retter, ist da!“ Und wir bekräftigen es auch mit dem
Osterlied: „Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen“.
Aber lassen wir ihn tatsächlich denjenigen sein, als den wir ihn besingen:
den Retter, der uns aus unserer großen Not befreit? „Denn das ist
gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort“, so wird der Satz vom
Retter der Welt und der Sünder eingeleitet. Luthers unübertroffene Übersetzung
will den Satz gegen jeden Zweifel abschirmen und seine – verbürgte –
Kostbarkeit herausstellen. Das teuer werte Wort vom Retter sei ihm „öfter
Leben und Heil gewesen“. Paulus rede in großer Gewißheit: „Ach,
wer so reden könnte“, entfährt es dem Reformator in einer
Vorlesung zu unserem Text (Luthers Epistel-Auslegung, Bd. 5, 1983, 40). Und
Calvin vergleicht das den Zweifel auflösende „Das ist gewißlich
wahr“ mit einem „hellen Trompetenstoß, der Christi Gnade laut
verkündet und in unsere Herzen ruft“ (Johannes Calvins Auslegung der
Heiligen Schrift, hg. v. K. Müller, Bd. 13, 414). Es möchte „wie
ein Siegel sein, welches den zuversichtlichen Glauben an die Vergebung der Sünden,
welcher den Menschen so schwer eingeht, in unsere Gemüter prägt“
(ebd.).

Wir können es uns nicht oft genug sagen lassen, wozu
Jesus Christus gekommen ist. Denn die Zusicherung, daß er – nur er
– dein, mein und unser aller Heil sei, wird vielfältig verstellt; sie ist
ebenso kostbar wie sie unsere ganze Aufmerksamkeit fordert. Verstellt wird sie
einmal dadurch, daß wir ihn nicht den Retter der Welt und der Sünder
sein lassen, sondern ihn in seinem Wirken an uns einschränken – auf ein
wenig Andacht oder ein wenig Ethik, auf ein wenig Leitbild oder ein wenig
Erinnerung an die Vision gerechterer Verhältnisse. Aber ist Jesus Christus
in die Welt gekommen, um uns mit alternativer Moral oder mit alternativen
Lebensmaximen oder mit mancherlei klugen Empfehlungen auszurüsten? Für
solche und ähnliche Bemühungen finden sich in dieser Welt doch
Avantgardisten genug. Vordenker, Nachdenker und Querdenker füllen mit ihren
Konzepten und Rezepten ja ganze Bibliotheken. Wir würden Jesus Christus
regelrecht verstecken, wenn wir ihn dort auch noch einsortieren würden.
Zwischen einem Retter und einem Lehrer besteht schon ein deutlicher Unterschied.
Ein Lehrer unterrichtet uns. Und wenn der Unterricht gut gewesen ist, haben wir
etwas Vernünftiges gelernt. Ein Retter aber packt zu. Er sieht einen
Menschen untergehen und entreißt ihn – unter Einsatz seines Lebens – dem
Strudel, der diesen Menschen in die Tiefe zieht. Natürlich kann auch ein
Lehrer zum Retter, ein Retter zum Lehrer werden. So lehrt Jesus Christus
auch etwas. Aber ehe er lehrt, holt er uns aus dem Elend, in dem wir existieren,
befreit er uns aus der Not, in die wir geraten sind.

„In welche Not sind wir denn geraten?“, könnten
wir an dieser Stelle erstaunt zurückfragen. Damit stoßen wir auf eine
zweite Möglichkeit der Verunsicherung. So wie wir ihn nicht den Retter der
Welt sein lassen können, können wir uns als nicht rettungsbedürftig
auffassen, also als Menschen mißverstehen, die es anscheinend nicht nötig
haben, von ihm errettet zu werden, und die Vergebung nicht brauchen.

Gerettet werden die Sünder – Menschen also,
deren Leben verpfuscht und verwirkt ist. Wir denken an die Zöllner Levi und
Zachäus, wir denken an Maria Magdalena und die Ehebrecherin, Menschen von
zweifelhaftem Ruf, denen Jesus durch die Vergebung einen neuen Anfang schenkt.
Uns fällt der verlorene Sohn ein, der zweifelsfrei ein großer Sünder
und Prasser gewesen sein muß, oder der Schächer am Kreuz, dem sich
noch in der Todesstunde die Tür zum Paradies öffnet. Und natürlich
werden wir ganz besonders an Paulus denken, der sich nach der diesem Text
zugrundeliegenden Überlieferung selber als den größten Sünder
überhaupt charakterisiert, weil er gegen das Evangelium gekämpft und
die Anhänger des Evangeliums mit Haß und fanatischer Rechtgläubigkeit
verfolgt hatte – bis sich ihm Christus in den Weg stellte und ihm die Augen für
die Kraft der Barmherzigkeit Gottes öffnete.

Gerettet werden also Menschen, die wie Levi, Zachäus,
Maria Magdalena, der Schächer oder gar der Apostel Paulus so von ihrer
Schuld erdrückt werden, daß sie nur noch rufen können: „Herr,
sei mir Sünder gnädig!“ Niemand kann so verloren sein, daß
er von Jesus Christus nicht erlöst werden könnte, daß er vom
Erbarmen Gottes gleichsam ausgesperrt bleiben müßte. Andererseits
gilt: Wir würden uns selber vom Erbarmen Gottes ausschließen, wenn
wir darauf verzichteten, uns zu den Sündern zu stellen und unsere
eigentliche Not – die Gefangenschaft in der Gottvergessenheit – erkennen zu
wollen.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir das nicht
einfach können. „Wo ist die Gemeinde für diesen Text?“, könnte
man ironisch mit Luther fragen. Sind wir doch alle ganz passable, rechtschaffene
Leute, einigermaßen belehrt und orientiert, um nicht auf die schiefe Bahn
zu geraten. Sünde klagen wir an, wenn wir die Kluft zwischen Reich und Arm
anprangern (sind wir etwa reich?), wenn wir die Schrecken der Nazi-Diktatur
brandmarken (sind wir etwa Nazis?), wenn wir uns über den Unverstand der
Politik entrüsten (sind wir denn Politiker?) oder uns über die
Ellenbogengesellschaft empören (unsere Ellenbogen benutzen wir
offensichtlich überhaupt nicht). „So sind sie alle Heilige. Wo sollen
wir die Sünder hernehmen? … Was sollen wir also machen, wenn wir einen so
schönen Text predigen und kein Hörer da ist, keiner ohne Ausnahme von
oben an bis unten aus?“ fragt Luther spöttisch (aaO., 112).

Natürlich sind wir die Gemeinde von Sündern (und
selbstverständlich Sünderinnen), denen dieses Wort der Rettung
zugerufen wird. Wir müßten bloß entdecken, daß wir unsere
eigenen Sünden verstecken, indem wir lautstark gegen die Sünden
anderer mobil machen und aus dem Fenster herauspredigen. Worin bestanden denn
die Sünden des Apostels, auf die in diesem Text zurückgeblickt wird?
Er nennt sich einen Lästerer, Verfolger und Frevler und war doch eigentlich
ein ganz untadeliger Mensch, von tiefster Sehnsucht nach der Erfüllung der
Gebote Gottes beseelt – ein Gegner der Unverbindlichkeit und der billigen Tröstungen.
Genau das aber disponierte ihn zum Feind des Evangeliums, der bedingungslosen
Zusage der Vergebung Gottes. Wir sollten uns den gesetzestreuen Saulus als einen
unbeirrbaren Eiferer für seine gute Sache vorstellen, erfüllt vom Zorn
über die Treulosigkeit und das Unrecht, angewidert von der Sündenverliebtheit
seiner Zeitgenossen. „Aber niemals waren wir schlechter, als da wir die
Besten waren. Paulus verfolgte die Christen nicht nach der Art eines Straßenräubers,
sondern er war ein Zelot (ein Eiferer). Folglich tat er es gleichsam als höchste
Pflichterfüllung.“ (Luther, aaO., 35)

„… ich habe es unwissend getan, im Unglauben“,
heißt es im Predigttext. In der Tat: Man würde das Falsche nicht aus Überzeugung
tun, wenn man es als das Falsche durchschaut hätte. Und man würde
das Evanglium nicht feindselig von sich stoßen, wenn man der Kraft der
Vergebung das erste und das letzte Wort überließe. Man hätte das
Vertrauen gefaßt, daß Gottes Liebe mehr erreicht als Gottes
Forderung. Das Gegenteil solchen Vertrauens ist der Unglaube, den der Text als
Wurzel allen Übels durchschaut – Unglaube als Skepsis gegenüber Gottes
Freundlichkeit zu den Sündern, als Angst vor der Gnade Gottes, als Verärgerung
darüber, daß es so einfach sein soll, mit Gott ins Reine zu kommen.
Unglaube besteht nicht im Mangel an Glaubenswissen und Bekenntnissicherheit,
sondern im Mangel an Vertrauen in Gottes Erbarmen mit den Sünderinnen und Sündern.
Unglaube zeigt sich als Mißtrauen gegenüber der Großzügigkeit
und Geduld Gottes – abgrundtiefes und deshalb Abgründe schaffendes und in
Abgründe stürzendes Mißtrauen gegenüber der schöpferischen
Kraft der Liebe Jesu Christi.

Aber Christus wählt seltsame Wege, um das Mißtrauen
zu überwinden. Ausgerechnet ihn – den dezidierten Eiferer – verwandelt er
in den markantesten Zeugen für die Rettung der Sünder. Er, der die
Kraft der Gnade am heftigsten anzweifelte, kann nun immer wieder nur ausrufen,
daß ihm Barmherzigkeit widerfahren sei. Er, der so stolz auf seine
untadelige Lebensführung gewesen war, nimmt sich jetzt als „der erste
unter allen Sündern“ wahr.

Damit fängt die Errettung an, daß wir uns die
Augen über unseren Zustand öffnen lassen und nach Christus greifen. Es
bedarf keines Wettbewerbs, wer der größte unter allen Sündern
sei – gewiß ist der Apostel an dieser Stelle durchaus von vielen übertroffen
worden. Aber jeder und jede von uns ist auf seine und ihre Weise vor Christus
der größte Sünder bzw. die größte Sünderin. Denn
wenn wir so vor ihm stehen, wie der Text den Apostel vor Christus rückte,
dann werden die vielen Sünden um uns herum bedeutungslos, dann lassen wir
das Vergleichen und das Richten, dann erschrecken wir nur über uns und
unser Mißtrauen: unsere Selbstgerechtigkeit, unsere Herzenshärte.
Aber in dem Maße, wie uns das Gewicht der eigenen Schuldverfallenheit vor
Augen steht, schmecken wir erst recht die Kraft der Vergebung. Das Ja, das wir
empfangen, übertrifft und überstrahlt das Nein, das wir verdienen.
Denn das Nein traf Christus am Kreuz, damit das Ja Gottes zu uns uneingeschränkt
Geltung erlange. Dieses Ja ist um so stärker, je kräftiger das Nein über
unsere Sünde ausfällt. Deshalb ist der größte Sünder
tatsächlich der geliebteste Mensch. Deshalb verlieren wir nichts, wenn wir
unsere Sünden erkennen. Wir gewinnen vielmehr alles, was ein Mensch in
diesem irdischen Leben gewinnen kann: die rettende Liebe Jesu Christi, in der
das Erbarmen Gottes in unser Dasein eindringt. Sie löst uns aus dem Bann
der Schuld und verwurzelt uns in seinem Auferstehungsleben. Amen.

Anmerkungen:

Kann man es in einer durchschnittlichen Sonntagspredigt noch
wagen, unmißverständlich von „Sünde“ zu sprechen –
nicht, um sich moralisch aufzurüsten, sondern um den Zugang zum Evangelium
dieses anspruchsvollen Textes zu finden? Die zentrale Aussage des Textes
(Vers 15) besagt ja, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder
zu retten (im Griechischen heißt es eindeutig „retten“ statt des
schwer verständlich gewordenen „selig machen“). Die folgende
Predigt konzentriert sich vor allem auf die Auslegung dieser Aussage, die mit
Recht zu den fettgedruckten Versen im Neuen Testament gehört. Mir scheint,
daß man keine Angst vor hermeneutischen Blockaden zu haben braucht und der
Gemeinde solche Grundaussagen wieder zumuten darf. Man hat auch kaum eine
Alternative. Der Text selber, der aus der Schule des Paulus stammt und die
befreiende Macht der Barmherzigkeit an der großen Wende im Leben des
Apostels exemplifiziert, nötigt einen unmittelbar zur Besinnung auf solche
Grundaussagen.

Die, vielleicht zu intensiv benutzten, Auslegungen Luthers
und Calvins können das Problembewußtsein schärfen. Sehr
hilfreich wurde mir auch die reiche Meditiation von Konrad Fischer in GPM 52,
1998, Heft 3, S. 330-339.

Prof. Dr. Michael Beintker <beintke@uni-muenster.de>

 

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