2. Korinther 5, 1-10

2. Korinther 5, 1-10

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost


Vorletzter
Sonntag des Kirchenjahres – Volkstrauertag, 17. November 2002
Predigt über 2. Korinther 5, 1-10, verfaßt von Rüdiger
Lux

(Universitätsgottesdienst, Nikolaikirche Leipzig)

Liebe Gemeinde!

Roman Polanskis Film „Der Pianist“, der in diesen Tagen unsere
Kinos füllt, zeigt zu Beginn den polnischen Juden Wladyslaw Szpilmann.
Er sitzt im Tonstudio des Warschauer Rundfunks an einem Flügel und
spielt Chopin. Sein Gesicht strahlt eine selbstvergessene, ruhige, fast
gelassen-heitere Aufmerksamkeit aus. Da kracht mitten in das Spiel eine
deutsche Fliegerbombe, splitternde Balken, klirrende Scheiben. Es beginnt
die Geschichte eines unvorstellbaren Martyriums im Warschauer Ghetto und
in den Ruinen der zerschossenen Stadt. Im Winter 1944/45 liegt er schließlich
auf dem Spitzboden eines halb zerschossenen Hauses, der Körper ein
Wrack. Nur das Gesicht schaut noch aus einem Bündel von Lumpen hervor,
wie die Ikone eines Gemarterten. Der stoßweise Atemdampf in der
unerbittlichen Kälte des Winters. Ein Mensch im physischen Überlebenskampf,
zurückgeworfen auf sich selbst, auf reine Körperlichkeit.

– Wir beginnen zu ahnen, wie hauchdünn das Eis der Zivilisation
ist, auf dem wir uns bewegen.
– Wir erfahren, wie zerbrechlich die Welt des Schönen, der Musik
und der Ästhetik ist, die wir uns schufen.
– Es wird gezeigt, wie fragil die Welt des Guten ist, die Welt von Anstand
und Charakter. Die Brutalisierung des Kampfes um das nackte Überleben
lässt ehrbare Familienväter zu prügelnden Ghettopolizisten
werden.

I

Heute, am Volkstrauertag gedenken wir der Toten der Kriege und aller
Opfer von Gewaltherrschaft. Nicht allein derer, die auf den Soldatenfriedhöfen
Europas liegen, auch und gerade der unbekannt Verscharrten, deren Namen
keiner mehr nennt.

Volkstrauertag – wir gedenken auch der Überlebenden. Derer, denen
Haus und Heimat, Vater und Mutter, Geschwister, Söhne und Töchter
genommen wurden wie Wladyslaw Szpilmann. Derer, die in der Welt überlebten,
ohne in ihr jemals wieder wirklich zu Hause sein zu können.

– Wir gedenken, erinnern uns. Ist es das, was bleibt, von den
Opfern, den Tätern, den Zuschauern und Wegsehern? Erinnerte Vergangenheit?

– Wir schauen zurück. Ist das das Letzte, was sich von ihnen
– und schließlich auch einmal von uns – sagen lässt: Es war
einmal!?
– Ist die Erinnerung des Vergangenen das letzte Haus der Opfer? Der Volkstrauertag
also nicht mehr und nicht weniger als eine Gedankenreise in die Vergangenheit?

II

Der Apostel Paulus unterbricht unsere Vergangenheitsreise. Er gibt unserer
Erinnerung eine völlig neue Richtung. Christliches Gedenken
bleibt nicht im Vergangenen gefangen, es tastet nach einer Zukunft. Es
schaut nicht zurück, sondern voraus. Es bindet sich nicht an den
Tod und die Toten sondern sucht nach unvergänglichem Leben auch und
gerade für die Toten:

Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen
wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen
gemacht, das ewig ist im Himmel.

Mit einer kühnen Metapher führt uns Paulus ein in die Kunst
des christlichen Gedenkens. Er vergleicht den menschlichen Körper
mit einer baufälligen Hütte, die eines Tages abgerissen wird.
Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Leibes werden hier nicht
übergangen, nicht verdrängt. Die Opfer und ihre Leiden werden
nicht übersehen. So brutal war und ist der Krieg, der Rassenhass
und Klassenhass der Diktaturen des 20.Jh., deren Folgen noch immer in
unsere Gegenwart hineinragen. Wir sind zwar davongekommen bis auf diesen
Tag. Aber das wird nichts daran ändern, dass auch unser eigener Leib
nichts als eine Hütte ist. Fitness-Studios und Wellness-Kuren mögen
den Abriss verzögern, verhindern können sie ihn nicht. Ob wir
einmal eines natürlichen oder unnatürlichen Todes sterben, ob
als Opfer oder Täter, oder als beides zugleich – wir wissen es nicht.

Wir wissen nur eines: hora incerta mors certa – die Stunde
ist ungewiss, der Tod ist gewiss! Das ist unser Wissen. Warum wohl ließen
die Stadtväter diese Umschrift an der Uhr unseres Rathaus anbringen?
Wollten sie Leipzigs Bürger mahnen, sorgsamer und barmherziger mit
sich selbst und mit dem Leben ihrer Mitbürger umzugehen? Sollte die
Todesgewissheit zum tragenden Grund der Humanisierung der Bürgerschaft
dieser Stadt werden?

Die Geschichte des hinter uns liegenden 20.Jh. hat mit aller Deutlichkeit
gezeigt: das Wissen um den Tod, um den eigenen sowie um den fremden, macht
den Menschen nicht menschlicher. Auch Leipzigs Juden wurden – der mahnenden
Rathausuhr zum Trotz – in die Ghettos und ins Gas geschickt.

Deswegen geht Paulus mit seinem Wissen über unser Wissen hinaus.
Deswegen überschreitet er das mors certa, die Todesgewissheit,
durch ein uns maßlos scheinendes Wissen. Es ist ein Wissen, das
nicht am Menschen, seinem Erinnerungsvermögen und seiner Vergänglichkeit
Maß nimmt, sondern an Gottes Ewigkeit.

III

– Wo wir nur die geschundenen, gequälten, vergänglichen Leiber
als irdische Abrisshütte vor Augen haben, da spricht der Apostel
Paulus vom himmlischen Leib als einem unvergänglichen Haus.
– Wo wir nur den vorzeitigen Abbruch sehen, das Leben als Fragment, da
redet Paulus von der Vollendung.
– Wo wir mit unserem Gedenken, unserer Trauer die Opfer der Kriege und
Gewaltherrschaft allein in der Vergangenheit beheimaten, da spricht er
von ihrer Zukunft.

Die Erinnerung der Zukunft, das ist der christliche Beitrag zum
Volkstrauertag. Ich weiß, diese Hoffnung wurde und wird immer wieder
als billiger Trost missverstanden und denunziert. Vielleicht aber zeigt
sich gerade in ihr der letzte und tiefste Respekt vor der Würde der
Opfer.
Wie denn das?

– Weil sie den Menschen in seiner Vergänglichkeit gerade nicht auf
die Vergangenheit reduziert. Sie spricht den Opfern, den abgebrochenen
Biographien, denen eine irdische Zukunft geraubt und zerschlagen wurde,
eine Zukunft bei Gott nicht ab.
Und was ist mit den Tätern?
– Die christliche Hoffnung behaftet den Menschen nicht bei seinem fragmentarischen,
seinem unvollendeten in Schuld verstrickten Leben. Sie spricht auch den
Tätern, die nach menschlichem Ermessen ihre irdische und himmlische
Zukunft verwirkt haben, eine Zukunft bei Gott nicht ab.

IV

Warum denn das?
– Weil kein Mensch das Recht hat, sich zum Herrn über das Leben und
den Tod eines anderen aufzuwerfen. Am Volkstrauertag erinnern sich Christen
vor Gott der Opfer. Sie benennen vor Gott die Schuld der Täter. Aber
sie verzichten auf ein letztes Urteil.

Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi,
damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten,
es sei gut oder böse.

Die Stunde wird kommen, an der wir Verantwortung übernehmen müssen
für das, was wir einem der geringsten Brüder Jesu getan haben
und das, was wir ihm nicht getan haben. Davon war im Evangelium dieses
Sonntags die Rede. Die geringsten Brüder Jesu, das waren vor sechzig
Jahren in unserem Volk, in dieser Stadt, die Juden. Und unsere Phantasie
reicht aus, um zu wissen, wer heute seine geringsten Brüder und Schwestern
sein könnten. Die Tschetschenienflüchtlinge, die Straßenkinder,
sie leben mitten unter uns.

Jesus, unser letzter Richter, verlangt ja nichts Unmögliches. Wir
werden vor dem Richterstuhl Christi nicht gefragt, ob wir die Erde gerettet
haben, das Weltklima, den Regenwald, den Weltfrieden, die soziale Gerechtigkeit,
so notwendig, unerlässlich und ehrenwert aller Einsatz für große
Ziele ist!

Jesus fragt ganz schlicht nach einem seiner geringsten Brüder.
Die Rabbinen haben den Satz geprägt: Wer einen Menschen tötet,
tötet die ganze Welt. Um wie viel mehr gilt die Umkehrung
dieses Satzes? Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze
Welt?

Wie also wird das sein, wenn wir endgültig der Wahrheit unseres
Lebens begegnen? Ist das die letzte große Blamage, die tiefste Beschämung?
Wer eigentlich wird dann bestehen vor dem unbestechlichen Blick desjenigen,
der selbst zum Opfer wurde am Kreuz; vor dem Blick, aus dem uns die Opfer
unserer Gleichgültigkeit, Trägheit und Gedankenlosigkeit ansehen?
Wer von uns wüsste denn ganz tief in seinem Herzen nicht, wie es
letztlich um ihn bestellt ist? Wie also wird das sein?

Ich weiß nicht, wie es sein wird. Ich weiß nur eines. Der
Nazarener, das Kind in der Krippe und der Gefolterte am Kreuz, lebte eine
große Leidenschaft. Und die bestand nicht im Verurteilen und Vernichten.
Er richtete das Leben der Menschen, indem er es zurechtbrachte.
Die Ehebrecherin wurde nicht verurteilt und gesteinigt; der Zöllner
Zachäus wurde nicht übergangen; und einem Verbrecher, der mit
ihm gekreuzigt wurde und ihn bat „Jesus, gedenke an mich, wenn du
in dein Reich kommst!“ – diesem antwortete er: „Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein.“

Wie wird das sein? Dürfen wir darauf hoffen, dass er auch unser
Leben richtet, indem er es zurechtbringt?

V

Liebe Gemeinde, am Ende des Films von Roman Polanski sitzt Wladyslaw
Szpilmann wieder an seinem Flügel im Tonstudio des Warschauer Rundfunks.
Er spielt mit unveränderter Brillanz Chopin. Es klingt als sei zwischen
dem Anfang und diesem Ende nichts geschehen. Alles nur ein böser
Traum? Wenn da nur das Gesicht des Pianisten nicht wäre. Ein Lächeln,
das ausgelöscht wird von der unerträglichen Qual der Erinnerung.
In ihm tun sich zwei Welten auf. Die Welt der Musik, des Schönen
und Guten wird verschlungen von einer Welt des Grauens, des Todes und
der Trauer. Das Gesicht verrät dem Betrachter, dass Szpilmann in
der Welt, die ihm vertraut war, nicht mehr ungebrochen zu Hause sein kann.
Die Musik ist wie die Erinnerung an eine Heimat, die ihm brutal zerschlagen
wurde. Und doch spielt er wieder Klavier. Er weiß nun, wie dünn
das Eis der Welt des Guten und des Schönen ist, das unter ihm brach.
Er weiß, wie vergänglich die irdischen Hütten sind, in
denen wir leben. Er hat die Welt der brutalen Vernichtung menschlichen
Lebens erfahren müssen.

Aber – er überlässt sich ihr nicht. Er spielt wieder Klavier.
Woher wohl nimmt ein Mensch, den die Welt des Todes so unausweichlich
umstellt hatte, die Kraft weiter zu leben? Ahnte Wladyslaw Szpilmann etwas
davon, dass auf uns ein Haus wartet, nicht mit Händen gemacht?

Amen

Prof. Dr. Rüdiger Lux
lux@rz.uni-leipzig.de

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