Apostelgeschichte 17, 22-34

Apostelgeschichte 17, 22-34

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Jubilate (3.
Sonntag nach Ostern), 21. April 2002
Predigt über Apostelgeschichte 17, 22-34, verfaßt von Martin
Hein


Wo ist der Ort der Kirche, liebe Gemeinde? Möglicherweise reagieren
Sie jetzt mit einer Gegenfrage: Wo soll er denn sein, wenn nicht mitten
in dieser Welt und mitten im Leben. Dahin hat Christus die Kirche doch
gewiesen, als er sagte: „Gehet hin in alle Welt!“ Wir wären
uns also schnell einig: Die Kirche wirkt mit ihrer Botschaft von Gottes
Liebe in unsere Gesellschaft hinein. Sie beansprucht mit dem, was sie
zu sagen hat, Öffentlichkeit! Das ist geradezu selbstverständlich
und dem Evangelium von Jesus Christus angemessen. Sagen wir.

Doch halt! Mir scheint, daß diese Auffassung zwar oft genug von
berufener Stelle verlautbart wird, aber viele Christen sie nicht mehr
unbedingt teilen. Manchmal habe ich eher den Eindruck, für unsere
Gemeinden sei die vertraute Nische anheimelnder als der rauhe Wind der
öffentlichen Auseinandersetzung. Es ist ja auch gar nicht zu bestreiten,
daß in der Unübersichtlichkeit unserer Welt die überschaubare,
lebendige Gemeinschaft von gleichgesinnten Christen für manche Menschen
eine hohe Anziehungskraft besitzt: Hier nimmt man aneinander Anteil, weiß
voneinander, lebt und betet füreinander, kann sich gegenseitig vertrauen.
Solche Gemeinden haben Zuspruch, ganz ohne Zweifel. Sie bieten Räume
zum Durchatmen und zum Aufatmen angesichts der vielen Beanspruchungen,
die das Leben an uns stellt. Die Gemeinde wird zum Ort der inneren Einkehr.

Das alles hat seine Berechtigung und Bewandtnis – sofern wir nur ganz
klar im Auge behalten, daß sich der Auftrag der Kirche Jesu Christi
darin nicht erschöpft. Es geht darum – so wenigstens verstehe ich
den Missionsbefehl Christi -, das Evangelium tatsächlich in die heutige
Lebenswirklichkeit hineinzubringen, wie unterschiedlich sie sich auch
darstellen mag – und zwar so, daß sie Gehör und, gebe es Gott,
Glauben findet. Das kostet Kraft und braucht Fantasie, denn die Begegnung
des Evangeliums mit der Welt, wie sie ist, bedeutet stets Konfrontation,
aber sie geschieht in der Gewißheit, daß der Zuspruch des
Evangeliums mitten in der Welt seine heilsame Wirkung entfaltet. Wie ich
das im einzelnen verstehe? Ich glaube, nirgendwo läßt sich
das besser veranschaulichen als an dem Beispiel der öffentlichen
Predigt des Apostels Paulus in Athen: Hier können wir für uns
im Jahr 2002 wegweisende Entdeckungen machen zum Ort der Kirche und zu
unserem Auftrag als Christen in der Welt. Lassen wir uns also von Paulus
auf den Weg nehmen – dorthin, wo das Leben pulsiert.

Athen könnten wir ohne weiteres ersetzen durch den Namen jeder deutschen
Großstadt. Immer zeichnen sich Städte dadurch aus, daß
sie mehr sind als bloße Ansammlungen von Häusern, Straßen
und Menschen in großer Zahl. In der Stadt geht es hin und her, Austausch
ist möglich, Verbindung und Beziehung, aber hier prallen auch die
sozialen und kulturellen Gegensätze schroffer und härter aufeinander
als das auf dem Land geschieht. Paulus war Stadtmensch, schon von seiner
Geburt her. Er bewahrte sich zeitlebens ein Gespür dafür, daß
Städte so etwas sind wie Seismographen für die inneren Bewegungen,
die uns bestimmen. Hier lassen sie sich ablesen. Die Mission des Paulus
war darum immer „Stadtmission“!

Kaum angekommen, begibt sich Paulus hinein ins Stadtleben. Er flaniert.
Das klingt zunächst, als täte er das völlig ziellos, wie
man es eben in einer fremden Stadt tut, in der man sich nicht auskennt.
Aber dahinter steckt Absicht. Er läßt sich treiben, um mit
wachem Blick und mit unverstellter Neugier das Leben wahrzunehmen:
nicht nur die Auslagen der Geschäfte, nicht nur die Menschen, seien
sie modisch chic gestylt oder abgerissen in den Fußgängerpassagen
kauernd, sondern auch die ganze Vielfalt des religiösen Marktes.
Was gibt es alles an Religion in der Stadt wahrzunehmen, wenn man nur
zu sehen wagt und nicht vorschnell die Augen abwendet oder von vornherein
verschließt. Seit Herbst vergangenen Jahres ist uns wieder stärker
zu Bewußtsein gekommen, daß das Bild unserer Städte multireligiös
geprägt ist, daß hier auf engstem Raum Konfessionen und Religionen
mit ihrem eigenen Anspruch in Konkurrenz zueinander stehen. Und das Hinschauen
hört keineswegs bei den traditionellen Formen der Religionen auf!
„Ich bin umhergegangen“, sagt Paulus, „und habe eure Heiligtümer
angesehen“: die glitzernden Fassaden der Konsumtempel, die gen Himmel
strebenden Zentren von Geld und Macht, die geheimen Orte von Rausch und
Ekstase – Religion in vielen Angeboten, auf dem Weg aus sich heraus oder
auf dem Weg in sich hinein eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des
Lebens zu bekommen. Städte sind Orte der Religion, wenn man sie wahrnehmen
will – nicht nur damals in Athen.

Für Paulus bleibt es nicht beim Flanieren auf den Boulevards oder
in den abseitigen dunklen Gassen. Er sucht das Gespräch, er
sucht die Begegnung des Evangeliums mit der Lebenswirklichkeit. Das gelingt
freilich nur, wenn man sich dorthin begibt, wo der Austausch der Waren
und Meinungen stattfindet. Auf dem Markt ist Paulus täglich zu finden,
schreibt Lukas kurz zuvor. Hier trifft er Menschen, mit denen er spricht,
denen er zuhört, bevor er antwortet. Paulus mischt sich in die öffentliche
Diskussion ein. Deren Verlauf muß nicht immer harmonisch sein. Es
darf dabei auch gestritten werden, sogar heftig, denn es geht um mehr
als bloße Meinungsmache. Doch es ist gut, wenn die notwendige Auseinandersetzung
etwa um die Werte einer menschlichen Gesellschaft auf solch einem Niveau
geführt werden kann, daß uns andere als ebenbürtiges Gegenüber
ernstnehmen. Plakative Botschaften begegnen uns gerade in Städten
genug. Sie können anstoßen. Aber überzeugen sie auch?
Ich habe meine Zweifel. Paulus beginnt in Athen gerade nicht mit dem großen
Auftritt. Der kommt erst, nachdem er geduldig das unmittelbare Gespräch
mit den Menschen dieser Stadt gesucht hatte. Eher widerwillig, so scheint
es fast, folgt er den Ansinnen, sich auf dem Felsen des Areopag darzustellen.

Hier aber gibt er Rechenschaft, sagt unmißverständlich,
was ihn bestimmt und bewegt. Er entfaltet die Grundlagen seines Glaubens
ganz ohne Scheu in einer Sprache, die andere verstehen, auch wenn sie
die Voraussetzungen nicht teilen mögen. Paulus argumentiert für
seinen Glauben: Er knüpft an das an, was er wahrnimmt, er setzt sich
davon ab. Hier in Athen, so beschreibt es Lukas, wagt er sich weit vor
– weiter vielleicht, als es anderen später lieb war. Wie er antike
Philosophie und Dichtung aufnimmt und sie in einem christlichen Sinn deutet,
wie er die Religiosität seiner Zuhörer nicht gleich als Irrweg
abstempelt, sondern im Altar für den unbekannten Gott eine tiefe
Sehnsucht nach Erfüllung und Sinn im Leben entdeckt, hat manchen
die Stirn runzeln lassen. Und doch vollzieht Paulus keine Anpassung an
die aktuellen Trends, sondern sucht seiner Botschaft treu zu bleiben:
dem Evangelium von Jesus Christus, dem auferstandenen Herrn. Für
mich, liebe Gemeinde, zeigt sich darin geradezu das Musterbeispiel eines
ernsthaften und ehrlichen Dialogs der Religionen, wie er heute oft gefordert
wird. Hier bei Paulus in Athen können wir lernen, daß nur diejenigen
wirklich in der Lage sind, solch ein Gespräch zu führen, die
beides beherzigen: Offenheit und Achtsamkeit für das, was andere
in ihrer Überzeugung bestimmt, und zugleich Gewißheit von der
Wahrheit und Tragfähigkeit des eigenen Glaubens. Andere haben einen
Anspruch darauf zu erfahren, was das Christentum ausmacht! Es wäre
geradezu fatal, wollten wir aus falscher Rücksichtnahme verschweigen
oder verleugnen, worin für uns der Sinn und das Ziel des Lebens liegen
und welches unser einziger Trost ist im Leben und im Sterben. Deshalb
kommt Paulus, nachdem er versucht hat zu bestimmen, was gemeinsam ausgesagt
werden kann, auf das Trennende zu sprechen – und damit zwangsläufig
auf die Auferstehung Jesu Christi: als der grundlegenden Tat Gottes zum
Heil nicht nur von uns Christen, sondern zum Heil der Welt. Daran entscheidet
sich, wie weit wir uns annähern können und wo wir uns fremd
bleiben. Alles andere wäre bloße Augenwischerei. Die Botschaft
vom auferstandenen Herrn ins Spiel zu bringen, ist allemal ein Wagnis,
aber es kann, sofern wir selbst davon ergriffen sind, gar nicht anders
sein, als sie zu bezeugen – ohne Angst, doch ebenso ohne Unduldsamkeit.

Denn auch das zeigt uns die Begebenheit in Athen: Paulus läßt
Freiheit. Ja, das kann er – und das ist in den Begegnungen, in
denen es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit geht, unerläßlich.
Nicht alle überzeugt die große Rede auf dem Areopag. „Ein
andermal weiter.“ Paulus erliegt nicht der Versuchung, mit falschen
Nachdruck noch eins draufzusetzen, die Offenheit für das Gegenüber
wandelt sich jetzt nicht in Rechthaberei. Geradezu beiläufig heißt
es: „So ging Paulus von ihnen.“ Ist es ihm also letztlich gleichgültig
gewesen, ob das Evangelium vom auferstandenen Christus Anklang findet
oder nicht? Nein, keineswegs. Aber er ist davon überzeugt, daß
sich die Wahrheit, für die er eingetreten ist, von selbst durchsetzen
wird. Zur Argumentation in Glaubensdingen in einer Welt, die viele Wahrheiten
zu kennen glaubt, gehört auch, Toleranz walten zu lassen, wenn andere
die eigene Überzeugung nicht teilen. Das läßt gelassen
und unverkrampft werden und trägt dazu bei, das Evangelium auf gewinnende
Weise vermitteln zu können. Und immerhin konnte Paulus ja die Erfahrung
machen: Einige schließen sich ihm an, zwei sogar mit Namen, eine
davon eine Frau. Das Christentum wird in Athen heimisch werden.

Für mich zeigt die Geschichte von Paulus in Athen auf geradezu beispielhafte
Weise, wo in unserer heutigen Gesellschaft der Ort der Kirche ist: tatsächlich
mitten im öffentlichen Leben. Hier gilt es aufzuspüren und wahrzunehmen,
was Menschen bewegt, wo sie an ihre Grenzen stoßen – und wie sie
ihre Grenzen überschreiten wollen. Die Sehnsucht nach geheiltem Leben
und einer heilen Welt – vor drei Jahrzehnten noch müde belächelt
-, macht inzwischen viele Menschen empfänglich für Sinndeutungen
in unterschiedlichster Spielart. Wir stehen als Kirche mit dem Evangelium,
die uns aufgetragen ist, eigentlich neu am Anfang einer ernsthaften, dialogbereiten
Auseinandersetzung mit den Strömungen unserer Zeit. Wenn wir uns
einmischen und die Botschaft des neuen Lebens glaubhaft durch unser Reden
wie durch unser Tun vermitteln, wird man uns aufmerksam wahrnehmen und
wird uns ernstnehmen. Und es wird Glauben entstehen: daß Gott in
Jesus Christus tatsächlich den Tod entmachtet hat und unser Leben
dadurch einen weiten Horizont gewinnt. So ist das, ganz gewiß! Mehr
können wir von uns aus nicht tun. Mehr brauchen wir auch nicht zu
tun. Fangen wir nur damit an! Für alles Weitere gibt Gott Segen und
Gelingen. Amen.

Bischof Dr. Martin Hein
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Wilhelmshöher Allee 330
34131 Kassel.
E-Mail: martinhein@gmx.de

 

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