2. Könige 25, 8-12

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2. Könige 25, 8-12

 


10.
Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 4. August 2002
Predigt über 2. Könige 25, 8-12, verfaßt von Paul Kluge

8 Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr
Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam Nebusaradan, der Oberste
der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von Babel nach Jerusalem
9 und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle
Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er
mit Feuer.
10 Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache
unterstand, riß die Mauern Jerusalems nieder.
11 Das Volk aber, das übrig war in der Stadt, und die zum König
von Babel abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten,
führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg;
12 aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute
zurück. Amen

Wenn auch Tempel einstürzen, Kulttempel, Kulturtempel, Konsumtempel:
Der Bauer bestellt weiterhin seinen Acker, der Weingärtner seinen
Weinberg. Denn auch bei neuen Herren kommt – wie bei den alten – erst
das Fressen und dann die Moral. Glaube, Hoffnung und Liebe aber leben
auch ohne Priester und Tempel in den Herzen der kleinen Leute.

Liebe Geschwister,

aus manchen Texten der Bibel erfahren wir einiges über diejenigen,
die nach Babylon in die Gefangenschaft verschleppt wurden. Wie aber mag
es denen ergangen sein, die in Jerusalem blieben, den kleinen Leuten,
den Randfiguren der Geschichte? Dieser Frage möchte ich heute nachgehen:

Trauer machte sich breit unter den Dagebliebenen, Trauer über die
Zerstörung des Tempels, Trauer über die Zerstörung von
Häusern und Straßen, Trauer aber vor allem über die Getöteten.
Bekannte Persönlichkeiten der Stadt waren zu beklagen, auch Nachbarn
und Freunde, vor allem aber Familienangehörige. Männer, Väter
und Söhne, die im Kampf gefallen waren; Frauen, Kinder und Alte,
die dem Kampf zum Opfer gefallen waren. Die dagebliebenen Überlebenden
bestatteten die Toten, auch die toten Feinde. Dann räumten sie auf
in der Stadt, beseitigten Schutt, klopften Steine, fanden manches Brauchbare
unter den Trümmern. Die leerstehenden Häuser verschlossen sie,
damit die Vertrieben das Ihre vorfänden, wenn sie zurückkamen.

Immer wieder aber ergab es sich, daß die Dagebliebenen nicht wußten,
was sie tun sollten. Keiner sagte es ihnen, denn die das Sagen hatten,
waren alle weggeführt worden. Wenn auch mancher dem einen oder anderen
der Entführten sein Schicksal gönnte, darin eine gerechte Strafe
für begangene Ungerechtigkeit sah: Sie fühlten sich doch manches
mal allein gelassen und ratlos. Denn sie hatten niemanden, bei dem sie
sich als Tagelöhner verdingen konnten, keinen, der den in Not geratenen
mit Almosen half. Die Sorge um das tägliche Brot wuchs und bestimmte
mehr und mehr ihren Alltag.

Sie hielten und feierten den Sabbat nach alter Gewohnheit und so gut
sie konnten, gingen auch gelegentlich zum Tempelberg und klagte Jahwe
ihr Leid. Haderten mit ihm, weil sie sich von ihm verlassen fühlten.
Zweifelten an ihm, weil sein Tempel zerstört war, und weil er das
Unglück nicht verhindert hatte. Manche hatten die Mahnungen Jesajas
gehört, andere Jeremias noch deutlichere Warnungen. Doch das hatten
sie nie auf sich bezogen, sondern immer auf die Verantwortlichen in Politik
und Wirtschaft. Vom Verbleib Jesajas wußte niemand etwas, doch Jeremia
war mit den Verbannten gezogen, freiwillig, fast gegen den Willen der
Siegermacht. Manche verstanden das nicht, andere bedauerten das und hätten
ihn gern als Tröster, auch als Ratgeber in der zerstörten Stadt
gehabt.

Die Babylonier hatten unter dem Kommando eines Gedalja einige Offiziere
und ein kleines Heer Soldaten zurückgelassen. Sie hatten vor allem
die Aufgabe, die entstandenen Kriegskosten aus dem besiegten Land herauszuholen
und möglichst noch etwas mehr. Gedalja erwies sich als umgänglich
und menschlich, sie legten bald ihre Angst vor Besatzerwillkür ab
und richteten sich nach den neuen Herren. Ein Herr war gegangen, ein anderer
gekommen, für die kleinen Leute geriet die Welt wieder ein wenig
ins Gleichgewicht. Sie bekamen wieder gesagt, was sie zu tun hatten, und
das taten sie.

Und doch: Irgendwie war alles anders. Wenn kein Priester, kein Levit
den Gottesdienst hielt – wie sollten sie ihrem Gott opfern, wie sein Wort
hören – und vor allem: Wo sollten sie das tun, wo doch der Tempel
zerstört war. Hatte Gott sich vollends von ihnen abgewandt, daß
sie nicht mehr zu ihm kommen konnten? Was hatten sie, die kleinen Leute,
denn Böses getan, daß er sie so sehr strafte! Und was konnten
sie tun, um ihn wieder zu versöhnen? Vor jedem Fest, vor jedem Opfertag,
vor jedem Sabbat stellten Menschen sich und anderen diese Fragen.

Die Babylonier konnten diese Fragen nicht beantworten und nicht sagen,
was hier zu tun war. So fragten sie schließlich die wenigen Alten,
die noch in der Stadt waren. Die zuckten zunächst auch nur mit den
Schultern, mit solchen Fragen hatten sie sich nie befaßt. Dafür
hatte es Priester gegeben, die das gelernt hatten. Doch als Älteste
mußten sie sich den Fragen stellen und Antworten finden. Das war
alter Brauch und gute Sitte. Über reichlich Lebens- und Glaubenserfahrung
verfügten sie ja, und so sahen sie es ein: Sie mußten dafür
sorgen, daß auch die Enkel Gott, wie sie ihn fanden, fänden.

Lesen konnten sie nicht, doch sie kannten viele Geschichten: Von der
Erschaffung der Welt, von Adam und Eva, von Kain und Abel, von Abraham,
Isaak und Jakob, Geschichten über Joseph und seine Brüder, über
Mose, Josua und die Richter, über David und Salomo und manche anderen.
Diese Geschichten wollten sie weitererzählen und damit zeigen, wie
Gott sein Volk durch alle Zeiten und deren Wirrnisse geführt und
bewahrt hatte. Und Lieder kannten sie, Trostlieder, Hoffnungslieder, Mutmachlieder,
auch Klagelieder und Bußlieder. Die wollten sie mit ihren alten,
rostigen Stimmen singen.

Lieder und Geschichten, das wußten sie aus eigener und langer Erfahrung,
bleiben besser im Gedächtnis als manches, was die Priester und Propheten
an klugen Gedanken gesagt hatten. Die hatten sie oft schon beim „Amen“
vergessen. Die Lieder aber und Geschichten ihrer eigenen Kindheit kannten
sie immer noch, konnten sie singen und erzählen. Und das wollte sie
tun.

Weil sie nur wenige waren und nicht in jede Familie gehen konnten, suchten
und fanden sie eine leerstehende Halle, luden dorthin die Menschen, vor
allem die Kinder, ein. Doch auch die Erwachsenen kamen, kamen in immer
größerer Zahl. Denn sie merkten, welche Kraft, welche Ermutigung
und welcher Trost von diesen Geschichten und Liedern, aber auch von den
Alten selbst ausging. Niemand störte sich daran, daß die von
den Priestern festgelegte Ordnung gelegentlich durcheinander geriet; die
war Menschenwerk und also ohnehin veränderbar.

Eines Tages geschah etwas Besonderes: Einer der Alten hatte von der Landnahme
in Kanaa erzählt, von dem manchmal friedlichen, manchmal feindlichen
Verhältnis zu den Philistern und davon, wie das Volk Gottes sich
dort niedergelassen hatte, wo niemand wohnte. Da war ein junger Mann aufgestanden
und hatte gefragt, was eigentlich mit den brach liegenden Äckern
und Weingärten der Verschleppten geschehen solle. Schließlich
seien Getreide und Trauben reif zur Ernte, und die Menschen in der Stadt
litten Hunger. „Ist es erlaubt,“ hatte er gefragt, „das
Land zu nehmen und zu ernten, wo man nicht gesät hat?“

Der Alte blickte Hilfe suchend zu seinen Altersgenossen, doch die blickten
alle zum Fußboden. Ein allgemeines Gemurmel setzte ein, wurde allmählich
lauter. „Wir zahlen für den Krieg des Königs, da können
wir auch von seinen Feldern ernten,“ rief jemand laut dazwischen,
und „Wenn Land brach liegt, verkommt es,“ ein anderer. „Wir
wohnen in elenden Hütten, und die Häuser der Reichen stehen
leer!“ war ein Dritter zu hören und erntete Beifall. Dem Alten
wurde unwohl; er hatte nicht damit gerechnet, daß man die alten
Geschichten so beim Wort nehmen könnte. „Du sollst nicht stehlen,
heißt es im Gebot,“ rief er in die Menge. und jemand rief zurück:
„Wir stehlen nicht, wir halten in Stand. Wenn sie zurückkommen,
bekommen sie alles wieder.“ Wieder Beifall, und der Alte schwieg,
weil er nicht weiter wußte.

Ein anderer Alter stand auf, bezog sich auf die Landnahme unter Josua
und daß das Land dem Volk verheißen war, nicht einzelnen Menschen.
„Dies Land ist mein Land, hat Gott gesagt,“ rief er, „darum
sollt ihr es bebauen und bewahren. Und das wollen wir tun. Und auch die
Häuser wollen wir in Stand halten, und was zerstört ist, wieder
aufbauen. Denn wenn unsere Brüder zurückkommen, sollen sie zu
Hause sein können.“ – „Und wenn sie nicht wiederkommen,
ist es schade um die Häuser,“ ließ sich jemand vernehmen,
es war ein Viehhirt, und fuhr fort: „Seit Josuas Zeiten lebt meine
Familie in Zelten. Haben wir nicht auch ein Recht auf ein festes Haus,
das bei Regen trocken bleibt und bei Sturm nicht wegweht? Und wo steht
geschrieben, daß wir bei Kälte frieren müssen? Hat Gott
nicht Milch und Honig für alle versprochen? Ich such mir jetzt ein
Haus und zieh mit meiner Familie ein!“

Der Viehhirte ging, und nach ihm gingen fast alle, auch die Kinder. Sie
ahnten, das aufregende Veränderungen anstanden, Veränderungen,
die etwas mit den Geschichten und Liedern der Alten zu tun hatten. Die
Kinder wußten nicht genau, was es war, aber es würde für
sie gut sein. Das spürten sie.

Einige Alte blieben zurück, ein wenig verwirrt über das Geschehene,
aber nicht unzufrieden. „Hätten die Leute auf die Propheten
gehört, gäbe es bei uns keine Armut,“ meinte einer, und
ein anderer bestätigte: „Den Krieg mit Babylon hätte es
auch nicht gegeben und keine Verschleppung.“ – „Aber hinterher
ist man immer schlauer,“ stellte ein dritter fest, „laßt
uns gehen und aufpassen, daß es kein Hauen und Stechen gibt bei
denen da draußen. Sie sind erstens Menschen und zweitens Gläubige,
nicht umgekehrt.“ Doch draußen war alles ruhig, und bald lief
das Leben wieder in geordneten Bahnen. Die immer regiert worden waren,
regierten sich nun selbst. Soweit Babylon das zuließ, doch Babylon
war weit weg. Denn es fanden sich unter den kleinen Leuten welche, die
konnten, was sie zuvor hatten machen lassen. Und die Alten unterwiesen
die Kinder im Glauben, was die Kinder dann im Alter genau so machen würden.

Amen

Gebet:
Gott, es ist gut zu wissen, daß es nicht Häuser und Türme
sind und auch nicht die Schätze aus Kult-, Kultur- und Konsumtempeln,
die deine Gegenwart sichern. Und es sind auch nicht die Großen der
Welt, nicht die Hohen Priester aus Politik und Wirtschaft. Du lebst in
den vielen kleinen Leuten weiter, die ihre Pflichten still erfüllen
und auf ihre Art dafür sorgen, daß alles weitergeht: Die Leute
von der Müllabfuhr und von der Straßenreinigung, die vielen
Helferinnen und Helfer in Verkehr und Transport, …(gemeindebezogen ergänzen).
Wir danken für ihren Dienst und bitten dich: Behüte du sie vor
Unfall und Gefahr. Wir bitten dich, gib den Alten unter ihnen Mut, den
Kindern von dir zu erzählen und den Glauben an dich lebendig zu halten.

Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Gott Jesu von Nazareth: An diesem
Sonntag bitten wir dich besonders für dein Volk Israel. Es gab beängstigende
Diskussionen in unserem Land, und das Land, in dem du dich deinem Volk
und der ganzen Welt offenbart hast, leidet unter brutaler Gewalt. Laß
uns Menschen erkennen, was uns im Glauben verbindet, laß uns auf
deinen Frieden hoffen, laß uns deine Liebe leben.

Liedvorschläge:
Ich will, solang ich lebe, EG 276; Wenn der Herr einst die Gefangnen,
EG 298; Alles ist an Gottes Segen, EG 352; In Gottes Namen, EG 494; Ich
sing in Ewigkeit von des Erbarmers Huld, EG RWL 622

Paul Kluge, Provinzialpfarrer
Im Diakonischen Werk der
Kirchenprovinz Sachsen e. V.,
Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de

 

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