Karfreitag, Reinhard Schmidt-Rost

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Karfreitag, Reinhard Schmidt-Rost

Karfreitag, Reinhard Schmidt-Rost

Der Gottesdienst wird als eine Passionsmusik, an der die Gemeinde hörend beteiligt ist, gestaltet wie im frühen 18. Jh. in Hamburg, ein Gottesdienst nur mit Passionsmusik und Predigt. Aufgeführt wird die Markus-Passion von Reinhard Keiser in der Bearbeitung durch Johann Sebastian Bach; auf dem Höhepunkt des dramatischen Geschehens, vor Pilatus, als die Menge schreit: „Kreuzige ihn!“ und Pilatus fragt: „Was hat er denn Übels getan?“ „Aber sie schrien noch viel mehr: Kreuzige ihn! – da erfolgt eine Unterbrechung wie eine atemlose Atempause: Der Chor singt eine reflektierende Strophe voller Hilflosigkeit:

„O hilf, Christe, Gottes Sohn,
durch dein bitter Leiden,
dass wir dir stets untertan,
all Untugend meiden;

deinen Tod und sein Ursach’
fruchtbarlich bedenken,
dafür, wiewohl arm und schwach,
dir Dankopfer schenken.“

– dann folgte eine Predigt, ehe das Geschehen seinem Ende zutreibt und in einen Choral mündet:

„O Jesu du, mein Hilf und Ruh,
ich bitte dich mit Tränen,
hilf, dass ich mich bis ins Grab
nach dir möge sehnen.“


Predigt

Liebe Gemeinde!
Haben Sie die Angst gehört –
die Angst in diesem ‚Kreuzige ihn!’ …
die Angst, nicht dazu zugehören –
wieder zu den Verlierern zu rechnen?

So wie manchmal im Rhein-Expreß zwischen Duisburg und Köln, wenn das Abstiegsgespenst unter den Fußballfans umgeht, oder in England, wenn die Meisterschaft zwischen Manchester und Liverpool spitz auf Knopf steht, – eindrucksvoll, beängstigend eindrucksvoll tönen die Schlachtgesänge der Fans – in den großen Bahnhöfen zumal, in München etwa, oder in Leipzig, wo der Bahnhof wie eine gotische Kathedrale widerhallt von den Schlachtgesängen, nicht weit vom Völkerschlachtdenkmal …

es mag nicht nur Angst sein, aber sie mischt sich überall hinein, wo Protz und Imponiergehabe die Außenseite bilden, – die Angst, nicht dazuzugehören, die Niederlage allein aushalten zu müssen, da braucht es kaum noch Bier, die Angst ist Droge genug, das Menschenherz klein zu machen, Schrumpfherz und Schrumpfniere …

wie mag ihm zumute gewesen sein,
dem einfachen Mann aus dem Volk,
dem Rabbi aus Nazareth,
als das Volk, sein Volk! laut johlte: Kreuzige ihn!
die Angst überschrie: Kreuzige ihn!
wo es jedem mulmig wird, der solches Geschrei nur von ferne hört.

Er wußte, das war sein Ende, –
Denn sein Vater im Himmel würde ihn nicht aus der Hand der Häscher und Richter retten, nicht vor dieser aufgepeitschten Menge bewahren.
Er war bei ihm, deshalb konnte er ihn nicht retten – er war bei ihm, er hatte sich an seinen Sohn gebunden.

Gott, wie wir ihn durch das Evangelium erleben und glauben, erleidet in dieser Stunde eine schreckliche Niederlage und die Folgen sind entsetzlich – es hört, ganz gegen seinen Willen, nicht auf mit dem Gemetzel, auf den Schlachtfeldern der 100-, oder 30-, oder 7-jährigen Krieges nicht, beim Völkerschlachten in Leipzig nicht, nicht vor Verdun und nicht in Auschwitz, nicht in Vietnam, nicht in Ruanda, nicht im Sudan,

der Massenmord endet noch immer nicht, aber Gott unterliegt seitdem öffentlich,
und wer immer bezeugt, Christus sei der Herr der Welt, der unterliegt mit Gott öffentlich … unterliegt nicht seiner eigenen Angst,

und die öffentliche Niederlage Gottes verändert die Welt,
sie vermindert nicht die Angst der Geschlagenen, sie verhindert nicht die Angst derer, die im Sportpalast damals schrien und heute möglicherweise wieder schreien würden.

Aber sie verändert die Angst derer, die auf Gott hoffen,
für sie geht es jetzt nicht mehr um den Sieg im Endspiel, bei der Götterdämmerung, im letzten Duell der Weltmächte untereinander, ob ihr Gott der stärkere sein wird, es geht überhaupt nicht mehr um Sieg und Niederlage, nicht einmal um den Sieg über sich selbst, um den Sieg der eigenen Stärke und Tugend über sich oder andere, sondern für die, die Christus als den Meister der Welt noch in der Niederlage zu sehen vermögen, wird die Gewalt entmachtet, die Gewalt des angsterfüllten Herzens, die die Menschen dazu treibt, immer wieder in Sieg und Niederlage zu rechnen, immer wieder Unterlegene, ja Opfer zu fordern. Diese Entmachtung der Gewalt geschieht in Köpfen und Herzen, erst in den ängstlichen Herzen, deren Unruhe gestillt wird, wenn sie hören: Gott ist mit uns – nicht gegen uns, mit uns, nicht mit den stärkeren Bataillonen – und dann geschieht die Entmachtung auch in den Köpfen, die auszudenken versuchen, wie der Verzicht auf Gewalt und die Hoffnung auf Versöhnung das Leben verändert.

Und dann erhebt sich, zögernd nur über Jahrzehnte, und in strenge, schwere Motive gekleidet, ein tottrauriger Trostgesang wie ein Kontrapunkt zum Heulen der Menge, ein Widerspruch zum Angstschrei in Jerusalem – Kreuzige ihn! – ein Nein! zu aller Gewalt, zur Masse der Vernichtung, ein Protest gegen die Vermassung der Opfer, ein Gesang als Fuge gefügt, und der Kontrapunkt wird immer deutlicher, die Gegenrede gegen die unfassliche unmenschliche Gewalt –

Paul Celan, Todesfuge
SCHWARZE Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der
schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes
Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der
Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der
schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes
Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den
Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr anderen singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen
sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum
Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch
in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der
Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister
aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

… und die Totenklage dringt in unser Leben, das in jenem Grauen der vierziger Jahre wurzelt, auch unser Leben – lange wussten wir es nicht, jetzt kommt die Saat der Lieblosigkeit wie ein Trauma der Vertreibung über die damals Geborenen – und wir verstehen nicht, aber wir spüren in uns das Maß der Entwurzelung, dass unsere Väter ertrugen – und unsere Mütter hinnehmen mussten, die Mütter vor allem, denn das System liebte sie – für die neugeborenen Kindelein, vor allem wenn sie männlich waren -, und sie hatten begonnen, das System zu lieben, – wir spüren das unvorstellbare Maß der Entwurzelung, als nach dem Zusammenbruch die Erkenntnis dämmerte: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.- jetzt kommt es hoch, nicht ans Licht, es kommt uns hoch, in uns hoch, die Eindrücke fügen sich zusammen, aber sie fügen sich nicht unserem Denken, es kann überfluten, wen die Flut trifft …

Liebe Gemeinde!
Hat dafür das Publikum in Hamburg vor 300 Jahren den Passionen gelauscht und den Predigten, dass der Tod noch immer und noch schlimmer ein ‚Meister aus Deutschland’ genannt werden muß?
Was nützt unsere ganze wissenschaftliche Erinnerungskultur, wenn sie nur der Firnis über dem Abgrund unserer Seele ist, schnell dahin geschmolzen, sobald einer kommt, der uns Angst macht?

Gewiss wäre kein einzelner von uns zu solchen Gräueln fähig, wie sie damals geschehen sind und unsere früheste Kindheit überschattet haben; wir sind nicht bei diesem Meister in die Lehre gegangen und unsere Eltern zumeist auch nicht, aber wer weiß, was geschähe, wenn ein Rattenfänger käme und allen zusammen Angst machte? Würden dann nicht wieder Jugendorchester wie Judenorchester zum Tanz aufspielen müssen, wie damals beim BDM in Kassel, Nürnberg oder Berlin – oder die Opfer des Rassenwahns in Theresienstadt?

Manchem, der die Erzählungen von der Olympiade 1936 in Berlin nicht gehört hat, die Suggestion des Erfolgs und die Brutalität der Durchsetzung politischer Ziele mit Mitteln auch des Sports, der mag die Nähe zwischen der Massenbewegung Sport und der mörderischen Massensuggestion des Dritten Reiches für übertrieben halten. Aber sich im Gottesdienst an Karfreitag auf die schlimmen Folgen der Ängstlichkeit der Menschen zu besinnen, halte ich nicht für unzeitgemäß. Sage auch keiner, er sei dagegen durch seine Erkenntnis gefeit, etwa gar durch seinen wissenschaftliche Scharfsinn.

Der todtraurige Gesang Celans dringt in unser Leben und schmerzt ungreifbar, und doch ganz real, stößt so manchen, ehe er sich versieht, in den Brunnenschacht der Depression, und lässt ihn nach Worten suchen, weniger kunstvoll, aber gleichfalls um Rettung bittend durch Klage:

Enkel des Regimes

Wo soll man hin
mit pubertären Wallungen,
anno 1936,
wenn man zwar blauäugig, aber nicht blond,
musisch, aber nicht so sportlich ist?

Auch dafür finden sich Auffangbecken
und
im Strom der Musik verteilen
sich giftige Spurenelemente in die
Puls-Adern der Pubertät

Quecksilber der Ideologie,
glanzvoll, grandios, verzehrend –
die einzelne ist nichts, die Gemeinschaft alles

wehe den Enkeln des Regimes –
die die Vergiftung erst spüren,
längst abgenabelt –
unter dem Wechsel der Jahre,
und nichts mehr ändern können –

manchem reichte die Kraft noch zum letzten Aderlaß,
viele verbluteten weniger dramatisch, innerlich,
sagen unabhängige Beobachter
Jahre später

„die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen sind die Zähne stumpf geworden“ heißt es im Alten Testament.

Ob die Klage das Leid lichtet, vielleicht wie eine ganz frühe Morgendämmerung, ob sie den Vorhang des Vergessens zerreißt, ob sie das Unrecht tragen hilft, verschuldet oder unverschuldet zu tragen aufgegeben, das ist noch nicht heraus, – einstweilen glimmt nur die Hoffnung auf Gottes Nähe im Leiden – wie ein Docht – wie ein Dennoch(t) …

Wir haben nach allem Grauen, das die Gesellen des Todes – in grässlicher Selbstgewissheit – immer noch über die Menschheit bringen und das der Tod als Meister aus Deutschland über unser Land und auch über unser Leben gebracht hat, wir haben – auch im äußeren Wohlstand – nicht mehr als dieses Glimmen der Hoffnung unter der Asche des Leids, die magere Glut der Sehnsucht, dass Gott auch im Leiden bei den Menschen ausharre, das Leiden ernst nehme und unseren Tagen durch sein Erbarmen einen Sinn gebe, um Jesu Christi willen – Amen.


Universitätsprediger Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
r.schmidt-rost@ev-theol.uni-bonn.de

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