2. Samuel 12, 1-10.13-15a

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2. Samuel 12, 1-10.13-15a

 


11. Sonntag nach Trinitatis,
11. August 2002
Predigt-Entwurf über 2. Samuel 12, 1-10.13-15a, verfaßt von
Ulrich Braun

„Und der Herr sandte Nathan zu David. Als er zu ihm kam, sprach
er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der
andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme
hatte nichts als ein einziges, kleines Schäflein, das er gekauft
hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich
mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem
Becher und schlief in seinem Schoß, und er hielt’s wie eine Tochter.
Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über
sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten,
der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und
richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war.
Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu
Nathan: So wahr der Herr lebt: der Mann ist ein Kind des Todes, der das
getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan
und sein eigenes geschont hat!
Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der Herr, der
Gott Israels: Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und
habe dich errettet aus der Hand Sauls und habe dir deines Herrn Haus gegeben,
dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und das Haus Juda gegeben;
und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazu tun.
Warum hast du denn das Wort des Herrn verachtet, dass du getan hast, was
ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine
Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durchs
Schwert der Ammoniter.
Nun, so soll von deinem Haus das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich
verachtet und die Frau Urias, des Hetiters genommen hast, dass sie deine
Frau sei. …
Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den Herrn.
Nathan sprach zu David: So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen;
du wirst nicht sterben. Aber weil du die Feinde des Herrn durch diese
Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist,
des Todes sterben.
Und Nathan ging heim.“

Liebe Gemeinde!

Selbsterkenntnis ist des Menschen allerstärkste Seite nicht. So
sehr in unserer Geschichte von einem besonderen Mann, nämlich von
David, dem König, die Rede ist und nicht von der ganzen Menschheit,
so sehr tritt uns doch in Davids Urteil und Erschrecken über sich
selbst etwas Allgemeines entgegen: Die Schwierigkeit, allgemeine Gesetze
und Gebote auf sich zu beziehen, sie auf sich anzuwenden und sie sich
selbst zuzuschreiben.

In erster Linie hören wir ein tragisches Kapitel aus der Geschichte
vom Aufstieg eines Hirtenjungen. Aus dem Nichts gekommen, lebte er als
unverbrauchte, neue Kraft vor allem von seiner moralischen Legitimation
gegenüber dem abgewirtschafteten Vorgänger Saul. Mit den Jahren
hatte nun er die diversen Vergünstigungen und Privilegien als König
zu genießen gelernt. Offenbar so sehr, dass er gar nicht mehr bemerkte,
welche Sonderrechte er sich zuletzt herausgenommen hatte. Er war für
die Frau eines seiner Offiziere entflammt. Den Ehemann hatte er als Nebenbuhler
einfach aus dem Weg geräumt.

Interessanterweise ist nicht etwa sein moralisches Urteilsvermögen
überhaupt getrübt. Aber mitten darin hat sich ein blinder Fleck
gebildet. Nämlich dort, wo er seine moralischen Empfindungen auf
sich und sein eigenes Handeln anwendet bzw. nicht anwendet.

Mit Wonne ließe sich nun über diverse Vorteilsnahmen „von
denen da oben“ lamentieren. Gäben wir dieser Lust nach, nämlich
über unsere hochmobilen weil gut geschmierten Viel-, Frei- und Überflieger
zu wehklagen, wir würden treffliches moralisches Urteilsvermögen
beweisen. Eben genau wie David, der König. Hellwach wären wir,
solange es nur ja um andere geht.

Damit lässt sich der Geschichte wohl ähnlich auf den Leim gehen,
wie es dem David mit Nathan, dem Propheten, ergangen ist. Dieser hatte
den Köder für den König nicht einmal sonderlich subtil
ausgelegt. Dafür ist sein Satz um so schärfer: Du bist der Mann.
Und das Urteil, das du eben gesprochen hast, ist das Urteil über
dich selbst.

Was eben noch als gesundes moralisches Empfinden geäußert
wurde, schlägt mit diesem einen Satz um und auf das eigene Vergehen
und die eigene Selbstgerechtigkeit zurück.

Manches spricht dafür, dass es nicht nur um ein spezielles Problem
von David, dem König, geht. So werden wir uns die Sache nicht vom
Leibe halten können. Auch scheint es wenig ratsam, es zum Problem
der allgemeinen Menschheit zu erklären, es also ins harmlos Ungefähre
aufzublasen. Dies aber scheint das wahre Problem zu sein: in Fragen von
Schuld „ich“ zu sagen. „Ich bin der Mann“.

Allgemeine Sätze? Sind kein Problem. Über „die da oben“,
ihre Flugmeilen und Spendenkoffer? Sind wir vermutlich schnell einig.
Über den Nachbarn, der seine Frau wegen einer Jüngeren verlässt?
Ja, da könnte man Geschichten erzählen, Sie machen sich keinen
Begriff … Alles unappetitliches und weitgehend unumstrittenes Zeug.
Was aber macht es so unendlich schwer, „ich“ zu sagen wenn es
um Schuld geht? Was bringt Menschen dazu, Schuld so hartnäckig zu
leugnen, dass sie am Ende scheinbar selbst an ihre Unschuld glauben?

Die Antwort liegt möglicherweise in der Frage nach dem Danach. Was
ist denn, wenn einer Schuld eingesteht? Rücktritt ist das Mindeste.
Je nach Fehlverhalten und Vergehen lassen sich die Sanktionen beliebig
und unter entsprechenden Umständen bis zur Todesstrafe steigern.
Schuld und Schuldeingeständnis bedeuten das Ende des Weges, das Zusammenbrechen
aller Hoffnungen, ja vor allen Dingen wohl den Zusammenbruch des Selbstbildes
eines Menschen.

Diesen Zusammenbruch vermeidet ein jeder so lange es geht. Wenn er doch
kommt, ist er total. Als Petrus in der Nacht der Verhaftung Jesu den dritten
Hahnenschrei hört, wird ihm klar, dass er einer geworden ist, der
er nie hatte sein wollen. Seine Hand hätte für sich ins Feuer
gelegt, dass er den Mann aus Nazareth nie und nimmer verleugnen würde.
Und nun das: Und er ging hin und weinte bitterlich.

Schlimmer noch bei Judas. Als es dem dämmert, was er getan hat,nämlich
einen Menschen, dem er nahe war und der ihm vertraut hatte, auf dem gewissen
hatte, heißt es über ihn nur noch: Und er ging hin und erhängte
sich.

Unterschiedliche Tatbestände galten zu unterschiedlichen Zeiten
als derart kompromittierend, dass Menschen sich das Leben genommen haben,
weil sie die Schande ohnedies nicht ertragen konnten. Schulden, Homosexualität,
verlorene Schlachten, falsche Ehrenworte von Ministerpräsidenten.
Es gab bessere und schlechtere Gründe, vor der Übermacht der
Schande zu kapitulieren. Manche sind gottlob verschwunden, andere sind
geblieben, wieder andere sind neu hinzu gekommen. Geblieben ist in jedem
Falle die Grundschwierigkeit, nach einer Schuld ins Leben zurück
zu finden.

„Der Mann ist ein Kind des Todes“, hat David in gewiss ehrlicher
Entrüstung über den reichen Mann in der Geschichte ausgerufen.
„Ich bin ein Kind des Todes“, ist unterdessen aus dem Satz geworden.

Davor verblasst alles, was sich David bislang zugute gehalten hatte:
Das Land von den äußeren Feinden gerettet? Das sieche Königtum
zu Glanz gebracht? Das Land geeinigt und seine wirtschaftliche Blüte
vorbereitet? Pater patriae hätte er geheißen, hätte er
nur lateinisch gekonnt, Vater des Vaterlands. Aber nichts will gegen die
Erkenntnis bestehen, ein Kind des Todes zu sein. Ende des Weges. Aus.
Vorbei.

Erstaunlicherweise endet Davids Weg hier nicht. Nicht, weil es zu seiner
Zeit noch keine kritische Presse gegeben hätte. Nicht, weil die Idee
von einem möglichen Rücktritt des Königs den Zeitgenossen
noch gänzlich fremd war. Die Büchern der Chronik, die innerhalb
der Geschichtsbücher des Alten Testaments die Geschichten Davids
und seiner Nachfolger noch einmal zusammenfassen, werden die Episode später
schamhaft verscheigen. Peinlich genug war sie immerhin schon zu damaliger
Zeit.

Die Früchte von Davids Königszeit bleiben bestehen. Zwar stirbt
das Kind aus der illegitimen Beziehung zu Batseba. David wird darin die
Strafe für seine Schuld sehen. Jedoch ist dies nicht das Ende des
Weges überhaupt. Ein weiteres Kind wird der Batseba und David, dem
König, geboren. Es wird Salomo heißen, und an ihm wird die
Geschichte des Segens weiter erzählt – nicht eine Geschichte des
Fluches und der Strafe.

Bevor man sich eine Generation später entschloss, die Episode schamhaft
unter den Tisch fallen zu lassen, erzählte man sie sich mit wahrscheinlich
gemischten Gefühlen: teils genussvoll als Klatsch und Tratsch, teils
angewidert über die Unverfrorenheit der Herrschenden. Teils schüttelte
man den Kopf über den ehemaligen Hirtenjungen, der den Hals nicht
voll kriegen konnte.

Vom Grund der Geschichte aber leuchtet die Verheißung, dass Gott
seine Geschöpfe nicht in Schuld und Verstrickung umkommen lassen
wird. Das ist die Pointe der Religion: dass die, die zu Kindern des Todes
geworden sind, zurückkehren dürfen ins Leben. Deshalb wird die
Geschichte vor allem erzählt.

In dem Kinofilm „Dead Man Walking“ wird die Geschichte eines
Mannes erzählt, der gemeinsam mit einem Komplizen zwei Teenager auf
grausame Weise ermordet hat. Dafür ist er zum Tode verurteilt. Allerdings
leugnet er fast bis zu letzt, die Tat selbst begangen zu haben. Es sei
der Komplize gewesen, er selbst habe nur dabei gestanden, sitze also zu
Unrecht in der Todeszelle.

„Dead Man Walking“ ist der Ruf, mit dem die Gefängniswärter
ankündigen, dass der Todeskandidat zu seinem allerletzten Gang aus
der Zelle kommt. Da kommt ein toter Mann, ein Kind des Todes.

Bis fast zum Schluss hat der Verurteilte geleugnet. So sehr, dass er
es wohl mindestens zeitweise selbst geglaubt hat. Erst vor seinem allerletzten
Gang gesteht er sich selbst und der Nonne, die ihn regelmäßig
besucht hat, die Tat ein. „Ich bin der Mann!“ „Ich habe
es getan!“ „Ich bin ein Kind des Todes!“

Der Mann wird hingerichtet. Die grausame Apparatur des Todes ist nicht
mehr aufzuhalten. Die sieben Spritzen, von denen keiner weiß, welche
die tödliche Injektion enthält, nicht einmal die, die sie aufgezogen
haben, damit sie die Illusion haben können, nicht verantwortlich
zu sein, tun ihr Werk. Jedoch in dem Moment, in dem Matthew Poncelet sich
und der Schwester eingesteht: Ich bin der Mann!, in diesem Moment, da
es kein Zurück mehr für den Dead Man Walking gibt, hört
er auf, ein Kind des Todes zu sein.

Der Matthew Poncelet im Film wird hingerichtet wie sein Vorbild in der
Wirklichkeit. Aber im Augenblick, da er zu sagen vermag: Ich bin der Mann!,
wird der Film zu einem Plädoyer gegen die Todesstrafe.

Davids Weg endet nicht in der Schuld und führt nicht in den Tod.
Aber er führt gleichsam durch das Tal des Todes und durch den Zusammenbruch
des Selbstbildes. Das schutzlose Eingeständnis seiner Schuld aber
öffnet den Weg zurück ins Leben.

Das ist nun gewiss nicht im Sinne einer zeitgenössischen Ich-steh-dazu-Kultur
zu verstehen. „Ok, ich habe gelogen, betrogen und wer weiß
noch was getan, aber: ich steh dazu.“ Das sind nur Formen des Sich-Herausredens
und der Behauptung, es sei ja alles halb so schlimm gewesen. Es ist eine
der Varianten, den Zusammenbruch des Selbstbildes zu vermeiden. Es ist
eine verquere Form des Geständnisses, um sich nichts eingestehen
zu müssen. Geständnis light, sozusagen.

Davids Weg führt tatsächlich durch das Tal des Todes und durch
den Zusammenbruch des Selbstbildes vom König ohne Fehl und Tadel.
Doch im gleichen Moment, da er zu sagen vermag: Ich bin der Mann!, hört
man es förmlich – wenn auch von fern erst – klingen: Du bist mein
geliebter Sohn, heute habe ich dich gezeugt! (Psalm 2, 7).

Und wie von fern klingt darin: So wenig du dich selbst gemacht und hervorgebracht
hast, so wenig sollst du in dem zu Grunde gehen, in das du geraten bist.
Du hast deine Freiheit nicht selbst gemacht, und ich, dein Gott, will
dich nicht verloren geben.

Woran kann solche neue Freiheit bei David anknüpfen? An mancherlei.
Daran, dass er ein intaktes moralisches Empfinden hat. Er weiß,
was gut und was böse ist. Er ist mit Nathans Hilfe sogar fähig,
sich selbst zu erkennen, so wie Gott ihn erkannt hat. Und er ist bereit,
Fassaden seines Selbstbildes um der Wahrheit willen abzubrechen. Keine
schlechten Voraussetzungen, ein wahrhaft großer König zu werden.

Amen

Ulrich Braun, Pastor in Göttingen-Nikolausberg
eMail: ulrich.braun@nikolausberg.de

 

 

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